Schwerpunkt

Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien

Die Position der Frauen in der Psychoanalyse ist vielfältig: Es gab die berühmten Patientinnen. Es gab die Pionierinnen, die in gesellschaftlich schwierigen Zeiten ihren Weg zur Psychoanalyse finden mussten, was oft mit dem Verzicht auf ein eigenes Familienleben verbunden war. Und Psychoanalytikerinnen spielten in der kritischen Auseinandersetzung um die Weiblichkeitstheorien Freuds in den 1920er und 1930er Jahren eine zentrale Rolle. Durch das Naziregime und seine Folgen wurde auch diese legendäre Debatte brutal unterbrochen. 40 Jahre danach, mit dem Erstarken der Frauenbewegung in den 1970er Jahren, wurde der Diskurs um die Weiblichkeitstheorien in der Psychoanalyse wieder aufgenommen und weiterentwickelt. 1971 bekamen auch die Schweizer Frauen das Stimm- und Wahlrecht, und ich begann am PSZ die psychoanalytische Ausbildung und ging auch an die berühmten Veranstaltungen der sogenannten «Plattform», einer Gruppe linker, institutionskritischer, vor allem junger KollegInnen, von denen sich die meisten in psychoanalytischer Ausbildung befanden oder sich für die Psychoanalyse interessierten.

Freuds Konzepte der Triebentwicklung, zu der auch die Theorie des Penisneides und des Kastrationskomplexes der Frau gehörte, wurde damals nicht kritisch hinterfragt. Sie gehörten sozusagen zum undiskutierten gewachsenen Felsen der psychoanalytischen Theorie. Die bekannte argentinische Psychoanalytikerin Marie Langer war die erste Person, die am Seminar offen und deutlich diese Theorien in Frage stellte. Für mich bedeutete das eine Aufforderung (eine Erlaubnis?) zum Anders- und Weiterdenken. 1979/80 entstand eine erste Frauengruppe mit Goldy Parin. 1991 wurde der Arbeitskreis für feministische Psychoanalyse gegründet. Mit Psychoanalytikerinnen und psychoanalytisch orientierten Wissenschaftlerinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sich einmal im Jahr treffen, wird seitdem die Thematik erweitert und vertieft. Das kritische Bewusstsein um Weiblichkeits- und Genderthemen verankerte sich schliesslich auch im PSZ.


Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 6–27 Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien Eine persönliche «tour d’horizon» Ita Grosz-Ganzoni (Zürich) Zusammenfassung: Die Position der Frauen in der Psychoanalyse ist vielfäl- tig: Es gab die berühmten Patientinnen. Es gab die Pionierinnen, die in gesell- schaftlich schwierigen Zeiten ihren Weg zur Psychoanalyse finden mussten, was oft mit dem Verzicht auf ein eigenes Familienleben verbunden war. Und Psychoanalytikerinnen spielten in der kritischen Auseinandersetzung um die Weiblichkeitstheorien Freuds in den 1920er und 1930er Jahren eine zentrale Rolle. Durch das Naziregime und seine Folgen wurde auch diese legendäre Debatte brutal unterbrochen. 40 Jahre danach, mit dem Erstarken der Frauenbewegung in den 1970er Jahren, wurde der Diskurs um die Weiblichkeitstheorien in der Psychoanalyse wieder aufgenommen und weiterentwickelt. 1971 bekamen auch die Schweizer Frauen das Stimm- und Wahlrecht, und ich begann am PSZ die psychoanalytische Ausbildung und ging auch an die berühmten Veranstaltungen der sogenannten «Plattform», einer Gruppe linker, institutionskritischer, vor allem junger KollegInnen, von denen sich die meisten in psychoanalytischer Ausbildung befanden oder sich für die Psychoanalyse interessierten. Freuds Konzepte der Triebentwicklung, zu der auch die Theorie des Penisneides und des Kastrationskomplexes der Frau gehörte, wurde damals nicht kritisch hinterfragt. Sie gehörten sozusagen zum undiskutierten gewachsenen Felsen der psychoanalytischen Theorie. Die bekannte argentinische Psychoanalytikerin Marie Langer war die erste Person, die am Seminar offen und deutlich diese Theorien in Frage stellte. Für mich bedeutete das eine Aufforderung (eine Erlaubnis?) zum Anders- und Weiterdenken. 