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Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen

Wie kann es sein, dass Sabina Spielrein, Psychoanalytikerin der ersten Stunde und brillante Wissenschaftlerin, auch heute noch vielen nur als Geliebte C.G. Jungs bekannt ist? Spielreins Geschichte aus diesem spezifischen Blick herauszulösen, ist Anliegen meines Aufsatzes, sowie ihr wieder eine wissenschaftliche Stimme zu geben, entgegen der ihr geschlechtsspezifisch zugeschriebe­nen Rolle. Bezugnehmend auf Spielreins Biografie skizziere ich, welche Grenzen weiblichem Potenzial im frühen 20.Jahrhundert durch das Patriarchat gesetzt waren und was dies für eine Frau wie Spielrein bedeutete. Patriarchale Strukturen sind bis heute in der Geschichtsschreibung wirkmächtig, tragen auch in der Psychoanalyse zum geschlechtsspezifischen Vergessen bei – und versperren letzt­lich den Blick für die eigenständige Leistung Spielreins als Psychoanalytikerin.


Journal für Psychoanalyse, 63, 2022 , 43–59 Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen Nadia Kohler (Basel) Zusammenfassung: Wie kann es sein, dass Sabina Spielrein, Psychoanalytikerin der ersten Stunde und brillante Wissenschaftlerin, auch heute noch vielen nur als Geliebte C.G. Jungs bekannt ist? Spielreins Geschichte aus diesem spezifischen Blick herauszulösen, ist Anliegen meines Aufsatzes, sowie ihr wieder eine wissen­ schaftliche Stimme zu geben, entgegen der ihr geschlechtsspezifisch zugeschriebe­ nen Rolle. Bezugnehmend auf Spielreins Biografie skizziere ich, welche Grenzen weiblichem Potenzial im frühen 20. J ahrhundert durch das Patriarchat gesetzt waren und was dies für eine Frau wie Spielrein bedeutete. Patriarchale Strukturen sind bis heute in der Geschichtsschreibung wirkmächtig, tragen auch in der Psychoanalyse zum geschlechtsspezifischen Vergessen bei – und versperren letzt­ lich den Blick für die eigenständige Leistung Spielreins als Psychoanalytikerin. Schlüsselwörter: Sabina Spielrein, patriarchale Machtstrukturen, Vergessen und Wiederholen 1 S abina Spielreins Menschwerdefantasien Spielrein wurde 1885 im russischen Kaiserreich geboren und interessierte sich schon früh fürs Menschwerden. Als sie keine Antworten auf die Frage bekam, woher die Kinder kommen, versuchte sie selbst schöpferisch zu werden. Sie schrieb in ihr Tagebuch: Ich hatte viele geheimnisvolle Flüssigkeiten in Fläschchen, Wunder­ steine und ähnliches, von welchen ich die grosse Schöpfung erwar ­ tete. Beständig plagte ich die Eltern mit Fragen, wie alle möglichen Gegenstände gemacht werden, und wenn ich keinen Menschen machen konnte, so machte ich eifrig Oliven, Seife, alles, was ich nur gestalten konnte. (Richebächer, 2017, S. 27) © 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht k ommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. D OI 10.1875 4/jf p.6 3 .4 44 Nadia Kohler Der Ansatz, mit dem das erinnerte Kind die Welt betrachtete, ist in sei - nem radikalen Konstruktivismus bemerkenswert: Alles in ihr – auch Menschen und Pflanzen – erschienen dem Mädchen als gemacht und daher auch als von ihm gestaltbar. Dieser Moment dokumentiert eine Neugierde sowie eine Lust am Entdecken und Schöpfen, der für den späteren Lebensverlauf von Spielrein prä- gend werden wird, wie aus der eindringlichen Biografie über Spielrein – «Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft» – der Zürcher Psychoanalytikerin Sabine Richebächer (2017) hervorgeht. Allerdings lebte Spielrein in einer Zeit, in der diese Fähigkeiten von Seiten der Gesellschaft bereits in ihren Keimen zu zähmen versucht und der Entfaltung weiblichen Potenzials früh Grenzen gesetzt wurden. Während Männer an der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend auf Basis von Ausbildung, Beruf und indi- vidueller Leistung eine Identität entwickeln und den Staat mitgestalten konnten, rahmten geschlechtsspezifische Forderungen das Leben einer Frau und begrenz ten das, was in einem solchen Leben als möglich gedacht werden konnte auf den engen Raum von Haushalt und Reproduktion. Da damit das Vermögen der Frauen zur intellektuellen und beruflichen Verwirklichung drastisch beschnitten war, spricht die Feministin Elisabeth Janeway treffend von einer sozialen Kastration der Frau: «Die Kastration der Frauen war offensichtlich eine soziale, und die Verstümmelung jener Fähigkeiten, wodurch sich vollwertige menschliche Wesen auszeichnen, ging durchaus analog mit der physischen Wunde» (1979, S. 165). Im Frühling 1904 war die 18-jährige Spielrein deshalb auch mit einer be - ängstigend einengenden Zukunft konfrontiert. Sie hatte zwar als beste und bril- lante Schülerin ihres Jahrgangs das Gymnasium abgeschlossen, doch als Jüdin und Frau hatte sie keine Aussicht auf einen Studienplatz in Russland. Und ohne geeigneten Mann durfte sie sich nicht von der Familie ablösen, mehr noch, sie musste für deren Pflege sorgen. Während die Mutter die Mitgift für ihre Tochter vor bereitete, wimmelte die junge Spielrein ihrerseits Heiratsvermittler und -be werber ab. Traditionsgemäss hätte sie zu diesem Zeitpunkt verheiratet werden sollen (Richebächer, 