Berichtet wird über einen psychoanalytischen Workshop, in dessen Zentrum fünf Fallvorstellungen zu Patientinnen standen, bei denen der Wunsch nach kosmetischer Genitalchirurgie ein Thema war oder die sich einem entsprechenden Eingriff bereits unterzogen hatten. Der Workshop-Bericht fasst die fünf Fallvorstellungen zusammen und formuliert erste Hypothesen zu der für die Praxis wichtigen Frage, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen entsprechende Eingriffe das Potenzial haben, das psychische Wohlbefinden der Patientinnen nachhaltig zu verbessern und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen dies eher nicht zu erwarten ist.
Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 94–108
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie des weiblichen Genitales – Ein Workshop-Bericht
Monika Gsell (Zürich)
Zusammenfassung: Berichtet wird über einen psychoanalytischen Workshop, in
dessen Zentrum fünf Fallvorstellungen zu Patientinnen standen, bei denen der
Wunsch nach kosmetischer Genitalchirurgie ein Thema war oder die sich einem
entsprechenden Eingriff bereits unterzogen hatten. Der Workshop-Bericht fasst
die fünf Fallvorstellungen zusammen und formuliert erste Hypothesen zu der für
die Praxis wichtigen Frage, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen
entsprechende Eingriffe das Potenzial haben, das psychische Wohlbefinden der
Patientinnen nachhaltig zu verbessern und unter welchen Voraussetzungen und
Bedingungen dies eher nicht zu erwarten ist.
1
Schlüsselwörter: ästhetische Genitalchirurgie, Psychodynamik, Fallmaterial,
Indikation
1 Einleitung Vom 8. bis 10. Oktober 2021 fand an der Universität Zürich ein psychoana
lytischer Workshop statt, der sich mit dem Wunsch von Frauen nach einem kos
metischen Eingriff am Genitale beschäftigte. Bei dem Workshop handelte es sich
um ein Kooperationsprojekt des Psychoanalytischen Seminars Zürich und des
Fachbereichs Gender Studies der Universität Zürich, der grosszügigerweise auch
die finanziellen Mittel dafür zur Verfügung stellte. Organisiert und geleitet wurde
die Veranstaltung von der Verfasserin dieses Berichtes. Im Zentrum des Workshops standen fünf Fallvorstellungen zu Patientinnen,
die den Wunsch nach kosmetischer Genitalchirurgie hegen oder sich einem ent
sprechenden Eingriff bereits unterzogen haben. Ziel des Workshops war es, ein
möglichst vielfältiges Bild der unbewussten Prozesse – Phantasien, Konflikte und
Abwehrformationen – zu erhalten, die an der Herausbildung des Wunsches nach
einer ästhetischen Genitaloperation beteiligt sein könnten: von präödipal nar
zisstischen Belastungen über ödipale Konflikte, die neurotisch verarbeitet werden,
© 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht
kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden.
DOI 10.18754/jf p.63.7
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie (…) 95
bis hin zu Traumafolgestörungen. Dabei interessierten uns insbesondere auch die
folgenden Fragen: In welchen Fällen lässt sich der Wunsch nach einem operativen
Eingriff als Ausdruck von Konflikten verstehen, die am besten therapeutisch bear
beitet werden können? In welchen Fällen erweist sich ein operativer Eingriff als
zielführend, um das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität der Patientin
nachhaltig zu verbessern?
1.1 Zur Vorgeschichte des Workshops
Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Fachbereich Gender
Studies der UZH beschäftige ich mich schon seit längerem mit unterschiedlichen
Formen von chirurgischen Eingriffen in den menschlichen Genitalbereich.
2 Aus
dieser Beschäftigung sind einerseits verschiedene interdisziplinäre Veranstaltungen
her vorgegangen
3, andererseits verschiedene Publikationen mit psychoanalyti
schem Fokus (z. B. Gsell, 2011, 2017; Gsell & Binswanger, 2012). Das Thema der
ästhetischen Chirurgie des weiblichen Genitales kam dabei immer etwas zu kurz,
weil bisher die psychoanalytischklinisch fundierten Grundlagen fehlten: Es gibt
zwar eine Fülle von Studien, die sich mit ästhetischer Genitalchirurgie aus medi
zinischer, medizinethischer, sozialpsychologischer, psychologischer sowie femi
nistischer, medien, kultur und gesellschaftskritischer Perspektive beschäftigen.
4
Psychodynamische Studien, die das Phänomen als Symptom von unbewussten
Konflikten und Konfliktlösungen untersuchen, gibt es bisher erstaunlicherweise
aber keine einzige.
5 Als ich vom Fachbereich Gender Studies der Universität Zürich
Carte blanche bekam, um einen Workshop zu organisieren, der ganz auf meine
eigenen Forschungsinteressen zugeschnitten war, entschied ich mich deshalb,
einen kleinen, auf maximal 8–10 Personen beschränkten, klinischen Workshop
zum Thema auszuschreiben. Im Zentrum sollten Fallvorstellungen stehen, und
es sollte viel Raum geben für die Diskussion des vorgestellten Materials. Es erwies
sich allerdings als schwierig, überhaupt praktizierende Psychoanalytiker:innen
und Psychotherapeut:innen zu finden, die entsprechende Fälle hatten und bereit
waren, diese vorzustellen. Weshalb, ist schwer zu sagen: Gibt es von den Tausenden
von Frauen, die sich jedes Jahr solchen Eingriffen unterziehen oder dies tun möch
ten, so wenige, die sich in psychoanalytischpsychotherapeutische Behandlung
begeben? Gibt es auf Seiten der Behandelnden eine Hemmung, diese Fälle vorzu
stellen? Oder fand mein Call zu wenig Verbreitung? Wie dem auch sei: Nach dem
zweiten Call hatte ich fünf Fallvorstellungen zusammen, und ich entschied mich,
den Referent:innen die Möglichkeit zu geben, weitere Expert:innen vorzuschla
gen, um unseren “Think Tank” zu vervollständigen. Schliesslich waren wir acht
96 Monika Gsell
Teilnehmende, alle haben einen psychoanalytischen Hintergrund und arbeiten
psychoanalytisch resp. psychotherapeutisch: Karin Dittrich (München); Elisabeth
Imhorst (Köln); Iris Nikulka (Frankfurt am Main), Wilhelm F. Preuss (Hamburg),
sowie ich selbst. Als Expert:innen konnten wir Susanne Benzel (Frankfurt am Main),
Ralf Binswanger (Zürich), sowie Andreas Weber Meewes (Hamburg) gewinnen.
