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Für das aktuelle Journal haben wir zur kritischen Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Phänomenen eingeladen, zusammengefasst unter dem Titel «Ich unter Druck». Mediale Trends aufgreifend, haben wir im “Call for Papers” eine Dynamik und gesellschaftskritische Zeitdiagnose skizziert, die eine zunehmende Überforderung des Individuums mit den Ansprüchen postuliert, die an es gestellt werden.

Das Ich steht heute in einem Spannungsfeld vieler äusserer Einflüsse, die hohe Anpassungsleistungen erfordern und einen Zwang ausüben, sich zu verorten. Viele Menschen fühlen sich verunsichert und unter Druck. Spezifisch für unsere Zeit sind durch die digitale Welt beschleunigte Massenphänomene und globale Entwicklungen.

Als Beispiele lassen sich auf der persönlichen Ebene Trends der (körperlichen) Selbstoptimierung und -inszenierung anführen, auf gesellschaftlicher Ebene Debatten um Einschluss/Ausschluss durch politisch korrekte Sprache. Als klinische Phänomene fallen der Identifizierungsdruck für junge Menschen durch virtuelle Verführungen und eine Verunsicherung durch Genderfragen auf. Neben Neugier und Faszination sind auch Verunsicherung, Unbehagen und Ängste vor Entfremdung, Isolation und Bindungslosigkeit zu beobachten. Die Fragen «wer bin ich und wer will ich sein» stellen sich in neuer Dringlichkeit.

In Sigmund Freuds 100-jähriger Schrift «Das Ich und das Es» (1923) beschreibt er die drei Zwingherren – die Aussenwelt, das Über-Ich und das Es –, die ihren Tribut vom Ich fordern. Das Ich droht angesichts der «Anstrengungen, (…) ihnen gleichzeitig gerecht zu werden, (…) ihnen gleichzeitig zu gehorchen» (S. 514) zu zerbrechen. Darauf Bezug nehmend, haben wir folgende Fragen zur Diskussion gestellt:

Inwiefern kann die Psychoanalyse dazu beitragen, aktuelle sozio-kulturelle Phänomene und Trends zu verstehen und zu hinterfragen? Kann sie sich den Strömungen entziehen, müsste sie gegen den Strom schwimmen, oder wird sie selbst von Trends erfasst? Gehört dies zu ihrer lebendigen Erneuerung, oder braucht sie die kritisch- reflexive Distanz?

Wir haben um klinische Fallvignetten, theoretische Reflexionen und Forschungsergebnisse aus kulturanalytischer oder sozialpsychologischer Perspektive gebeten und freuen uns nun, ein thematisch vielfältiges Journal präsentieren zu können. Das Heft beginnt mit Fragestellungen aus dem klinischen, psychotherapeutischen Feld und mit theoretischen Einordnungen zur Subjekt- und Identitätsbildung.

Das Zusammenwirken gesellschaftlicher Einflüsse, familiärer Dynamik und Psychodynamik beschreibt Erika Toman im Beitrag Der Körper als Resonanzorgan und als Symbol bei Menschen mit Essstörungen. Verzerrte mediale Körperbilder wirken auf Jugendliche in der Entwicklung einer psychosozialen Identität verunsichernd und erhöhen die Vulnerabilität für Essstörungen. An einem Fallbeispiel veranschaulicht die Autorin verschiedene Phasen der Therapiemotivation und entwickelt den für Essstörungen zentralen Abhängigkeits-/Autonomie-Konflikt mit Bezug zu Margaret Mahlers entwicklungspsychologischem Modell, insbesondere der Loslösungs- und Individuationsphase. Damit wird die Eingangsthese, Essstörungen seien nur scheinbar Störungen des Essverhaltens, im Wesentlichen jedoch schwere Beziehungsstörungen verdeutlicht.