2017, S. 58). Angesichts dessen scheint die Frage berech- tigt, ob Spielreins Familie im Sommer 1904 auch ärztliche Hilfe in der Schweiz aufsuchte, weil sich die adoleszente Spielrein aufsässig aus dem engen gesell- schaftlichen Korsett befreien wollte. Denn auch die Psychiatrie diente damals der Aufrechterhaltung patriarchaler Machtstrukturen. Unliebsame Frauen wur - den nicht selten entmündigt und nachgerade weggesperrt, und dies bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch in der Schweiz, wie beispielsweise jüngst im Schweizer Film Die göttliche Ordnung thematisiert wurde. Jedenfalls wurde auch Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen 45 Spielrein in die Psychiatrie eingeliefert. Sie kam notfallmässig ins Burghölzli, wo sie über neun Monate lang blieb. Laut Einweisungsschreiben habe sie Symptome hochgra diger Hysterie, Psychose und Selbstgefährlichkeit gezeigt. Anamnestisch be richtete Spielrein von schweren körperlichen Züchtigungen durch die Eltern, v.a. durch den Vater. Über diese Erlebnisse wollte sie allerdings nicht von sich aus sprechen: «Sie liebe ihren Vater mit Schmerzen […] Sie wolle und könne es nie erzählen, sie wolle überhaupt nicht geheilt werden» (Richebächer, 2017, S. 80). Carl Gustav Jung seinerseits, damals Arzt am Burghölzli, war überzeugt, dass «psychische Sonderexistenzen» dadurch «zertrümmert» werden, indem man sie mit «Willensanstrengung» hervorreisst, und setzte seine Patientin so unter Druck, dass ihr Widerstand brach (Richebächer, 2017, S. 89). Auf diese Verletzungen ihrer Grenze reagierte Spielrein mit Tics, Grimassen und Abwehrbewegungen. Als Spielrein 1905 die Klinik verliess und eine Wohnung in Zürich bezog, kämpfte sie mit quälenden Selbstzweifeln bezüglich ihrer Kompetenz als Studentin und angehende Wissenschaftlerin. Aber was würde ihr ohne die Wissenschaft blei- ben, fragte sie sich, und kam zum Schluss: nur heiraten (Richebächer, 2017, S. 104). Trotz der widrigen gesellschaftlichen und persönlichen Umstände entschied sie sich aber mutig für ein der Wissenschaft gewidmetes Leben, in dem sie im Laufe ihrer Karriere über dreissig Schriften veröffentlichen sollte. Was ist nun aber pas- siert, dass sie sich heute gemeinhin als die Geliebte von C. G. Jung in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt hat? Warum wird sie oft als eine in sadomasochistischen Liebschaften verwickelte Frau erinnert? Zumindest aus heutiger Sicht zeigt sich diese sogenannte «Liebschaft» doch als eine missbräuchliche Beziehung, bei der Jung massive ethische Verletzungen beging. Er nutzte seine Machtposition aus und missbrauchte seine Patientin. Diese Tatsache wäre heute eine Straftat, und gleichwohl hält sich der Mythos der verführenden Patientin, die eine leidenschaft- liche Affäre mit ihrem Analytiker hatte. Walten hier unhinterfragte patriarchale Zuschreibungen? Zumindest sorgten patriarchale Strukturen dafür, dass jede und jeder wieder seinen bzw. ihren rechtmässigen Platz in der natürlichen Ordnung zu gewiesen bekam. Als nämlich ein öffentlicher Skandal drohte, distanzierte sich Jung abrupt von seiner mit ihm in einem Abhängigkeitsverhältnis stehenden Pa tientin – schon aus therapeutischer Sicht ein verwerfliches Verhalten. Darüber hi naus aber bekam Jung, als er Ehe und Karriere retten wollte, Schützenhilfe von Sigmund Freud, der seine Autorität dazu einsetzte, Spielrein zum Stillschweigen zu bewegen. Der eine missbrauchte also seine Patientin und beschuldigte sie dar - aufhin, ihn planmässig verführt zu haben, der andere wies sie zurecht und deckte seinen Kronprinzschüler gegen die Leidtragende. Es ist schwer vorstellbar, wie 46 Nadia Kohler Spielrein mit dem abrupten Rückzug Jungs zurechtkommen konnte. Über Monate jedenfalls analysierte sie die Situation in ihrem Tagebuch, um vorwärtsschauend festzustellen, dass sie sich vollkommen von Jung trennen und selbständig werden müsse (Richebächer, 2017, S. 153). 2 Psychoanalytische Praxis und Theorie als Abbild einer patriarchalen Realität In der Behandlungsgeschichte von Spielrein wird deutlich, wie die psy - choanalytische Therapie in einem ganz bestimmten sozialen Kontext patriarcha- ler Strukturen zwischen Patientin und Analytiker durchgeführt wurde. Vor dem Hintergrund einer autopoietischen Realitätslogik, also einer sich selbsterzeugen- den Realität, gibt es in diesem Setting sich wechselseitig beeinflussende Faktoren, die bestimmte Beziehungsmöglichkeiten erlauben. Im Fall von Spielrein sind das patriarchale Beziehungsformen, durch die beide, Jung und Spielrein, jene ge meinsame Realität in der psychoanalytischen Behandlung wiederholen oder ins zenieren, aus der sie selbst stammen. Johann August Schülein (2012) schreibt, dass die Mittel der Erkenntnisse von Patient*in und Analytiker*in aus der Realität stammen, die sie behandeln und die Erkenntnisse selbst wirken wiederum auf diese Realität ein, und spiegeln sie in gewisser Weise auch. Vor diesem Hintergrund scheint sich in Spielreins Behandlung erbarmungslos eine bürgerliche Realität mit der ihr spezifisch vorgegebenen Machtstruktur zwischen den Geschlechtern zu wiederholen (S. 618 f.). Diese Beziehungsformen und die darin liegenden patriarchalen Strukturen bilden sich auch in der psychoanalytischen Theoriebildung ab. Wie bereits die feministische Psychoanalyse in den 70er-Jahren kritisierte, handelte Freud (1931) die bestimmende Beziehungsform zwischen den Geschlechtern primär am Körper der Frau ab: «Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit» (S. 521). Damit führte er Werte- und Normbegriffe in die Theoriebildung ein, in denen der Gleichstellungskampf der Geschlechter vom Mann immer zu seinen Gunsten entschieden wird, während die Frau vom Mann gelehrt wird, diese Lösung unge- fragt anzuerkennen (Zilboorg, 1979, S. 208). Anatomie sei Schicksal, sagte Freud (1924d). Eine Aussage, in der wir erkennen, wie eine unhinterfragte patriarchale Normvorstellung sozusagen durch die «Hintertür» in Freuds Theoriebildung «ein- schlüpft», eingeschrieben in den weiblichen Körper als «der soziale Unterschied, die Inferiorität des Weiblichen, das Defizit an Macht und Freiheit» ( Janeway, 1979, S. 174). Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen 47 Eine Erklärung dafür liegt nach Schülein (1975) auch im wissenschaft- lichen Diskurs der damaligen Zeit. Freud und die Psychoanalyse stiessen von unter - schiedlicher Seite auf Ablehnung, und Freud habe deshalb selbst versucht, sich den naturwissenschaftlichen Standards einer bestimmten Wissenschaftskultur – namentlich dem Empirismus – unterzuordnen. Folge davon sei ein spezifischer Blick auf den Gegenstand der Psychoanalyse gewesen. Freud habe die soziale Wirklichkeit mit der Natur gleichgesetzt, weshalb er sie als objektive Realität definierte, die ausserhalb und unabhängig von ihm existiert. Damit habe er die Komplexität des sozialen Geschehens nicht realisiert, sondern relativ einfache lineare Beziehungen zwischen Gesellschaft und Therapie, Ärzt*in und Patient*in, Forscher*in und Forschungsgegenstand gesetzt. Weil Freud damit einhergehend die Problematik zwischen Erkenntnis und Interesse nicht reflektiert habe, dadurch den Forschungsprozess selbst entproblematisiert und ihn in seiner Komplexität auf einfache Beziehungen reduziert habe, gingen unreflektierte, direkt aus den vorherrschenden gesellschaftlichen Ansichten, Normen und Rollen entwickelte Annahmen in die psychoanalytische Theoriebildung ein (Schülein, 1975, S. 23 f.). In Anlehnung an Schülein könnte Freud demnach entgangen sein, dass sich die vermeintliche Kastration der Frau nicht daran zeigt, dass sie biologisch keinen Penis hat, sondern, wie Janeway (1975) es auf den Punkt bringt, vor allem als soziale Verstümmlung:«[D]as Fehlen des Penis entziffert diesen Tatbestand nicht, aber symbolisiert ihn» (S. 175). 3 Soziale Kastration in der Erinnerungskultur Die Leistungen von Frauen und ihr oft entbehrungsreiches Leben spielte sich meistens im weiblich-innerhäuslich/privaten Bereich ab und eben nicht im männlich konnotierten öffentlichen Raum. Und weil die Geschichtsschrei bung überwiegend eine männlich-öffentlich/politische war – und oft immer noch ist –, werden Frauen und ihre Geschichten in der Erinnerungskultur margina- lisiert ( Janeway, 1979; Schraut & Palatschek, 2006). Das heisst, dass sich in der Art und Weise, wie wir Erinnern und Vergangenes erzählen, die immer gleichen Hierarchien, Normen und Abweichungen mit einer spezifischen patriarchalen Rollenverteilung reproduzieren: Dass wir etwa Spielrein als verführende Femme fatale und Geliebte Jungs erinnern – und nicht als Pionierin der Psychoanalyse und Verfasserin von über dreissig Schriften. Damit nun aber aus historischen Tatsachen eine Geschichte wird, muss eine Perspektive hinzutreten, die auswählt, anordnet, einordnet und wertet. Und diese transgenerational weitergegebene Perspektive – nicht die historischen Tatsachen – 48 Nadia Kohler möchte ich auf ihre patriarchale Prägung hin befragen. Denn unser Blick auf die Geschehnisse durchdringt nicht nur die Vergangenheit, sondern reproduziert sich selbst in unserem Denken und übersetzt sich damit in die Gegenwart, bleibt so bis in unsere Zeit hinein wirksam. Wenn in unserer Erinnerung Geschehenes bei- spielsweise nach Momenten der Überlegenheit und Unterlegenheit sortiert wird, ist die Vergangenheit damit – auch in einer vermeintlich kritischen Aufarbeitung – patriarchal strukturiert. Mit einem solchen Blick entgehen uns aber Momente, in denen sich etwas anderes – ein Potential – zeigt, das nicht ohne weiteres in dieses Narrativ passt. Der Blick der Psychoanalyse, der selbst psychisch-symbolische Prozesse beschreibt und damit auch immer wieder gesellschaftliche Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit produziert (Mitchell, 1979), ist davon besonders betroffen. Freuds Beobachtungen sozialer Verhältnisse sind seiner Zeit geschuldet und können deswegen nicht einfach auf unsere Zeit übertragen werden. Wird dies aber getan, schreiben sich diese vergangenen sozialen Verhältnisse immer wieder ins psychoanalytische Denken unserer Zeit ein. An einer kleinen Vignette aus Spielrein (1920/2002) und deren Interpreta- tion möchte ich veranschaulichen, dass Psychoanalytiker*innen oft