1.2 Das Setting des Workshops
Der Workshop begann am FreitagNachmittag und dauerte bis Sonntag
Mittag. Für die Fallvorstellungen standen je 75 Minuten zur Verfügung (inklusive
Rückfragen und Diskussion), die von den vorstellenden Personen so gestaltet wer
den konnten, wie es ihnen entsprach. Nach jeweils zwei Fallvorstellungen fand
gemäss dem Vorschlag von Ralf Binswanger eine Rekapitulationsrunde statt, in
der die Personen, die sich mit ihrer Fallvorstellung exponiert haben, Rückmeldung
geben konnten dazu, wie sie die Diskussion zu ihrem Fall erlebt haben. Nach den
fünf Fallvorstellungen gab es zwei Diskussionsblöcke, in denen Gemeinsamkeiten
und Unterschiede der einzelnen Fälle herausgearbeitet wurden.
2 Fallvorstellungen und deren Diskussion
2.1 Fallvorstellung 1: Shalini
Bei der ersten Fallvorstellung handelte es sich um eine Patientin mit einer
traumatischen Familiengeschichte: Der Vater war Alkoholiker, der schwere Gewalt
gegenüber der Mutter und der älteren Schwester ausübte. Die Patientin selbst blieb
verschont, bis die ältere Schwester von zu Hause auszog. Als die Mutter den Vater
verliess, zog dieser nach Deutschland und nahm die damals 13jährige Patientin
mit. Diese musste von da an nicht nur die Gewalt des Vaters erdulden, sondern
neben der Schule für den Lebensunterhalt sorgen. Mit 21 Jahren wurde sie nach
einem dreimonatigen Klinikaufenthalt wegen schwerer Esssucht, hysteriformer
Symptomatik und dissoziativer Abwehr in ein ambulantes Setting überwiesen.
Nachdem es der Patientin im Verlaufe der insgesamt zehnjährigen Therapie gelang,
sich zu stabilisieren und ihre Esssucht unter Kontrolle zu bringen, entwickelte
sie den Wunsch, zu heiraten. Sie war religiös, wünschte eine Heirat mit einem
Mann, der derselben Ethnie und Religion angehörte, und hielt eisern am Gebot
fest, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Gleichzeitig entwickelte sie eine ästheti
sche Ablehnung ihres Körpers und war überzeugt, dass jeder Mann bei jeglicher
sexuellen Annäherung Abscheu und Ekel vor ihrem Körper empfinden würde.
Diese Ablehnung betraf vor allem die Körperhaut und das Genitale, das sie als
abstossend gross empfand. Die Analytikerin empfahl der Patientin eine Beratung
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie (…) 97
bei einer Gynäkologin, die zufälligerweise aus demselben Kulturkreis stammte wie
die Patientin. Die Gynäkologin scheint die Patientin beruhigt haben zu können mit
der Auskunft, dass man operieren könnte, falls sie das möchte, und dass es sich
um einen kleinen Eingriff handeln würde. Die Patientin schien das so verstanden
zu haben, dass ihre Schamlippen nicht besonders gross seien. Als die Patientin
kurze Zeit später einen Mann kennenlernte, der ihren Vorstellungen entsprach,
liess sie sich auf die Beziehung ein und gab auch ihr Jungfräulichkeitsideal auf.
Zusammen mit ihrer neu entdeckten Sexualität setzte langsam eine Veränderung
ihrer Selbstwahrnehmung und ihres körperlichen Erlebens ein. Eine ästhetische
Genitaloperation war kein Thema mehr. Aus der reichhaltigen Diskussion, die verschiedenste Aspekte der Sympto
matik und des Verlaufs der Analyse betraf, referiere ich hier lediglich diejenigen
Überlegungen, die sich auf die ästhetische Ablehnung der eigenen Vulva bezie
hen: Zum einen fiel auf, dass die Ablehnung des eigenen Genitales kein isolier
tes Phänomen war, sondern mit einer generellen ästhetischen Ablehnung ihres
Körpers einherging; zum anderen fiel auf, dass diese ästhetische Ablehnung erst
relativ spät in der Therapie überhaupt zu einem Thema wurde, nämlich genau in
dem Moment, in dem die Patientin bereit war, sich auf eine sexuelle Beziehung mit
einem Mann einzulassen; drittens fiel auf, dass sie ihre Ablehnung allem Anschein
nach genau so plötzlich wieder aufgeben konnte, wie sie aufgetreten war, und zwar
genau in dem Moment, in dem sie den für sie passenden Mann kennenlernte. Diese
Abfolge führte in der Diskussion zur Hypothese des «Moratoriums»: die ästhetische
Ablehnung des eigenen Genitales (und in diesem Fall auch des ganzen Körpers)
könnte als ein Schutzmechanismus verstanden werden, der es der zu diesem
Zeitpunkt ungefähr 30jährigen Frau erlaubte, sich die nötige Zeit zu verschaf
fen, um sich auf eine Beziehung einzulassen. Auffällig ist zudem, dass sie diesen
Reifeschritt in relativ kurzer Zeit bewältigen konnte, und dass der Besuch bei der
Gynäkologin dabei eine bedeutende Rolle gespielt haben könnte. Es wurde deshalb
die Hypothese aufgestellt, dass es den wohlwollenden Blick der Gynäkologin auf
das Genitale der Patientin brauchte, damit sie sich selbst als weiblich identifizieren
und annehmen konnte. Was der Patientin nebst der schweren, manifest deprivie
renden Kindheit möglicherweise zusätzlich fehlte, war, «als Mädchen gesehen» und
in ihrer Weiblichkeit bestätigt zu werden: der Vater hätte sich an ihrer Stelle einen
Jungen gewünscht (und hatte in ihr möglicherweise auch den gewünschten Jungen
gesehen); die Mutter war möglicherweise zu sehr beschäftigt mit dem Schutz von
sich selbst und der älteren Tochter, um die jüngere Tochter überhaupt zu «sehen».