1979/80 entstand eine erste Frauengruppe mit Goldy Parin. 1991 wurde der Arbeitskreis für feministische Psychoanalyse gegründet. Mit Psychoanalytikerinnen und psychoanalytisch orientierten Wissen schaft- lerinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sich einmal im Jahr treffen, wird seitdem die Thematik erweitert und vertieft. Das kritische Bewusstsein um Weiblichkeits- und Genderthemen verankerte sich schliesslich auch im PSZ. © 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. D OI 10.1875 4/jf p.6 3 . 2 Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 7 Schlüsselwörter: Pionierinnen der Psychoanalyse, Geschichte der Weib lich­ keitstheorien, die Rechte der Frauen in der Schweiz, Weiblichkeits­ und Gen­ der themen am PSZ. Die Psychoanalyse hat immer auch mit sozialpolitischen Verhältnissen zu tun, in denen ihre Theorien und Techniken entwickelt werden. Einerseits war und ist sie von den sie umgebenden Verhältnissen beeinflusst, anderseits gelingt es ihr zeitweise auch dieselben zu beeinflussen. Beispielhaft zeigt sich dies an der Rolle der Frauen in der Psychoanalyse und dem Thema der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien. 1 Die Geschichte der Position der Frauen in der Psychoanalyse, ihre Rolle in der ersten Kontroverse um die Freudschen Weiblich keits­ theorien in den 1920er und 30er Jahren und bei der Wiederaufnahme der Auseinandersetzung in den 1960er und 70er Jahren 1902 wurde in Wien die sogenannte «Mittwochgesellschaft» als reiner Männerbund um den charismatischen Arzt Sigmund Freud gegründet. 1906 hatte der Kreis 17 Mitglieder, noch ausschliesslich Männer. Dass es sich dabei um eine reine Männergruppe handelte, war damals nicht aussergewöhnlich. Viel ausserge­ wöhnlicher war, dass rasch auch Frauen dazu kamen und ihre Ideen und Beiträge geschätzt wurden. Lou Andreas­Salomé möchte ich dabei besonders hervorheben. Ihre Beiträge zur Psychoanalyse im Tagebuch «In der Schule bei Freud» und in ihrem Briefwechsel mit Freud werden heute wenig erwähnt. Freuds Interesse an ihrem Urteil zu seinen Arbeiten findet sich in vielen seiner Briefe. «Ihre Bemerkungen zum Narzissmus nehme ich nicht als Einwände», schrieb er zum Beispiel, «sondern als Anweisungen, weitere begriffliche und sachliche Aufklärungen zu versuchen. Ich gebe Ihnen recht, ohne die so aufgeworfenen Probleme lösen zu können» (Pfeiffer, 1966, S. 29). Man könnte das als charmante Antwort Freuds abtun, der von der attraktiven Lou­Andreas­Salomé fasziniert war. Doch würde man dieser kritischen Denkerin damit in keiner Weise gerecht. Lilli Gast betont in ihrem Beitrag «Subjektwerdung und Geschlechtskonstitution» (1996), dass Lou Andreas­Salomé im Zusammenhang mit dem psychoanalytischen Begriff des Triebes, der ja als psychische Repräsentanz einer innersomatischen Reizquelle verstanden wird, präzis formulierte, dass der Trieb den Kreuzungspunkt des Physischen und Psychischen markiere, über den hinaus sich die Psychologie nicht weiter rückwärts treiben lässt. Der Trieb ist also bereits Resultat einer Übersetzungsleistung und nicht vorgängig. 