selbst unre- flektiert Freuds Weiblichkeitskonzept in Fallgeschichten sehen und diese damit letztendlich reproduzieren. Der kleine Claude (5 ½ Jahre) ist sehr männlich, herrschsüchtig und, obgleich er gerne mit Renatchen spielt – verachtet er die Mäd­ chen «mit Schleifen in den Haaren»; er möchte um nichts auf der Welt Mädchen sein. Im Gegensatz dazu äusserte Renatchen mehr ­ mals den Wunsch, Knabe zu sein. Als ich nach den Gründen fragte, erhielt ich die Antwort, sie möchte gerne Papa werden, es sei so schön, Frau und Kinder zu haben. (S. 216) Wird eine solche Vignette nicht oft dergestalt gelesen, dass das Mädchen hier defizitär und schwach scheint, und der Junge stark und mächtig? Wird eine solche Szene nicht oft dahingehend interpretiert, dass das Mädchen durch den Wunsch, ein Junge zu sein, ihr Defizit wettzumachen versucht? Mit einer solchen Lesart wird die Minderwertigkeit der Frau und die Überlegenheit des Mannes unbewusst theoretisiert und reproduziert. Wieso stellen wir nicht die männliche Überlegenheit in Frage? Ist Renatchen in Spielreins Text nicht auch ziemlich kreativ? Zumindest bewahrt sie sich in ihrer Fantasie ihre Omnipotenz, befreit von jeglichen Konventionen. Das Mädchen hat Wünsche, der Junge beharrt hingegen darauf, was Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen 49 er nicht sein will. Liegt das Nein entwicklungspsychologisch nicht vor dem Ich­Will? Hat der Junge nicht auch Wünsche? Und dürfte er denn ein Mädchen sein wollen? Wahrscheinlich nicht, denn auch er muss hegemoniale Normvorstellungen erfül- len. Alles andere wird untersagt, was nach Melanie Klein bekanntlich Aggressionen verstärkt. Hat der Junge eventuell sogar ein Aggressionsproblem? Und so wie wir diesen kurzen Text von Spielrein – übrigens mit dem Titel Das schwache Weib – anders lesen können, so können wir Frauengeschichten aus dem patriarchalen Blick herauslösen. Das heisst, die Vergangenheit nicht nur darauf zu untersuchen, was Frauen fehlte, sondern was sie auszeichnete. Holen wir nachträglich die Leistungen jener Frauen aus der Vergangenheit zurück, können wir diese Leistungen mit der Gegenwart und der Zukunft verbinden. Elisabeth Bronfen (2020) formuliert es so: «Sich an Vorgängerinnen zu erinnern, um ihnen nachträglich, in der Jetztzeit, eine Wirkung zuzusprechen, ist dann nachhaltig, wenn es eine Verbindungskette produziert, welche in der Zukunft erhalten werden kann» (S. 190). Um den patriarchalen Blick zu dekonstruieren, versuche ich im Folgenden Sabina Spielreins wissenschaftliche Stimme in den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen psychoanalytischen Diskurs zurückzuholen. Dabei profitiere ich von den grundlegenden Arbeiten der jüngsten Spielrein-Forschung, die im Vor- und Umfeld der 2017 gegründeten International Association for Spielrein Studies entstanden sind. Wie produktiv es für die psychoanalytische Forschung sein kann, die Perspektive auf Spielreins Werk neu – oder überhaupt erst – einzustellen, doku- mentiert nicht zuletzt die Spielrein-Bibliografie, 1 die von der Gesellschaft betreut wird. Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf die Forschungen von Harris (2015) und Richebächer (2017). 4 Sabina Spielrein als Wissenschaftlerin Spielrein promovierte 1911 als erste Person überhaupt mit einer psychoana- lytischen Dissertation mit dem Titel «Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie (Dementia Praecox)» (1911/2002). Im gleichen Jahr hielt sie ihren ersten Vortrag in der Mittwochsgesellschaft der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ( WPV ) zum Thema ihrer späteren Schrift «Destruktion als Ursache des Werdens» (1912/2002) und wurde 26-jährig als zweite Frau in die WPV aufge- nommen (Richebächer, 2017). Spielrein war mitbeteiligt an zwei Perioden – die eine in Westeuropa, vor allem in Lausanne und Genf zwischen 1914 und 1923, die andere in Moskau von 1923 bis Ende 1928 –, die Theorien und Methoden sowohl für die Forschung als auch für die klinische Behandlung hervorbrachten, die die Psychoanalyse und die 50 Nadia Kohler Entwicklungspsychologie bis heute prägen. Spielrein war Zeit ihres Schaffens mit fünf bedeutenden intellektuellen Persönlichkeiten der ersten Hälfte des zwanzigs- ten Jahrhunderts im Austausch: mit Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Jean Piaget, Alexander Luria und Lew Wygotsky. Letztere beiden waren die herausragenden russischen Psychologen ihrer Zeit. Damit war Spielrein von etwa 1911 bis 1928 eine Schlüsselfigur, die sich ganz in den Dienst der Psychoanalyse und von Freuds zen- tralem Anliegen stellte: die Internationalisierung und Interdisziplinarisierung der Psychoanalyse. Viele Arbeiten, insbesondere jene zur Sprache der Kinder, verfasste Spielrein auf Grundlage ihrer gesammelten Kinderbeobachtungen und führte, noch vor Melanie Klein und Anna Freud, die Methode der Beobachtung in die Entwicklungspsychologie ein. Entwicklung ist in ihrem Werk durchdrungen von der Idee dialektischer Veränderungsprozesse, einer Dialektik zwischen Schöpfung und Zerstörung einerseits und innerer und äusserer Welt andererseits. Dabei kon- zeptualisierte