98 Monika Gsell
Dieses Motiv des Blicks respektive des GesehenWerdens wird uns im Verlaufe des
Workshops immer wieder begegnen.
2.2 Fallvorstellung 2: Miranda
Bei der zweiten Fallvorstellung handelte es sich um eine 48jährige Patientin,
die sich wegen eines depressiven Zustandes mit schweren Schlafstörungen in ana
lytische Behandlung begab. Im Verlaufe der Behandlung stellte sich heraus, dass es
sich bei der aktuellen Krise um eine Art Neuauflage einer Krise handelte, welche
die Patientin zuerst in der Latenzzeit, dann in der Adoleszenz und ein drittes Mal
während ihres Studiums in den frühen Erwachsenenjahren erlebte, wobei die
bewusstseinsfähigen Inhalte und die Symptomatik jeweils unterschiedlich waren:
Die Patientin hatte sich mit acht Jahren ein Bein gebrochen und war lange bettlä
gerig gewesen. In dieser Zeit entwickelte sie ein VulvaEkzem. Um den quälenden
Juckreiz zu lindern, kratzte sie sich, bis sie wund war, und wenn das Kratzen zu
schmerzhaft wurde, zog sie die VulvaHaut nach oben, gegen den Bauch zu, was
ihr etwas Linderung verschaffte. Mit 13 Jahren «entdeckte» sie, dass ihre inneren
Schamlippen ganz faltig waren und hervorstanden. Diese Entdeckung war für sie
ein Schock: Sie war überzeugt, dass sie sich selbst durch das viele Kratzen und
Ziehen verunstaltet hatte. Wie schon beim Ekzem getraute sie sich nicht, sich
hilfesuchend an ihre Mutter oder sonst jemanden zu wenden. Sie verbrachte ihre
ganze Adoleszenz mit der Angst, nie ein normales Liebesleben und demzufolge
auch nie Kinder haben zu können. In der Hoffnung, «das» operieren zu können,
wandte sie sich mit 19 endlich an eine Gynäkologin – und erfuhr, dass sie eine
ganz normale Vulva hat. Sie begann zu studieren und entwickelte eine schwere
Schreibhemmung, die sie innerlich in eine ähnlich verzweifelte Lage versetzte
wie in der Adoleszenz. Auch diese Phase überwand sie. Sie wurde berufstätig,
heiratete und wurde Mutter von zwei Kindern. Die ältere der beiden Töchter tat
sich mit der Schule schwer. Als sie im Gymnasium ihre erste grössere selbständige
Arbeit hätte schreiben sollen, löste das bei der Patientin die oben beschriebene
Krise aus: Sie wollte ihre Tochter vor der Hilflosigkeit und Verzweiflung bewahren,
die sie selbst im Studium als traumatisch erlebt hatte, nahm ihr die Arbeit aus der
Hand und geriet in einen Teufelskreis aus Schuldgefühlen und Helfen Wollen.
Ein Traum war es schliesslich, der einen Zugang zu den inneren Konflikten und
Phantasien eröffnete, die sie auf ihre Tochter projizierte: Sie träumte, ihre Tochter
sei noch ein Baby und geistig behindert. Das Baby starb. Dann hielt sie es zärtlich
in den Armen und merkte: Es lebt, und es ist nicht geistig behindert, nur blind. Der
Analytikerin kommt dazu Freuds Gleichung Kind = Penis in den Sinn. Sie deutet
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie (…) 99
den Traum als Ausdruck der Phantasie, einen «behinderten» Penis zu haben, und
bringt diese Phantasie in Zusammenhang mit der adoleszenten Überzeugung der
selbstverschuldeten genitalen Verunstaltung. Die Diskussion beschäftigt sich zuerst mit dem Ekzem des achtjährigen
Mädchens. Es wird darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine Selbstdiagnose
handelt. Das Jucken, das das Mädchen zum «Kratzen» veranlasste, könnte aber
auch die Form gewesen sein, in der das Mädchen die genitale Erregung wahr
genommen hatte. Das Kratzen selbst könnte eine Ersatzhandlung für die – aus
inneren oder äusseren Gründen gehemmte – Masturbation sein. Ein weiterer
Schwerpunkt der Diskussion kreiste um die Kind = PenisDeutung: dass es sich
bei der Phantasie der (Selbst )Verstümmelung um einen klassischen Fall eines
weiblichen Kastrationskomplexes handelt, wird als eine überzeugende These wahr
genommen. Es entsteht eine Diskussion zum Konzept des Kastrationskomplexes
im Unterschied zum Konzept der weiblichen genitalen Ängste, und es wird dar
auf hingewiesen, dass der Schock in Anbetracht dessen, «wie das da unten aus
sieht», auch mit Ängsten in Bezug auf das Unfassbare des Körperinneren zu tun
haben könnte (und in diesem Sinn eben eher Ausdruck von genuinen weiblichen
genitalen Ängsten zu verstehen wäre). Und schliesslich wird auch hier wieder
auf die Bedeutung des Blicks verwiesen. Der befreiende Blick der Gynäkologin,
der wiederum die Frage aufwirft, ob dieses Mädchen von seiner Mutter in sei
ner Weiblichkeit, seiner Genitalität genügend gesehen und bestätigt wurde. In
diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass der weibliche
Kastrationskomplex kein allgemeines Phänomen sei, sondern vor allem bei
Mädchen auftrete, die keine genügend gute Beziehung zur Mutter hätten.