Im Artikel Gender-Fluidität: Einige Überlegungen zum postödipalen adoleszenten Subjekt greift Jörn Grebe die oftmals kontrovers und zuweilen unversöhnlich geführte Debatte um Transidentität und Geschlechtsdysphorie in der frühen Adoleszenz auf. Er weist darauf hin, dass Fragen des Geschlechts stets zweierlei Aspekte berühren: gesellschaftliche (Macht-) Strukturen und die unmittelbare Subjektivität des Einzelnen. Zur Behandlung von Jugendlichen, die mit einer Geschlechtsdysphorie in den Gender- Spezialambulanzen vorstellig werden, erörtert Grebe sowohl ethische als auch fachliche Fragestellungen. Er bezieht sich auf das von der Ljubljaner Schule weiterentwickelte Konzept eines unmöglichen, paradoxen Geniessens im Zuge einer für spätmoderne Gesellschaften postulierten, postödipalen Subjektposition in Verbindung mit den von Jean Laplanche konzipierten «rätselhaften Genderbotschaften».

Ramona Franz, Benedikt Salfeld, Benigna Gerisch und Vera King widmen sich im Beitrag Spiegelnde Anerkennung und narzisstischer Rückzug. Psychodynamische Strukturlogiken des Selftrackings bei Burnout und Depression dem “Selftracking” als einer Form der quantifizierenden Selbstoptimierung. Sie präsentieren das Forschungsfeld zwischen den Polen Selbstvermessung als Kontrolle und Heteronomie versus erhöhter Autonomie und Emanzipation und stellen ihren eigenen Forschungsansatz aus dem Forschungsprojekt «Das vermessene Leben» vor. Darin untersuchen sie die Auswirkung von Selftracking auf Menschen mit psychischen Störungen. An zwei Fallvignetten stellen die Autor:innen psychodynamische Deutungsansätze gegenüber, wie sich Selftracking bei Depression oder Burnout unterschiedlich auswirkt und verarbeitet wird.

Jenny Lüder setzt sich im Artikel Das optimierte, digitalisierte und identitätsflexible Selbst – Von modernen Herausforderungen und psychoanalytischen Möglichkeitsräumen mit aktuellen Anforderungen an die Selbst- und Identitätsbildung auseinander. Sie untersucht dazu die Aspekte «optimiert, digitalisiert und identitätsflexibel» mit Bezug zu soziologischen und psychoanalytischen Theorieansätzen und an Beispielen, wie diese Herausforderungen im Umgang mit der Corona-Pandemie für die Einzelnen erlebbar wurden. Die Psychoanalyse biete mit ihrer «Beleuchtungs- und Integrationsfähigkeit Potenziale, um die Aufgaben, Herausforderungen und Gefahren der Moderne zu erkunden und zu verstehen». Zugleich müsse sie «eigene gesellschaftspolitische Verschränkungen» kritisch reflektieren.

In Illusionen der Verwandlung. Zur Psychodynamik einer Selbstflucht stellt Gregor Dienst, ausgehend von zwei Fallvignetten, individuelle Dynamiken der Selbstflucht dar, in denen sich das Subjekt immer wieder neue Situationen des Aufbruchs in etwas potenziell Neues einrichtet, ohne je wirklich irgendwo ankommen zu können. Wenn sich dieses Lebenskonzept, diese Illusion, aufgrund äusserer Umstände nicht mehr aufrechterhalten lässt, droht die Dekompensation, ein psychischer Zusammenbruch des Ichs. Mit Bezug auf das Konzept des Verwandlungsobjekts von Christoper Bollas sowie Überlegungen zum Narzissmus von Neville Symington arbeitet er heraus, dass es dabei um die Reproduktion illusionärer Verwandlungserfahrungen geht. Diese ermöglichen eine Dissoziation von nicht-integrierten Anteilen und damit die Herstellung einer narzisstisch verzerrten Selbstwahrnehmung.

Fabian Ludwig beschreibt im Beitrag Über den Sweet Spot des Deutens und die Traumarbeit als Leasingvertrag Erfahrungen aus dem Projekt «Traumstation» des Vereins The Missing Link und des Psychoanalytischen Seminars Zürich. Anhand von drei Träumen stellt er exemplarisch seinen Deutungsprozess vor und reflektiert die Traumbilder im Hinblick auf das jeweilige träumende «Ich unter Druck» und die Möglichkeiten des Deutens ausserhalb des klinischen Settings ohne Erwartungsdruck. Er kommt zum Schluss: Traumdeuten macht süchtig.