sie ein psychoanalytisches Entwicklungsmodell von Sprache und Sprechen (Harris, 2015). In der oben genannten Dissertation skizzierte Spielrein auf Grundlage ih rer klinischen Arbeit im Burghölzli sowie der Gedanken von Freud und Jung Zusammenhänge zwischen Traumzuständen und psychotischem Denken: «Wie im Traum ersetzt [die Schizophrenie] die reale Aussenwelt durch eine Innenwelt mit Realitätswert» (1911/2002, S. 90). Dabei interessierte sich Spielrein für die Sprache der Psychotiker*innen, deren Symbolisierung und Überdeterminierung in Wort und Bedeutung. Nach Spielrein «vervielfältigen» sich Vorstellungsinhalte bei Psychotiker*innen und lösen sich «in das allgemeine Ganze des Denkens» im Unbewussten auf. Die Psychotikerin sagt dann nicht mehr «ich erlebe», sondern «sie erlebt» und entfremdet sich somit von persönlichen Erfahrungen (1911/2002, S. 90). Schon in dieser Dissertation, der ersten Spielreinschen Schrift, finden sich Züge jener Metapsychologie, die sie in ihrer zweiten Arbeit «Destruktion als Ursache des Werdens» (1912/2002) ausarbeitet. Andersartigkeit, Spaltung des Selbst und Vielheit werden zentrale Konzepte für Spielrein, die alle auf verschiedenen Bewusstseinsebenen funktionieren (Harris, 2015). In «Destruktion als Ursache des Werdens» (1912/2002) beschreibt sie den psychischen Apparat zweigeteilt: […] das Hauptcharakteristikum des Individuums bestehe darin, dass es ein Dividuum ist. Je mehr wir uns dem bewussten Denken nähern, desto differenzierter werden unsere Vorstellungen, je tiefer wir ins Unbewusste gelangen, desto allgemeiner, typischer werden Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen 51 die Vorstellungen. Die Tiefe unserer Psyche kennt kein Ich, sondern bloss dessen Summation, das Wir. (S. 106) Sie vergleicht diese Summation mit der Verdichtung im Traum, die einer Wunschrealisierung verschiedenster Aspekte entspricht. Bei an Dementia Praecox Erkrankten sieht sie diese Assimilation ans Unbewusste und damit die Auflösung der ich-differenzierten Vorstellungen im Bewusstsein hin zu typischen, d.h. sum- mierten Vorstellungen im Unbewussten. In diesem Zustand des Unbewussten, d. h. im Wir-Psyche-Zustand agieren Psychotiker*innen als Zuschauer*innen, die sich selbst und andere auf ähnliche Weise beobachten, so wie Träumende sich selbst und andere im Traum beobachten. Die Dissertation enthält auch Überlegungen zur Zeitlosigkeit des Unbe- wussten, «das ausserhalb der Zeit steht oder gleichzeitig Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist» (1911/2002, S. 91). Freud wird 1915 in «Das Unbewusste» von der Zeitlosigkeit unbewusster Vorgänge sprechen und in «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» (1914) davon, wie sich das Unbewusste im gefühlsbetonten Agieren ausdrückt. Ebenfalls bereits 1911 beschreibt Spielrein Phänomene der Wiederholung und Übertragung: Der Mensch hat zweierlei Erleben, bewusstes und unbewusstes; dem unbewussten Erleben kommt die wichtige Funktion der Er zeu­ gung des Gefühlstones zu […]. Erst durch das Hinzutreten des Unbewussten zum bewussten Erleben wird letzteres zum wirklichen Erlebnis. Das Unbewusste fügt das ganze entsprechend konstellierte Erinnerungsmaterial hinzu. Haben wir z. B. Freude an irgendeinem Märchen oder Gedichte, so geschieht dies, weil im Unbewussten dadurch lustbetonte Vorstellungen erregt werden, welche wir nur insofern jetzt erleben, als der neue Vorstellungsinhalt mit dem alten in Verbindung tritt und dadurch am gemeinsamen Lustgefühle teilnimmt. (1911/2002, S. 88) Gemäss Spielrein führt das Unbewusste Wiederholungen aus, die vom Subjekt nicht gesteuert werden können. Bei jedem Ereignis wird ein bzw. wer - den mehrere Ursprungserlebnisse unbewusst assoziiert und somit verdrängte oder einfach vergessene Inhalte immer wieder von neuem aktiviert. Damit legt Spielrein, ohne es zu benennen, eine Grundlage für eine Konzeptualisierung von Übertragungsphänomenen. 52 Nadia Kohler In ihrer Arbeit «Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben» (1923/2002) führt sie ihre Überlegungen zur Zeit transdisziplinär aus. Sie setzt sich darin insbeson- dere mit den Vorstellungen bzw. Darstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Traum, der Sprache und der kindlichen Sprachentwicklung auseinan- der. Dabei macht sie die Beobachtung, dass die Ergebnisse der Sprachforschung und der Traumforschung in vielerlei Hinsicht ähnlich sind. So wie der Traum die Zeitrichtung nicht darstellen kann, sondern in eine Dauer verwandelt, so erkennt Spielrein weiter, «dass einer Zeitrichtungsvorstellung auch in der Sprache eine unterschwellige Raumstreckenvorstellung zugrunde liegt» (1923/2002, S. 327). Diese Erkenntnisse beobachtet sie auch bei kleinen Kindern während der Sprach- entwicklung und kommt – hier schon mit einer dreigeteilten Vorstellung des psy - chischen Apparats – u. a. zum Schluss: Während wir bewusst einen ruhenden Punkt in der strömenden Zeit suchen, auf den wir alles beziehen – tun wir im Vorbewusstsein geradezu das Gegenteil – alles, was wir jetzt erleben, assimilieren wir an das vorher Erlebte. Dieses vorher Erlebte erleben wir