2.3 Fallvorstellung 3: Sophie
Es handelt sich um einen Fall aus einer Supervision. Die Patientin kam mit
ca. 30 Jahren in Behandlung. Grund dafür waren Depressionen und eine Fixierung
auf die seit einigen Monaten wiederkehrenden Scheidenpilzinfektionen: Immer
wieder prüft sie, ob «da unten» etwas nicht in Ordnung sei. Erst nachdem sie
bereits längere Zeit in Behandlung ist, gesteht sie, dass das Problem mit den
wiederkehrenden Scheidenpilzinfektionen erst angefangen habe, nachdem sie
sich mehreren ästhetischen Operationen im äusseren Genitalbereich unterzogen
hatte. – Die Patientin ist das Kind einer ausserehelichen Affäre ihrer verheira
teten Mutter. Sie hat eine ältere Schwester. Die Patientin hängt sehr an ihrem
gesetzlichen Vater. Er leidet an einer bipolaren Störung. Als sie fünf Jahre alt ist,
stirbt ihr leiblicher Vater, den sie nie gesehen hat und von dem sie erst jetzt etwas
100 Monika Gsell
erfährt. Als die Patientin acht Jahre alt ist und ihr Vater das Geschäft endgültig an
die Wand gefahren hat, trennen sich die Eltern. Von diesem Moment an nimmt ihr
Vater sie in Beschlag, und die Patientin wird sich von jetzt an immer wieder um ihn
kümmern. Den neuen Partner ihrer Mutter konnte sie zunächst nicht akzeptieren.
Mit 15 Jahren geht sie erstmals in eine Therapie, gewinnt Abstand vom Vater und
nimmt sexuelle Beziehungen auf. Mit 17 Jahren geht sie mit ihrer Mutter zum
Augenarzt um zu klären, ob man die von ihr als unterschiedlich gross empfundenen
Augen operieren könne (was dann nicht geschieht). Ihre bisherigen Beziehungen
zu Männern waren stets unbefriedigend: Sie versuchte, sich den Männern bis zur
Selbstaufgabe anzugleichen und wurde regelmässig verlassen. Die einzige befrie
digende Beziehung führte sie, als sie für längere Zeit auf einem anderen Kontinent
lebte. Beruflich war sie erfolgreich. Sie brach die Therapie ab, als sie verstanden
hatte, dass die Scheidenpilzinfektionen im Kontext von Beziehungsschwierigkeiten
auftraten, und indem sie ein Jobangebot in einer anderen Stadt annahm. Die fallvorstellende Supervisorin versteht die enge Beziehung zum (gesetz
lichen) Vater als Ausdruck einer sowohl narzisstischen als auch triebhaften
Besetzung des Vaters: «Ich bin ihm gleich und ich begehre ihn». Damit verbunden
sei auch die Phantasie einer homoerotischen Spiegelung durch den Vater, da ihr
eine solche von Seiten der Mutter wohl gefehlt habe. Man könne vermuten, dass
das unbewusste Körperbild der Patientin bisexuell sei; dieses bisexuelle Körperbild
und die Idee, gleich zu sein wie der Vater, konnte mit der Menarche möglicher
weise nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Hinweis der Schwester, sie sei so
erfolgreich in Liebesdingen, weil sie eine tolle Muschi habe, könnten der bewusst
seinsfähige Aufhänger gewesen sein, um ihre (unbewussten) genitalen Konflikte
mit der Bisexualität operativ zu lösen. Die der Patientin zufolge «überstehenden»
Schamlippen könnten (wie das auch archaische Venusfiguren nahelegen) als klei
ner Penis phantasiert worden sein. Die Genitaloperationen könnten als unbe
wusster Versuch verstanden werden, den phantasierten Penis loszuwerden, ganz
weiblich zu werden, eine Vereindeutigung auf der somatischen Ebene herzustellen,
weil es auf der Ebene der Identität etwas VerwirrendUneindeutiges gab. In der Diskussion wird, auch mit Bezug auf die ersten beiden Fallvignetten,
auf eine alternative Interpretationsmöglichkeit verwiesen: In allen drei bisher prä
sentierten Fällen könnten wir es mit einem abgewehrten Hass auf die enttäu
schende Mutter zu tun haben. Könnte es sein, dass das Mütterliche am eigene\
n
Körper bekämpft wird? Dass das, was «da unten» hervorsteht, das «Böse» ist, das
aus dem eigenen Körper hervorkommt?
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie (…) 101
2.4 Fallvorstellung 4: Huberta
Es handelt sich um eine 20 jährige depressive Patientin, die mit ca. 16 Jahren
bei derselben Therapeutin schon einmal wegen Anorexie in Behandlung war.
Heute ist sie eine normalgewichtige, kräftige Person. Sie beansprucht für sich
eine «fluide Geschlechtsidentität» und trägt gerne Männersporthosen und weite
Karohemden. – Vorgelegt und diskutiert wird das Protokoll der 98. Stunde aus der
zweiten Therapiephase, in der die Patientin die Therapeutin mit der Ankündigung
überrumpelt, sie werde sich ihre «Vulvalippen» operieren lassen: Sie denkt, dass
sie zufriedener wäre, «wenn da nichts überstehen würde». Und weiter: «Wenn
ich vor dem Spiegel stehe, sieht es nicht in sich geschlossen aus, nicht wie eine
geschlossene Muschel, wie es sein sollte, sondern die inneren Vulvalippen schauen
raus. Seit ich das gesehen habe, geht es mir nicht mehr aus dem Kopf. Es ist wie
eine fixe Idee. Es soll einfach weg sein. Am liebsten würde ich sie mir rausreissen».