8 Ita Grosz-Ganzoni Lou Andreas ­Salomé war eine längst bekannte Schriftstellerin und hatte sich als Verfasserin einer Studie über Nietzsches Philosophie einen Namen gemacht, als sie, 50­jährig, zur Psychoanalyse fand. Sie war eine der ersten Frauen, die sich dieser jungen, zunächst suspekten Bewegung anschloss. 1911 kam es zur ersten Begegnung mit Freud am 3. Psychoanalytischen Kongress in Weimar. Im Anschluss daran begann 1912 ein Briefwechsel mit der Bitte von Lou Andreas­Salomé, für eine psychoanalytische Ausbildung zu Freud nach Wien kommen zu dürfen. Für beide war der fast zwei Jahrzehnte dauernde schriftliche Dialog be deu sam, in dem Lou Andreas­Salomé alle theoretischen Kontroversen in der ihr eigenen vorsichtigen, aber entschiedenen Weise thematisierte. Die inten­ sive Zusammenarbeit in Form einer regelmässigen Korrespondenz zwischen Wien und Göttingen begann in einer Schaffensphase Freuds, bei der die analyti­ schen Grundelemente bereits als gesichert galten. Er konzentrierte sich nun auf die Verfeinerung und Modifizierung seiner Lehre. Allerdings war dieser Prozess begleitet von öffentlicher Diskriminierung, schmerzlicher Auseinandersetzung mit ehemaligen Mitstreitern und ersten An zeichen unheilbarer Krankheit. In dieser Bedrängnis war ihm die zuverlässige Freundschaft mit Lou Andreas­Salomé ein unentbehrlicher Rückhalt. Er schätzte sie gerade auch als scharfsinnige «Richterin». Sie verfolgte denn auch kritisch die theoretischen Kontroversen und Trennungen Freuds mit Alfred Adler und später mit C.G. Jung; und sie erlebte zudem die Entwicklung des Konflikts zwischen Freud und Tausk, mit dem sie sehr befreun­ det war. Nicht nur ihre persönlichen Eindrücke aus der Zeit in Wien, auch eigene Überlegungen zu den Themen und Entwicklungen in Freuds psychoanalytischer Theoriebildung trug sie in ihrem Tagebuch zusammen. Lou Andreas­Salomé war ab 1913 die erste Psychoanalytikerin in Göttingen und blieb dort bis zu ihrem Tod auch die einzige. 1919 lernte sie die junge, 26 ­jährige Anna Freud kennen. Die 60 ­jährige Lou war nun auf dem Höhepunkt ihrer psychoanalytischen Karriere. Im ausser ­ ordentlich umfangreichen Briefwechsel (1919–1937) findet neben dem freund­ schaftlichen auch ein wissenschaftlicher Austausch statt, sehr bald schon über ihre Selbstanalysen und Tagträume. Ihre gemeinsame Arbeit «Schlagephantasie und Tagtraum» wurde von Anna Freud in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung vorgetragen. Beide wurden danach 1922 in die Vereinigung aufgenommen. Sigmund Freud und die Psychoanalyse sind in den Briefen der beiden Frauen von zentra­ ler Bedeutung: Es entfaltete sich ein Beziehungsdreieck, das in der Geschichte der Psychoanalyse einmalig ist. Zudem werden aus der Perspektive der beiden Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 9 Frauen zeitgenössische kulturelle und politische Entwicklungen in Österreich und Deutschland zwischen den Weltkriegen erkennbar. Es gab in der Geschichte der Psychoanalyse also keinen Moment, in dem die Frauen nicht eine wichtige Rolle gespielt hätten, sei es in der Theorie, sei es in der Praxis oder institutionell. Es war die berühmte Anna O. (mit richtigem Namen Berta Pappenheim), welche das von Josef Breuer und Sigmund Freud entwickelte Verfahren als «talking cure» und «chimney sweeping» bezeichnete. Was zunächst die Basis der sogenannten kathartischen Methode wurde, führte später zur Methode der «freien Assoziation» auf der Couch. Die Frauen nahmen aber nicht nur als Patientinnen an der Entwicklung der Psychoanalyse teil, sondern waren bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in