aber gegenwärtig, und, insofern als die Gegenwart eine sich beständig wandelnden Dauer ist – erleben wir dies als Zukunft, als ein Werden. Das Vorbewusstsein ist sich der allgemeinen Dauer bewusst, die für dieses, wie wir früher auseinandersetzten – Gegenwart und Zukunft ist. Es ist das «Da Sein». Erst mit der Zeit lernt das Kind, dass etwas, das es sich wünscht, auch «Nicht da» sein kann. So bildet sich die Idee der Gegenwart und Zukunft einerseits = «Da sein», und die Idee der Vergangenheit andererseits = «nicht da sein». Mehr braucht auch der Traum nicht von Vergangenheit zu wissen. (1923/2002, S. 329) Renatchen aus obenstehendem Beispiel würde vor diesem Hintergrund also diese Wunschfähigkeit zum Ausdruck bringen. Daneben diskutiert Spielrein hier die Konstituierung des Selbst und damit die Entwicklung einer Identität, in der vorwärts gerichtete und rückläufige Zeitbewegungen, Wechselwirkungen zwischen Primärprozessen und Sekundärprozessen bestimmend sind. Damit würde sie be reits jene Prozesse beschreiben, die Freud auch seinem Konzept der Nachträglichkeit un terlegt, mit dem er beschreibt, dass vergangenes Affekt- geschehen in der Ge genwart nachträglich symbolisiert wird, während Spielrein Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen 53 von nachträglich differenziert spricht. Spielrein untermauert ihre Überlegungen transdisziplinär: Die Sprachforscher nehmen ein Gesetz der Inertie oder des Beh ar­ rungs vermögens älterer sprachlicher Formen an. Was ist aber die­ ses Beharrungsvermögen? Die Natur kennt keinen Stillstand. Ein Beharrungsvermögen, das sich jeder Weiterentwicklung widersetzt, ist daher eine nach entgegengesetzter Richtung in uns wirkende Kraft, ein Bestreben, alles Neue dem Gewesenen zu assimilieren, ein Drang, das Gewesene immer wieder zu erleben. Fassen wir das Be harrungsvermögen, wie eben erwähnt, dynamisch auf, dann las­ sen sich die Erfahrungen der Linguisten mit den unsrigen unschwer ver einigen. (1923/2002, S. 328) Diese Überlegungen zur Beharrungstendenz arbeitet Spielrein erstmals in dem schon erwähnten frühen Aufsatz «Destruktion als Ursache des Werdens» (1912/2002) aus und konzeptualisiert zwei im Sexualtrieb bestehende antago- nistische Kräfte: Selbsterhaltungstrieb und Arterhaltungstrieb, die in einem dia- lektischen Prozess Entwicklung vorantreiben. Der Selbsterhaltungstrieb will das Individuum schützen, der Arterhaltungstrieb strebt die Auflösung oder Zerstörung eines Individuums an, um neues Leben zu schaffen. Destruktion im psychischen Leben ist so für Spielrein unabdingbare Voraussetzung zur Weiterentwicklung – Überlegungen, die Freud später in «Jenseits des Lustprinzips» (1920) aufnimmt. Ausgehend von der Biologie erklärt Spielrein: Es findet in der Zeugung eine Vereinigung der weiblichen und männl i chen Zelle statt. Jede Zelle wird dabei als Einheit vernich­ tet und aus diesem Vernichtungsprodukt entsteht das neue Leben. (1912/2002, S. 100) Ähnliches erkennt sie im Sexualakt: [E]ins drängt in das andere hinein. […] Es wird nicht das ganze Individuum eingesogen, sondern nur ein Teil desselben, welcher aber in diesem Augenblicke den Wert des ganzen Organismus reprä­ sentiert. Der männliche Teil löst sich im weiblichen auf, der weib­ liche gerät in Unruhe, bekommt eine neue Form durch den fremden 54 Nadia Kohler Ein dringling. Die Umgestaltung trifft den ganzen Organismus; Des truk tion und Wiederaufbau, […]. (1912/2002, S. 100 f.) Nach Harris (2015) beschreibt Spielrein hier ein interaktives, auftauchendes Bewusstsein eines anderen im Inneren des Selbst, das für Spielrein ein weiterer Aspekt der Konstituierung des Selbst darstellt, den sie mit der Vorstellung verbindet, einen anderen im eigenen Körper zu haben. Wird die höchste mentale oder körperliche Vereinigung mit dem Liebes- objekt erreicht, wird sie sogleich vernichtet: [S]obald die Wirklichkeit in ihre Rechte tritt, sobald das Wort zur Tat wird, löst sich die entsprechende Vorstellungsgruppe, beglücken­ des Entspannungsgefühl erzeugend, auf; in diesem Momente ist man psychisch gänzlich unproduktiv. Jede Vorstellung erreicht ihr Lebensmaximum, wenn sie am intensivsten auf ihre Umgestaltung zur Wirklichkeit wartet; mit der Realisierung wird sie zugleich ver ­ nichtet. (1912/2002, S. 112 f.) Auch die Sprache sieht Spielrein als typische Artvorstellung, die zur allge- meinen Verständigung unserer individuellsten Gefühlsregungen benutzt wird, diese aber eben dadurch nie vollständig repräsentieren kann und damit die indi- viduelle Gefühlsregung zerstört. «Und doch empfinden wir eine Erleichterung beim Aussprechen, wenn wir auf Kosten unserer Ichvorstellung eine Artvorstellung bilden» (1912/2002, S. 112). Den von ihr konzeptualisierten Kampf: «Die Artpsyche will die Ichvorstel- lung zu einer unpersönlichen typischen machen, die Ichpsyche wehrt sich gegen diese Auflösung» (1912/2002, S. 108), sieht sie auch in der Liebe: Jede Vorstellung sucht gleichsam ein nicht identisches, sondern ähn­ liches Material, darin sie aufgelöst und transformiert werden kann. Dieses ähnliche Material ist das auf gleichen Vorstellungsinhalten beruhende