Im Spannungsfeld zwischen Psychoanalyse als Behandlungspraxis und gesellschaftlichem Einfluss eröffnet Markus Weilenmann den zweiten Teil des Hefts mit gesellschaftskritischen Perspektiven. In Psychoanalyse unter Druck: Verwaltung von Gesundheit befasst er sich mit der Frage, wie die öffentliche Verwaltung durch ihre Verordnungen und vom Gesetzgeber definierten Rahmenbedingungen zunehmend in den psychoanalytischen Prozess eingreift. Aus einer ethnopsychoanalytischen Perspektive zeigt er die in Verwaltungen und im Gesundheitswesen vorherrschende Denkweise auf und welche Fallstricke sich zum Leidwesen der Patient :innen daraus ergeben können. Er stellt dar, wie die öffentliche Verwaltung auf das therapeutische Setting Einfluss nimmt, den psychoanalytischen Prozess damit formt und verändert und welche Konsequenzen dies für die Anwendung von Psychoanalyse bereits hat bzw. in Zukunft noch stärker haben wird. Er plädiert dafür, die Deutungsmacht der Verwaltung wieder zurückzudrängen und selbst zu definieren, was Psychoanalyse sei und was sie für das Individuum, das Ich, leisten könne.

Valerie Schneider erörtert in “All we ever wanted was everything.” Zur Aktualität der Psychoanalyse als Gesellschaftskritik die Frage, welche gesellschaftstheoretische Relevanz die Psychoanalyse heute hat. Sie folgt dabei der Entsubjektivierungsthese der Kritischen Theorie und versteht Psychoanalyse als «historisch-materialistisches, bewegliches und notwendiges Instrument zeitgenössischer Gesellschaftskritik». Aufgrund der neoliberalen Transformation der kapitalistischen Produktionsweise und daraus folgen - den Anforderungen an die Subjekte werde der normative Anspruch der Psychoanalyse als kritischer Spiegel aktueller Verhältnisse immer wichtiger, um zu einer «autonomen Subjektivität» zu gelangen.

Andreas Jensens Beitrag Unter der Bürde der Handlungsmacht. Skizzen zu einer Fluchtforschung als Kritische Theorie des Subjekts beleuchtet das kritische Potenzial der psychoanalytischen Sozialpsychologie für die Fluchtforschung. Er richtet den Fo kus dabei  – im Gegensatz zum gegenwärtigen Mainstream der Fluchtforschung  – nicht auf das Agency-Paradigma, welches die Handlungsmacht von Akteur:innen auf einer rationalen, bewussten Ebene erfasst, sondern auf das subjektive Erleben von Geflüchteten mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Mit Bezug zu Alfred Lorenzer zeigt er in kurzen Fallvignetten den Zugang zu unbewussten Prozessen durch das szenische Verstehen von noch nicht sprachlich ausformulierten Reflexionen und beobachteten Verhaltensweisen von Menschen mit Fluchthintergrund auf.

Abschliessend stellen Agnes Stephenson und Thomas Stephenson in Populismus Macht Identität. Psychoanalytisch-pädagogische Überlegungen zu populistischen Bewegungen an. Sie verknüpfen psychoanalytische Theorien zum Phänomen Populismus, um die latenten Interaktionen zwischen Populist:innen und ihren Anhänger:innen besser zu verstehen. Die Autor:innen stellen die Wirkungsweisen und identitätsstiftenden Funktionen populistischer Bewegungen auf verunsicherte Individuen dar und veranschaulichen dies anhand der tiefenhermeneutischen Interpretation einer populistischen Rede. Zudem zeigen sie auf, welchen Beitrag eine psychoanalytisch ori- entierte Pädagogik leisten kann, um die Entwicklung demokratischer und protektiver Identitäts- und Resilienzfaktoren zu unterstützen.

Wir danken Christina Baeriswyl für die grafische Umsetzung des Titels «Ich unter Druck» und allen Autor:innen für das inspirierende Weiterverarbeiten unserer Fragen und ihre vielschichtigen Analysen. Sie zeigen, wieviel aufklärerisches Potenzial in der kreativen Anwendung psychoanalytischen Denkens und Handelns unverändert liegt, um auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, institutionelle Verstrickungen und politische Strömungen, die uns unter Druck setzen, zu verstehen und auf sie ein zu wirken.

Norbert Wolff und Marie-Luise Hermann