Die Therapeutin berichtet, dass sie diese Ankündigung in für sie sonst unüblicher \
Weise schockierte und verwirrte. Die Einfälle der Gruppe zum Stundenprotokoll lassen sich folgender
massen synthetisieren: Das Stundenprotokoll zeigt das Bild einer herausfordern
den Patientin, die mit der Abgrenzung gegenüber einer Mutter kämpft, die ihr zu
nah kommt (mit ihr kuscheln will) und ihre Tochter als Selbstobjekt besetzt. Dieses
Ringen um die richtige Nähe und Distanz dominiert auch die Stundendynamik,
wobei die Patientin die Rollen in Form einer projektiven Identifikation verkehrt:
Jetzt ist sie es, die der Therapeutin zu nahekommt und beobachtet, ob und wie es
der Therapeutin gelingt, mit dem NäheDistanzProblem fertig zu werden. Sie tut
das mit einem Traum, in dem sie mit der Therapeutin eng umschlungen im Bett
liegt. Dem Traum vorangegangen ist ein Streit mit der Mutter: Die Tochter hatte
Bauchweh, wollte, dass ihr die Mutter eine Wärmflasche bringt, und warf ihr die
leere Wärmflasche an den Kopf. Die Mutter kam mit der gefüllten Wärmflasche
zurück, warf sie schimpfend nach der Tochter und verlangte, diese solle sich ent
schuldigen. Nachdem sich die Tochter entschuldigt hatte, wollte die Mutter sich
zur Tochter ins Bett legen und mit ihr kuscheln – was die Patientin (in Identifikation
mit der Therapeutin, der es gelingt, das Intrusive der Patientin in Schach zu hal
ten) aber erfolgreich verweigern konnte. Scheinbar verärgert über die (gesunde)
Distanzierung der Therapeutin, wirft die Patientin ihr jetzt die Bemerkung über die
geplante «Vulvalippenkorrektur» an den Kopf (so wie der Mutter die Wärmflasche).
Die Therapeutin fühlt sich überrumpelt, ist verwirrt, es gelingt ihr aber, sich zu
fangen und mit der Patientin darüber ins Gespräch zu kommen, worum es «da
unten» eigentlich geht. Mit anderen Worten: Was am Abend zuvor mit der Mutter
102 Monika Gsell
misslang (ein Gespräch über «Bauchweh»), gelingt jetzt in der Therapie, gerade
weil die Therapeutin das Verführungsangebot (mit der Patientin zu kuscheln, sie
zu umarmen) zurückgewiesen hat: Jetzt kann man darüber reden, was «da unten»
los ist, was «Bauchweh» macht und wie man damit fertig werden könnte. Zu diesen Einfällen in der Gruppe ergänzt die Therapeutin bestätigend
und präzisierend: Sie selbst habe die Idee der Schamlippenkorrektur als An griff
auf das Mütterliche im Eigenen verstanden. In der ÜbertragungsGe gen über
tragungsdynamik habe sie Hubertas Ankündigung in der Stunde effektiv als einen
körperlichen Angriff erlebt. Es geht ihrem Verständnis nach um den Hass auf die
Mutter, die «alles hat», und sie, das Kind, nicht richtig ausgerüstet hat. Huberta
weiss, dass sie auf etwas verzichten muss, aber sie weiss nicht auf was. Deshalb
macht sie es konkretistisch am Körper fest: «da steht etwas über». Das «hässliche
Genitale» repräsentiert den hassbesetzten Anteil der Mutter.
2.5 Fallvorstellung 5: Margarita
Eine 30jährige, weiblich identifizierte Person kam mit dem Wunsch einer
operativen MannzuFrauAngleichung in Behandlung. Zwei Jahre später konnte
die entsprechende Indikation gestellt und die Transformation eingeleitet wer
den. Nach der grossen Operation wirkte die Patientin erleichtert, klagte dann
aber über eine «hässliche» Asymmetrie im Bereich ihrer NeoVulva und kam
mit einem Bademantel in die ambulante Sprechstunde, was als Ausdruck ihrer
Pflegebedürftigkeit verstanden wurde. Der Therapeut befürchtete, in eine Spirale
ständig neuer Korrekturwünsche zu geraten, wie es bei bestimmten operierten
Transsexuellen manchmal der Fall ist, und stellte die Indikation zur plastischästhe
tischen Korrektur nur mit Bedenken. Das Resultat führte aber zu einer anhaltenden
Entlastung. Die Patientin war glücklich, ein Genitale «wie ein Mädchen» zu haben,
und begann, extrem aufreizende Teenager Kleidung zu tragen. Der Therapeut
fürchtete zunächst, sie wolle sich prostituieren, verstand mit der Zeit aber, dass
die Patientin damit ihre Teenager Zeit nachholen wollte. Sie liess sich dann auf
eine intensive, nichtsexuelle Beziehung mit einem prädementen Nachbarn ein,
den sie pflegte. Erst jetzt war es ihr möglich, in der Therapie über ihre traumati
sche Kindheit zu sprechen, in der sie – als einziger Junge von vier Kindern – von
der Mutter körperlich schwer misshandelt wurde (der Vater war aus beruflichen
Gründen fast immer abwesend). Jetzt konnte sie auch offenlegen, dass sie schon
länger einen Schmerzmittelabusus betrieb. Die Aufnahme in eine psychiatrische
Klinik zur Entwöhnung bzw. zur TraumaTherapie lehnte sie mit der Begründung
ab, sie müsse ihren Nachbarn pflegen.
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie (…) 103
Eine Hypothese, die sich in der Diskussion herauskristallisierte, betraf die
unterschiedlichen Bedeutungen der beiden Operationen. Die erste, geschlechtsan
gleichende Operation könnte (in Analogie zu entsprechenden Erfahrungen von
Teilnehmenden) als ein SichneuGebären verstanden werden, als ein unbewusster
Versuch, die schrecklichen Jahre der Kindheit hinter sich zu lassen – oder aber
als Versuch, in demjenigen Geschlecht anzukommen, das die Mutter sich (im
Erleben der Patientin) wünschte. Die zweite, kosmetische Operation könnte als
ein Akt der Selbstermächtigung verstanden werden, mit dem die Patientin sich
darüber versicherte, dass alles genau so ist, wie sie es wollte. Deshalb konnte sie
möglicherweise erst nach der zweiten Operation die Traumatisierung und den
Schmerzmittelabusus offenlegen und ihre Teenager Jahre gleichsam nachholen.