den meisten psychoanalytischen Institutionen als Lehrende tätig und psychoana ­ lytisch praktizierend. Erwähnt seien: Margaret Mahler, Melanie Klein, Therese Benedek, Joan Rivière, Lillian Rotter, Jeanne Lampl­de Groot, Edith Jacobson, Marie Bonaparte und – wie schon erwähnt – Lou Andreas ­Salomé und Anna Freud, Tochter von Sigmund Freud, später auch seine Sekretärin, Vertraute, Vertreterin, Kollegin, Krankenschwester und Verwalterin seines Lebenswerks: «Treue Anna Antigone» – wie er sie nannte. Zeit ihres Lebens unverheiratet, legte sie Wert auf die Bezeichnung «Miss». Ihre Lebens­ und Arbeitspartnerin wurde Dorothy Burlingham, die mit ihren vier Kindern aus den USA für die psychoanalytische Ausbildung nach Wien gekommen war. Nach der Flucht vor den Nationalsozialis ten gründeten die beiden Frauen ein Jahr nach Freuds Tod in London die «Hampstead Child Clinic», in welcher hauptsächlich Kriegswaisen aufgenommen wurden. Im Laufe der fünf Jahre bis zum Ende des zweiten Weltkriegs fanden über 190 Kinder dort medizinische, pädagogische und psychoanalytische Betreuung. Nach dem Krieg wurde die Klinik ausgebaut und ab 1947 zu einem international renom­ mierten Lehrinstitut für Kindertherapie. 1982, nach Anna Freuds Tod, wurde die Klinik umbenannt in «Anna Freud Centre». Heute heisst sie «Anna Freud National Centre for Children and Families» und ist in Forschung und Lehre eng verbunden mit dem University College London und der Yale University. 1998, am 7. Internationalen Kongress zur Geschichte der Psychoanalyse in London zum Thema «Die Rolle der Frauen in der Geschichte der Psychoanalyse, Ideen, Praxis, Institutionen» hielt Nancy Chodorow, Professorin der Soziologie in Berkeley (CA, USA), einen Vortrag «Psychoanalyse und die Psychoanalytikerinnen». Sie befasste sich mit der Frage, welche kulturellen und historischen Gründe dazu geführt hatten, dass die Psychoanalyse im Vergleich zu anderen Wissensgebieten damals von Anfang an für Frauen ausserordentlich offenstand und weshalb sie in 10 Ita Grosz-Ganzoni diesem Beruf eine ungewöhnlich grosse Rolle spielten. Dabei wies sie darauf hin, dass die historische und ökonomische Situation zur Zeit des ersten Weltkriegs in Europa und England die Situation der Frauen ganz generell beeinflusste. Die vielen gefallenen Männer, die ökonomische Lage während und nach dem Krieg hatten zur Folge, dass Frauen aus allen sozialen Klassen mehr auf sich gestellt waren. Männliche Funktionen mussten übernommen werden. Dadurch ergab sich auch mehr Zugang zum Arbeitsleben und zur Bildung. In den 1920er Jahren wurde begonnen, die Diskriminierungen von Frauen an den Universitäten zurückzuneh­ men, auch wenn es nach wie vor Professoren gab, die keine Studentinnen in ihren Vorlesungen duldeten. Töchter der jüdischen und der bürgerlichen Mittelklasse widmeten sich vermehrt dem Medizinstudium, der Psychologie oder Berufen zur Betreuung von Kleinkindern. Zwischen Männern und Frauen entstand eine Bewegung der Gleich be­ re chtigung, der Kameraderie, die der jungen sozialistischen Bewegung zu ver ­ danken war. Ähnliche Entwicklungen wie in Wien gab es in Berlin und Budapest. All diese gesellschaftlichen Veränderungen führten dazu, dass auch Frauen zur Psychoanalyse kamen. Helen Deutsch z. B. verliess Polen, um 1900 als eine der ersten Frauen in Wien Medizin zu studieren. Margaret Mahler verliess Ungarn, weil die Quoten für Juden und Jüdinnen ein Medizinstudium verhinderten. In Wien war das Studium jedoch möglich. Sie kamen mit der neuen Wissenschaft