Verständnis, mit welchem die andere Person unsere Vor stellungen empfängt. Dieses Verständnis ruft in uns ein Sym­ pathiegefühl hervor, was nichts anderes bedeutet, als dass man noch mehr von sich geben möchte, bis die Zuneigung, zumal wenn man es mit Individuen verschiedenen Geschlechtes zu tun hat, sich so weit steigert, dass man sich im Ganzen (das ganze Ich) hingeben Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen 55 möchte. Diese für das Ich gefährlichste Phase des Fortpflanzungs­ ( Transformations­) Triebes geht aber mit Wonnegefühlen einher, weil die Auflösung im ähnlichen Geliebten ( = in der Liebe) statt­ findet. (1912/2002, S. 112) Das auftauchende Bewusstsein eines anderen im Inneren des Selbst, also einen Inkorporations- oder Verinnerlichungsprozess, sieht Spielrein als einen höchst aktiven und expansiven Prozess, ähnlich wie Ferenczi. Damit weist sie Freuds Vorstellungen weiblicher Passivität entschieden zurück und nimmt Ge dan- ken von Lampl-de Groot (1933) und Muller (1932) vorweg. Inkorporation sieht sie nicht einfach als passiv und rezeptiv, sondern als aktiv und transformativ, eine Art der Konzeptualisierung der psychischen Aktivität, die wir später bei Wilfred Bion und seinem Konzept des Containings wieder finden, in dem der/ die Psychoanalytiker*in die Projektionen ihres/ihrer Patient*n aufnimmt und in verdauter Form wieder zurückgibt. Solche und weitere Ideen zur psychosexuel- len Entwicklung aus einer weiblichen Perspektive heraus, behandelt Spielrein in vielen weiteren Aufsätzen, u. a. in «Das Schamgefühl bei Kindern» (1920/2002), «Renatchens Menschenentstehungstheorie» (1920/2002) und «Die drei Fragen» (1923/2002). In der Arbeit «Die Schwiegermutter» (1913/2002) beschäftigt sich Spielrein zudem mit Neid und Regression und dreht das ödipale Dreieck und des- sen inhärenten Konventionen um. Sie sieht in der Macht und Projektion der Mutter auf ihre Tochter Anzeichen von Neid, wobei sie einen Zusammenhang herstellt zu den damaligen gesellschaftlichen Beschränkungen der Frauen und Mütter, insbesondere in Bezug auf deren Möglichkeiten, etwas zu erreichen. Dass Spielrein mit ihren Schriften und ihrem dialektischen Denken kon- zeptuelle Impulse für die Psychoanalyse gab und noch immer geben könnte, wurde von der noch jungen Spielrein-Forschung in Ansätzen aufgedeckt. Harris (2015) etwa zeigt in dem hier viel zitierten Aufsatz “Language is there to Bewilder itself and others: Theoretical and Clinical Contributions of Sabina Spielrein” die Verbindungen, die zwischen Spielreins Denken und den Konzepten von Melanie Klein, Jean Piaget, Lew Wygotski und vielen weiteren bestehen. So wie später Klein von der Wechselwirkung zwischen Projektion und Introjektion spricht, wird Piaget von der Aktivität von Assimilation und Akkommodation sprechen. Als Spielrein von 1914 bis 1923 in Lausanne und Genf arbeitete und Mitglied der Schweizerische psychoanalytische Gesellschaft (SGPsa) wurde, war Piaget acht Monate ihr Analysand. Laut Harris (2015) baut sein Werk auf Ideen auf, die Spielrein in Genf lehrte und erforschte. Jahre später, als Spielrein in Russland arbeitete, hätte 56 Nadia Kohler sich dieser Einfluss auch bei Wygotsky gezeigt, der von den Zonen proximaler Entwicklung sprach, in der Dialektik von Denken und Sprechen. Harris (2015), die als Entwicklungspsychologin alle Texte von Piaget und Wygotsky gelesen hat, erkenne, seit sie sich mit den Arbeiten von Spielrein befasste, in den Texten dieser beider Denker unübersehbar Spielreins Denken, und ihre ihnen zugrunde liegen- den psychoanalytischen Ideen. 5 Über die Wiederkehr des Vergessenen Umso erstaunlicher ist es, dass Spielreins Werk in Vergessenheit geriet. Namhafte Wissenschaftler*innen referierten nicht auf Spielrein, obwohl sie ihre Gedanken kennen mussten, sogar ähnliche Gedanken formulierten. Wie Harris (2015) könnten wir uns fragen, warum Spielrein von und bei Piaget und Wygotzki kaum erwähnt wird. Warum sie zwar in einer Linie mit Piaget und Wygotzki steht, aber nur diese beiden Männer rezipiert werden. Harris (2015) merkt an, dass dadurch nicht nur Spielreins Werk verloren gegangen sei, sondern auch der Anschluss der Psychoanalyse an diese Denkrichtungen. Weiter fragt sie sich, warum Klein in ihren Abhandlungen über Entwöhnung und Mündlichkeit Spielrein nicht diskutierte, obwohl sie deren Überlegungen darin um einige Jahre vorwegnahm. Und warum Hans W. Loewald, der sich ausführlicher mit dem Phänomen der Zeit auseinandersetzte, Jung als Urheber seiner vorangetriebenen Ideen sah und dabei Spielrein mit keinem Wort erwähnte. Und wieso Laplanche von destruktiven Kräften der Sexualität spricht, sich dabei zwar mit Ferenczis Ideen kritisch und integrativ auseinandersetzt – aber nicht mit denen von Spielrein (Harris, 2015). Eine vieldiskutierte Frage für Psychoanalytiker*innen ist, warum Freud einen Todestrieb in seiner Arbeit «Jenseits des Lustprinzips» (1920) konzipierte, ohne aber je Spielreins Überlegungen eingehend zu diskutieren (z. B. Zilboorg, 1979; Harris, 2015). Immerhin erwähnte Freud Spielrein in einer Fussnote, und die- ser Tatsache verdanken wir womöglich, dass