Eine zweite Hypothese betraf die Frage, ob die Transidentität als Resultat oder
Lösungsversuch der traumatischen Kindheit zu verstehen ist, also als psychogen
bzw. als «transsexuelle Lösung» (Preuss, 2021, S. 89), oder als eine «konstitutio
nelle Transsexualität» im Sinne einer «Prägung» Richtung «Transsexualität per
se» (Binswanger, 2021b), und somit nicht als psychogen. Der Therapeut selbst
geht beim vorliegenden Fall davon aus, dass beide Faktoren eine Rolle spielen
könnten, letztlich aber nicht mehr erkennbar ist, ob es sich eher um eine «genuine
Transidentität» handelt oder doch mehr um eine «transsexuelle Lösung», bei der
die traumatische Kindheit eine Rolle spielte.
3 Schlussüberlegungen: Erste Hypothesen
Ein wichtiges Ziel des Workshops wurde erreicht, nämlich: ein möglichst
vielfältiges Bild der psychischen Prozesse zu erhalten, die an der Herausbildung des
Wunsches nach einer ästhetischen Genitaloperation beteiligt sind. Denn die fünf
vorgestellten Fälle erweisen sich hinsichtlich der Bedeutung und Funktion, die dem
Wunsch zukommen, als äusserst unterschiedlich. Rückblickend möch\
te ich auch
noch einmal die Frage aufgreifen, die für mich bei der Konzeption des Workshops
ebenfalls zentral war: Welche – wie auch immer hypothetischen – Einsichten lassen
sich aus den fünf Fällen bezüglich der Bedingungen und Voraussetzungen ableiten,
unter denen eine ästhetische Genitaloperation das psychische Wohlbefinden der
Patientin nachhaltig zu verbessern vermag oder eher nicht? Dazu möchte ich zunächst zwei Thesen formulieren. Bei den Thesen han
delt es sich um eine Ableitung aus dem dialektischen Modell, das Ralf Binswanger
in einem anderen thematischen Zusammenhang entwickelt hat (2021b).
6
Die erste These lautet: Jeder Wunsch nach einer ästhetischen Genital
ope ration bildet psychodynamisch betrachtet eine widersprüchliche Einheit
104 Monika Gsell
von integra tiven Funktionen und Abwehrfunktionen. Das heisst: Ich gehe aus
methodischen Gründen zunächst davon aus, dass bei der psychischen Genese
des Wunsches nach einer ästhetischen Genitaloperation immer beide Funktionen
beteiligt sind. Das öff net bei der klinischen Arbeit mit entsprechenden Patientinnen
den Blick und hilft, zusammen mit der Patientin zu elaborieren, ob ein entspre
chender Eingriff das Po tenzial hat, nachhaltig zur Verbesserung des psychischen
Wohlbefindens beizutragen oder eher nicht. Unter «integrativen Funktionen»
verstehe ich Massnahmen, die psychische Weiterentwicklung ermöglichen oder
fördern (vgl. Binswanger, 2021b, S. 88), unter «Abwehrfunktionen» verstehe ich
Massnahmen, die z. B. narzisstische Entwicklungsdefizite plombieren oder neu
rotische Konfliktlösungen inszenieren statt zu ihrer Lösung beizutragen (vgl.
Binswanger, 2021b, S. 93). Die zweite These lautet: Wenn der Wunsch nach einer ästhetischen Genital
operation primär im Dienste von integrativen Funktionen steht, könnte ein ent
sprechender Eingriff tatsächlich das Potenzial haben, das psychische Wohlbefinden
nachhaltig zu verbessern. Wenn der Wunsch hingegen primär im Dienste von
Abwehrfunktionen steht, dürfte das eher nicht der Fall sein. Wenn ich das im Workshop präsentierte Fallmaterial nun unter dem Ge
sichtspunkt dieser zwei Thesen diskutiere, so möchte ich betonen, dass dies rein
hypothetischen Charakter hat. Das heisst: Ob die vorgenommene Zuordnung sich
für die jeweiligen Fälle im Einzelnen tatsächlich bestätigt, muss hier offengelassen
werden. An dieser Stelle geht es nur darum, einen ersten methodischen Vorschlag
zur Klärung der Frage «Operation – ja oder nein?» zur Diskussion zu stellen. Es gibt zwei Fälle, bei denen die Frage «nachhaltige Verbesserung – ja
oder nein?» klar zu beantworten ist: Im Fall von Margarita hat die ästhetische
Operation der Schamlippen zu einer deutlichen Verbesserung des psychischen
Wohlbefindens beigetragen. Indiz dafür ist, dass es erst nach dieser Operation
mög lich war, das KindheitsTrauma psychotherapeutisch zu bearbeiten und
den MedikamentenAbusus offenzulegen. Der Wunsch stand im Dienste der
Sta bilisierung der Geschlechtsidentität und hatte damit – wie der Wunsch nach
Geschlechtsangleichung – primär eine integrative Funktion. Bei Miranda wiederum scheinen relativ klar primär Abwehrfunktionen
am Wunsch nach einer Genitaloperation beteiligt gewesen zu sein: Die adoles
zente Phantasie der selbstverschuldeten Verunstaltung der eigenen Vulva kann
als Symptom eines ungelösten Kastrationskomplexes verstanden werden und
hat neurotischen Charakter. Nachdem die Phantasie einer Realitätsprüfung
unterzogen wurde, konnte sie aufgegeben werden. Der unbewusste Konflikt war
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie (…) 105
damit aber nicht bearbeitet, weshalb es zu einer Symptomverschiebung kam
(Schreibblockade). Es ist zu vermuten, dass eine Genitaloperation – hätte Miranda
sich einer solchen unterzogen (sei dies, dass sie sich mit ihrem Wunsch direkt
an eine:n Schönheitschirurg:in gewendet oder aber die Gynäkologin sie in ihrer
Phantasie, dass «dort unten etwas nicht stimmt» bestätigt hätte) –, zu keiner n\
ach