in Berührung, denn die Psychoanalyse gehörte damals zu den avantgardistischen und radikalen Lehren für junge Intellektuelle. Während einzelne Frauen aus Zentraleuropa in einem Milieu aufwuchsen, in dem es für Frauen nicht mehr aussergewöhnlich war, einen intellektuellen Beruf auszuüben und die in einem politischen Umfeld arbeiteten, in dem es zunehmend auch Kollegialität und Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen gab, befanden sich die Frauen in den USA in einer schwierigeren Lage. Die frühen Analytikerinnen mussten sich ihren Platz unter den Männern erkämpfen. Manche reisten nach dem Studium nach Europa. Es waren Pionierinnen mit dem Anliegen, eine bessere berufliche Ausbildung zu erhalten. Oft ging das mit dem Verzicht auf ein Familienleben einher. Beruf und Familie wurde für unvereinbar gehalten. Die zahlreichen Beiträge namhafter Psychoanalytikerinnen zur Theorie und Praxis der Psychoanalyse waren vielfältig und international anerkannt. Anfangs der 1950er Jahre spielten vor allem Psychoanalytikerinnen wie Annie Reich, Frida Fromm­ Reichmann und Paula Heimann eine grosse Rolle in der Debatte um die «Gegenübertragung». Nancy Chodorow stellt die Vermutung auf, dass dabei unbewusst auch mitspielte, dass sie als Frauen einen stärkeren Sinn für Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 11 das Beziehungsgeschehen innerhalb des psychoanalytischen Settings entwickel­ ten. Sie erwähnt, dass die Frage nach dem weiblichen Einfluss in der Psychoanalyse durchaus ihre Berechtigung hat. Denn die Präsenz und die Beiträge von Frauen in Grossbritannien und den USA war für die Psychoanalyse bis in die Mitte der 70er Jahre überproportional gross und bedeutsam. In Boston sprach man sogar vom «Matriarchat»: Helene Deutsch, Grete Bibring und andere leiteten und kon­ trollierten das Institut. Heute mögen wir darüber lächeln, dass ein «Matriarchat» heraufbeschworen werden musste, weil mehr Frauen in der Institutionsleitung tätig waren. Die New Yorker beschrieben sehr ähnlich die «beängstigende Macht» von Edith Jacobson und Marianne Kris. Offensichtlich löste die damalige Dominanz der Frauen Unbehagen aus, ja es wurde eine sogenannte «Feminisierung» der psychoanalytischen Technik und Theorie vermutet oder behauptet. Der Beweis dafür, dass dies nicht ein «Gespinst» war, wurde meines Wissens nicht erbracht. Ähnliche Phänomene existieren auch heute noch, beispielsweise in der Debatte um die Gefahr der Feminisierung der Schulen und der damit behaupteten Benachteiligung von Knaben, weil im Lauf der Jahrzehnte mehr Frauen in diesem ursprünglich von Männern geschätzten und dominierten Beruf arbeiten. Damit verbunden ist leider auch die Tendenz, dass das Überhandnehmen von Frauen in einem männlich dominierten Beruf zu dessen Statusverlust und zu geringerer Entlöhnung führt. Das bedeutet, Feminisierung und soziale Entwertung eines Berufes überschneiden sich. Auch am Psychoanalytischen Seminar Zürich wurden Arbeiten von ame ­ ri ka nischen Psychoanalytikerinnen studiert und diskutiert, hauptsächlich im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Entwicklungstheorie. Dieser Be ­ reich der Psychoanalyse gehörte anfangs zur allgemeinen psychoanalytischen Ausbildung. Man vertrat die Ansicht, dass alle PsychoanalytikerInnen etwas von der Entwicklungspsychologie verstehen müssten, nicht nur diejenigen, die mit Kindern arbeiteten. Beiträge von Phyllis Greenacre (1894–1989) z. B. zur Beziehung von Fetischismus und fehlerhaften Entwicklung des Körperbildes oder von Edith