wir ihre Arbeit überhaupt kennen. Warum also ging die Einordnung Spielreins in die Genealogie all dieser psycho- analytischen Ideen verloren? Die Antwort ist wohl dieselbe wie auf die Frage, warum die lange Geschichte der Schweizer Frauenbewegung und der Kampf für das Frauenstimmrecht nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz ist: «Was, wer und wie erinnert wird oder nicht, ist stets Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse, und es ist bis heute zutiefst vergeschlechtlicht» (Maihofer, 2020, S. 27). Spielrein wurde zudem durch prägende Männer dieser Zeit, allen voran Jung und Freud, bewusst pathologisiert und ihr Vergessen in der Wissenschaft damit aktiv befördert. Das erscheint deshalb unerhört, weil Spielrein sich mit Themen Ungehörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen 57 auseinandersetzte, die sich bei all den oben erwähnten Autor*innen wieder finden. Und ihre Theorien knüpfen, wie Harris (2015) betont, an moderne Konzepte an, wie etwa die Gedanken von Donald Winnicott über die Übergangsphänomene, an Wilfred Bions Theorie über die Funktionen des Denkens und an sein Konzept der Rêverie, das später Ferro und Ogden weitergedacht haben. Wie Fonagy sich heute für die Psychoanalyse, Bindungstheorie und Mentalisierung interessiert und Erkenntnisse der Säuglingsforschung, Neurowissenschaft und klinischen Theorie zu verbinden versucht, versuchte Spielrein die Psychoanalyse in eine allgemeine Psychologie einzubetten und sie mit verwandten Disziplinen wie Physiologie, Linguistik und der Entwicklungspsychologie zu verbinden. Die Lektüre des Spielreinschen Werkes ist, wie ich in meinem kursorischen Durchgang aufzuzeigen hoffe, demnach nicht nur mit einem zurückgewandten Blick auf das in ihnen vergessene Archiv der Psychoanalyse lohnenswert, sondern auch für den nach vorne gewandten Blick zukünftiger Um- und Weiterdenker*innen. Spielreins Denken ins psychoanalytische Gedächtnis zurückzubringen, sollte daher nicht nur das Anliegen einer feministisch informierten Psychoanalyse sein, sondern steht auch im Interesse einer Psychoanalyse, die Anschlüsse an interdisziplinäre Diskurse – und damit ihre eigene Relevanz – nicht verlieren möchte. Überträgt man die Spielreinsche Individualpsychologie auf gesellschaftliche Phänomene, lässt sich auch im kulturellen Gedächtnis eine ähnliche Struktur beschreiben, mit der Neues stets dem Gewesenen assimiliert wird. So strukturiert die Vergangenheit in unserem Denken auch die Wahrnehmung unseres gegenwärtigen Zusammenlebens – und was davon wie ins kulturelle Gedächtnis eingeht. Nämlich das, was sich an bereits Vorhandenes assimilieren lässt. Betrachten wir Frauen in einem Narrativ patriarchaler Dynamik von Unterlegenheit und Überlegenheit, dann ist dies das Ergebnis eines solchen Assimilationsprozesses. Was sich nicht assimilieren und gleichsam als Wiederholung von Gewesenem einordnen lässt, hat es schwer, von uns gesehen werden zu können. Psychoanalytiker*innen aber ken- nen geeignete Methoden, die Abhilfe schaffen. Erinnerungen unserer Patient*innen würden wir Psychoanalytiker*innen doch versuchen, zu dekonstruieren, indem wir Wiederholungen benennen sowie alternative und damit mutative Deutungen anbieten. Mit Hilfe der Reflexion können wir uns folglich auch wieder von ver - gangenen patriarchalen Machtstrukturen in unserem Denken distanzieren, die sich in unbewussten Wiederholungen, konservierten Erfahrungen und somit in einer inszenierten Sprache des Vergessenen manifestieren. Erinnern wir uns an kreative Leistungen von Frauen und lassen wir ihren Stimmen ein Gehör in der Öffentlichkeit finden. Schaffen wir eine Erinnerungskultur, in der sich nicht einfach 58 Nadia Kohler die vergangene Wirklichkeit der spezifischen Geschlechterdichotomie unbewusst immer von neuem reproduziert. Schreiben wir die Zukunft neu! Anmerkungn 1 abzurufen unter. https://www.spielreinassociation.org/key-publications-about-spielrein. Literatur Bronfen, E. (2020). Schillernde Erbschaft – Judith Shakespeare. In R. Jost & H. Kro- nen berg (Hrsg.), Gruss aus der Küche. Texte zum Frauenstimmrecht (S. 186– 193). Rotpunktverlag. Freud, S. (1914g). Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II. GW X, 126–136. Freud, S. (1915e). Das Unbewusste. GW X, 264–303. Freud, S. (1920g). Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, 1–69. Freud, S. (1924d). Der Untergang des Ödipuskomplexes. GW XIII, 395–02. Freud, S. (1931b). Über die weibliche Sexualität. GW XIV, 515–537. Harris, A. (2015). “Language is there to Bewilder itself and others”: Theoretical and Clinical Contributions of Sabina Spielrein. Journal of the American Psycho­ analytic Association, 63(4), 727–767. Janeway, E. (1979). Über «weibliche Sexualität». In C. 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Ausbildung am Ausbildungszentrum für Psychoanalytische Psychotherapie (AZPP) in Basel und Kandidatin der Schwei- zerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa) am Psychoanalytischen Seminar Basel (PSB). Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
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