haltigen Verbesserung des psychischen Wohlbefindens beigetragen hätte. Beim Fall Sophie scheint es mir etwas schwieriger, klare Hypothesen abzu
leiten. Grund dafür könnte sein, dass er irgendwo zwischen dem Fall Margarita und
Miranda steht: Wie bei Margarita sind die Operationen vor Beginn der Behandlung
durch geführt worden. Die Hypothese der fallvorstellenden Supervisorin könnte
da
rauf verweisen, dass die Genitaloperationen bei Sophie im Dienste einer
inte grativen Funktion standen (Stabilisierung der Geschlechtsidentität durch
ei ne Vereindeutigung des unbewusst bisexuellen Körperbildes auf somatischer
Ebene). Für eine integrative Funktion spräche zudem, dass sich Sophie – wie auch
Margarita – nach den Operationen auf eine aufdeckende Psychotherapie einlas
sen konnte. Dasselbe Material liesse sich aber auch im Sinne einer oder mehrerer
Abwehrfunktionen verstehen: Auf der narzisstischpräödipalen Ebene könnte es
sich um einen Versuch gehandelt haben, ein unbewusstes bisexuelles Körperbild
durch die Abspaltung nicht integrierbarer Geschlechtskomponenten zu «verein
deutigen». Auf der neurotischödipalen Ebene könnte es sich um den Versuch
gehandelt haben, ödipale Schuldgefühle abzuwehren (den geraubten väterlichen
Phallus, der unten «übersteht», loszuwerden). Nehmen wir an, dass sowohl inte
grative als auch Abwehrfunktionen eine Rolle spielten bei Sophies Wunsch nach
einer Genitaloperation, so können wir weiter fragen: Gibt es ein Indiz, das dafür
spricht, dass der einen oder der anderen Funktion das Primat zukommt? Für ein
Primat von Abwehrfunktionen spricht m. E., dass die Operationen nicht zu einer
nachhaltigen Verbesserung des psychischen Wohlbefindens führten. Im Gegenteil:
Sophie litt jetzt an wiederkehrenden Scheidepilzinfektionen und war (weiterhin)
darauf fixiert, ständig zu prüfen, «ob dort unten etwas nicht gut ist». Die beiden Fälle Huberta und Shalini schliesslich unterscheiden sich von
denjenigen von Margarita, Miranda und Sophie insofern, als das Thema der ästhe
tischen Genitaloperation nicht schon vor der psychotherapeutischen Behand lung
eine Rolle spielte, sondern in beiden Fällen erst im Verlaufe des therapeutischen
Prozesses und scheinbar etwas unvermittelt auftaucht. In diesen beiden Fällen
geht es m.E. nicht zentral um die Frage «Operation – ja oder nein?». Im Zentrum
steht hier vielmehr die Dynamik des analytischen Prozesses: Es geht darum, zu
verstehen, was das Thema für den therapeutischen Prozess bedeutet. Bei beiden
106 Monika Gsell
Fällen kann man sagen, dass die Art und Weise, wie das Thema aufgekommen
und behandelt worden ist, progressive und integrative Wirkung hatte: Hubertas
unbewusster, an die Therapeutin gerichteter Wunsch ist es, ihr Genitale libidi
nös – oder vielleicht präziser: autoerotisch – besetzen zu können. Sie will mit der
Therapeutin ins Gespräch kommen darüber, was «dort unten» eigentlich los ist.
Das gelingt ihr mit ihrer provokativen Äusserung des Wunsches nach einer ästheti
schen Operation. Der Wunsch nach einer libidinös autoerotischen Besetzung des
eigenen Genitales steht im Dienste der Aufrichtung der Autonomie (prägenital
narzisstische Ebene), die bisher durch die Funktion, Mutters Dildo (autoerotisches
Selbstobjekt) sein zu müssen, schwerstens behindert war. Dieser Wunsch hat dem
nach eine integrative Funktion. Auch bei Shalini steht der Wunsch nach einer ästhetischen Genitalope
ration primär im Dienste der integrativen Funktion innerhalb des therapeutischen
Prozesses: Die an einem ganz bestimmten Punkt sich manifestierende generelle
ästhetische Ablehnung ihres Körpers, inklusive des Genitales, kann als Ausdruck
der traumatisch bedingten Fixierung auf eine narzisstische Position verstanden
werden. Die therapeutische Bearbeitung dieser Ablehnung ermöglichte den Sprung
von der narzisstischen Stufe auf die genitale Stufe der Entwicklung. Die Frage nach
der Operation scheint sich damit erübrigt zu haben.
4 Fazit Die Frage nach dem Primat von integrativen respektive Abwehrfunktionen
kann sich also auf zwei verschiedene Fragestellungen beziehen und für deren
Beantwortung Orientierung geben: Einerseits in Situationen, in denen die Frage
«Operation – ja oder nein?» im Zentrum steht, anderseits in psychotherapeutischen
Situationen, in denen der Wunsch nach Genitalchirurgie die Dynamik prägt.
Anmerkungen
1 Ich bedanke mich bei den WorkshopTeilnehmenden ganz herzlich für ihre Dis
kussionsBeiträge und ihr Einverständnis dazu, diese für den WorkshopBericht zu verwen
den. Ganz besonders danke ich den Referent:innen für die Bereitschaft, ihren Fall vorzustellen
und dessen zusammenfassende Darstellung für diesen WorkshopBericht zu prüfen und
freizugeben. Ralf Binswanger danke ich dafür, dass er mir seine Notizen zum Workshop
zur Verfügung stellte und mit mir meine nachbereitenden Hypothesen diskutierte. Markus
Zürcher danke ich für die kritische Durchsicht des Berichtes.
2 Vgl. dazu den Arbeitsschwerpunkt ReConstructing Sex des Lehrstuhls Gender Studies
und Islamwissenschaft: https://www.aoi.uzh.ch/de/genderstudies/forschung/researchprofil.
html#ReConstructing_Sex_.