Jacobson «Das Selbst und die Welt der Objekte» wurden in den Seminaren vorge­ stellt und diskutiert. Der damalige psychoanalytische «Bestseller» «Die psychische Geburt des Menschen» von Margaret S. Mahler und ihren Mitarbeitern Fred Pine und Anni Bergman über die «zweite» Geburt des Menschen, wurde bereits kurz nach seinem Erscheinen zum Meilenstein der psychoanalytischen Theoriebildung gekürt. Die darin enthaltenen neuen psychoanalytischen Erkenntnisse der ameri­ kanischen Psychoanalytikerin zur Bedeutung der Loslösung und Individuation in der kindlichen Entwicklung, gehörten am PSZ zu den intensiv diskutierten Themen. 12 Ita Grosz-Ganzoni Zurück zu Chodorow: Sie geht in ihrem Hauptwerk «Das Erbe der Mütter» (1985) der Frage nach, weshalb das «Mothering» der Frauen stets als selbstverständlich angeschaut wird. Sie zeigt auf, wie sich die Bedeutung des «Mothering» im Laufe der Jahrhunderte entwickelte und welche Rolle die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Industrialisierung spielte. Die ausserhäusliche Produktion wurde nun zur Arbeit schlechthin; die Familie zum Inbegriff einer persönlichen Beziehungs- Institution. Die Rolle der Frau war zunehmend durch die Kinderaufzucht und Fürsorge für den Mann definiert. Säuglingspflege und Kindererziehung wurden zur exklusiven Domäne der biologischen Mutter. Psychoanalyse und Soziologie schufen neue Grundlagen für die Idealisierung und Festigung der Mutterrolle. Edith Jacobson: «Die biologische Bestimmung der Frau ist es, Kinder auszutragen, zu gebären, zu stillen und aufzuziehen.» Manche postulierten einen «Muttertrieb», z. B. Judith Kestenberg, welche die Ansicht vertrat, dass mütterliche Gefühle in frü ­ hester Kindheit als Folge früher vaginaler Empfindungen entstehen. Aufgrund der Unzulänglichkeit (Penismangel) und Rätselhaftigkeit der inneren Geschlechtsteile entstehe der Wunsch nach einem Kind, nach einem erkennbaren Objekt, durch das die Vagina konkretisiert werde. Es war Donald W. Winnicott (1896–1971), der hingegen ausdrücklich vor der Idee eines «Mutterinstinkts» warnte und betonte, dass die Veränderungen während der Schwangerschaft als psychologische gese­ hen werden müssen, weil sie sich mit dem Zustand der Mutter stark verändern: «Gesunde Frauen verändern ihre Einstellung zu sich und ihrer Umgebung. Wie stark auch immer diese Veränderungen physiologisch bedingt sein mögen, können sie doch durch psychische Probleme und Krankheiten verzerrt werden. Es ist also bes­ ser, diese Veränderungen als psychologische zu begreifen.» Tatsächliche Beweise einer instinktiven oder biologischen Ursache lassen sich nur schwer auftreiben. Winnicott ist es auch, der das bekannte Diktum der “good enough mother” prägte. Noch heute bleibt die Tendenz, Mutterschaft zu idealisieren zählebig und eignet sich hervorragend als Politikum! So etwas wie ein «Gender ­Bewusstsein», wie wir es heute nennen, war viel­ leicht vorhanden, wurde aber nicht thematisiert in der Psychoanalyse. Das heisst, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und ihre Auswirkungen auf die Institutionen, auf Theorie und Praxis schienen kein Thema zu sein. Mochten sich im Einzelfall die einen oder andern Psychoanalytikerinnen an Freuds Theorien zur Entwicklung der Weiblichkeit auch stören, eine deutliche, mit Argumenten unterfütterte Position dazu brachten erst Karen Horney und Helene Deutsch zur Diskussion. Die frühen Psychoanalytikerinnen unterstützten in der Theorie die traditionellen Geschlechterrollen in der Familie. Es ist zu vermuten, dass sie in