3 So z. B. eine Lehrveranstaltung zum Thema Intersexualität (in Kooperation mit dem
Kinderarzt Dr. med. Jürg Streuli), ein Seminar zu verschiedenen Eingriffen wie geschlechts
Psychodynamische Aspekte der ästhetischen Chirurgie (…) 107
angleichende Operationen, geschlechtsvereindeutigende Operationen, männliche und
weibliche Beschneidung (in Kooperation mit der Soziologin Dr. Kathrin Zehnder) und eine
internationale, interdisziplinäre Tagung mit dem Titel The Surgical ReConstruction of Sex.
4 Ich beschränke mich hier auf die Nennung einiger weniger, einschlägiger, neuerer
Publikationen, über die man einen guten Überblick zum Stand der Diskussion und zu weiter
führender Literatur erhält: Borkenhagen (2019), Creighton & Liao (2019), Koops et al. (2021).
Erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch meine eigene, zusammen mit Regula Umbricht
durchgeführte empirische Studie, in der wir mittels einer OnlineUmfrage die Zunahme
chirurgischer Eingriffe am äusseren weiblichen Genitale in der Schweiz zwischen 1992 und
2012 untersuchten, und zwar differenziert nach funktionalen, psychischen und ästhetischen
Gründen. Das interessanteste Ergebnis dieser Studie betraf die empirischen Hinweise darauf,
dass sich eine klare ästhetische, funktionelle oder psychologische Indikationsstellung im
klinischen Alltag als schwierig erweist und es einen Bedarf an Instrumenten gibt, welche die
Indikationsstellung erleichtern und verbessern helfen (Umbricht & Gsell, 2016).
5 Zur Psychodynamik der Schönheitschirurgie generell gibt es hingegen einige fall
basierte Arbeiten, vgl. etwa Lemma (2010), Lijtmaer (2010) oder Umbricht & Umbricht (2010).
6 Das Modell, das Binswanger (2021b) zur Orientierung im Bereich von klinischen
Phänomenen die Geschlechtsidentität betreffend vorschlägt, ist seinerseits eine Adaption des
von Binswanger (2021a) vorgeschlagenen Modells zur Orientierung im Feld von Phänomenen
und Diskursen die Sexualität betreffend.
Literatur
Binswanger, R. (2021a). Mehr Klarheit beim Reden über Sexualität. Zeitschrift für Sexualforschung, 34, 5–27.
Binswanger, R. (2021b). Sexualität und Gender: Das gleiche Modell für beides? texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik, 41, 78–98.
Borkenhagen, A. (2019). Psychosoziale Aspekte der kosmetischen Intimchirurgie des weiblichen Genitales. In U. Mirastschijski (Hrsg.), Intimchirurgie
(S. 43–47). Springer.
Creighton, S. & Liao, L. (Hrsg.). (2019). Female Genital Cosmetic Surgery: Solution to What Problem? Cambridge University Press.
Gsell, M. (2011). Aufschneiden, Einschneiden, Spalten, Löchern. Männliche Prak tik en der Überwindung von Differenz aus psychoanalytischer Perspektive.
In M. Läubli & S. Sahli (Hrsg.), Männlichkeiten denken. Aktuelle Perspektiven
der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies (S. 125–149). Transcript.
Gsell, M. (2017). Desexualisierung von nichtverwendbaren Triebregungen? Das Beschneidungsritual der westafrikanischen Kono aus psychoanalytischer
Perspektive. Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik,
78 (34/1), 81–105.
Gsell, M. & Binswanger, R. (2012). Psychosexuelle Entwicklung und Ge schlechts
identität unter intersexuellen Konditionen. In K. Schweizer & H. Richter
Appelt (Hrsg.), Intersex kontrovers: Fakten, Erfahrungen, Positionen (S. 371–
392). PsychosozialVerlag.
108 Monika Gsell
Koops, T. U., Wilkinson C., Perry G., Wilkinson S. & Silverio S.A. (2021). Making the Cut: Mass Media and the Growing Desire for Genital Cosmetic Surgery by
Young Women and Girls. In Ch. Mayer, E. Vanderheiden E. & P. T. P. Wong
(Hrsg.), Shame 4.0. (S. 193–212). Springer.
Lemma, A. (2010). Copies Without Originals: The Psychodynamics of Cosmetic Surgery. Psychoanalytic Quarterly, 79(1), 129–157.
Lijtmaer, R. (2010). The Beauty and the Beast Inside: The American Beauty – Does Cosmetic Surgery Help? Journal of the American Academy of Psychoanalysis,
(38), 203–217.
Preuss, W. F. (2021). Geschlechtsdysphorie, Transidentität und Transsexualität im
Kindes- und Jugendalter. Ernst Reinhardt Verlag.
Umbricht, R. & Gsell, M. (2016). Surgical Interventions on the External Female Ge nitalia in Switzerland/Chirurgische Eingriffe am äusseren weiblichen
Ge n itale in der Schweiz (deutsche Originalversion). Geburtshilfe und Frau-
en heilkunde, 76, 1–7.
Umbricht, R. & Umbricht, Th. (2010). Psychoanalyse und Plastische Chirurgie: Der Körper als Verwandlungsobjekt. Zur Psychodynamik schönheits
chirurgischer Eingriffe. In H. Böker (Hrsg.), Psychoanalyse im Dialog mit
den Nachbarwissenschaften (S. 301–322). PsychosozialVerlag 2010.
Angaben zur Autorin
Monika Gsell ist Psychoanalytikerin in eigener Praxis, wissenschaftliche
Mit arbeiterin im Fachbereich Gender Studies der Universität Zürich und Her
aus geberin der Judith Le SoldatWerkausgabe. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten
und Publikationen siehe https://www.aoi.uzh.ch/de/genderstudies/personen/
wissmitarb/genderstudies/gsell.html. Korrespondenzadresse:
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