ihrer Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 13 klinischen Arbeit auch dementsprechend Einfluss nahmen. Gleichzeitig lebten sie ganz selbstverständlich ihre Gleichberechtigung als Psychoanalytikerinnen in ih rem beruflichen Leben. Es war durchaus üblich, schwangere Ausbildungskandidatin­ nen von der psychoanalytischen Ausbildung auszuschliessen. Etwas Ähnliches geschah auch am Psychoanalytischen Seminar einer befreundeten Kollegin von uns, die bei Paul Parin in Analyse war. Als sie schwanger wurde, unterbrach er die Analyse mit dem Argument, dass durch die starke innere Beziehung zum Ungeborenen die Übertragungsbeziehung zum Analytiker beeinträchtigt sei. Das damalige Konzept in der psychoanalytischen Praxis war, dass die Beziehung zum Analytiker/zur Analytikerin möglichst ungestört sein müsse. Damit vertrat Parin eine früher übliche Praxis. Uns KandidatInnen wurde empfohlen, während der Analyse weder zu heiraten noch andere lebenswichtige Entscheidungen zu treffen. Eine Debatte zur Situation der Psychoanalytikerinnen in den Institutionen hätte die (unausgesprochene) Forderung unterminiert, dass es sich bei der psychoanalyti­ schen Ausbildung um eine vom Geschlecht unabhängige – fast möchte man sagen «unbefleckte» – Ausbildung gehe. So ist es zu verstehen, dass die Frauen sich dem­ entsprechend als «Psychoanalytiker» und nicht als «weibliche Psychoanalytiker» verstanden. Auf die impliziten Widersprüche dieser Haltung einzugehen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ich käme dabei zur äusserst wichtigen psy ­ choanalytischen Debatte in den 1970er Jahren, rund um die sogenannte «psycho­ analytische Neutralität», die auch am PSZ, vor allem in der «Plattform­Gruppe» heftig geführt wurde. Karen Horney und Helene Deutsch bildeten – wie erwähnt – die grossen Ausnahmen: Sie bezogen Position zu den traditionellen Weiblichkeitstheorien. Beide mussten in Folge des Naziregimes aus Deutschland emigrieren. Beide wa ren in den 1920er und frühen 30er Jahren in die legendäre erste Debatte zu den Weiblichkeitstheorien Freuds innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft involviert. Der heftige Streit, der hauptsächlich in unveröffentlichten Briefwechseln oder mündlich überlieferten Diskussionen ausgetragen wurde, ging jahrelang kom­ plett vergessen. Die Kontroverse wurde auch in der bekannten Freud ­Biografie von Ernest Jones mit keinem Wort erwähnt, obschon er daran beteiligt war und Horney unterstützte. Freuds Arbeit von 1925 «Über einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds» war bereits eine Replik innerhalb der Debatte. 40 Jahre lang, zwischen 1937 und 1975 verstummte der psychoanalytische Diskurs über Weiblichkeit weitgehend. In Deutschland begann die Diskussion erst wieder mit dem Erstarken der Frauenbewegung in den 60er Jahren. Margarete 14 Ita Grosz-Ganzoni Mitscherlich­Nielsen war eine der ersten Psychoanalytikerinnen, die sich dieser Diskussion anschloss. In ihrem 1975 erschienenen Aufsatz über «Psychoanalyse und weibliche Sexualität» beschrieb sie die Notwendigkeit einer Revision der psy ­ choanalytischen Theorie zur Weiblichkeit. Etwa zur gleichen Zeit nahm Janine Chasseguet­Smirgel (Paris, 1964/1975) den «phallischen Monismus» Freuds aufs Korn. Das Interesse und die Publikationen zur weiblichen Entwicklung nahmen zu. Dabei fällt auf, dass es sich ausschliesslich um weibliche Autoren handelte. Man entfernte sich nun deutlich von Freuds Ansicht, Weiblichkeit werde durch die Erkenntnis eines Mangels ausgelöst. Die Psychoanalyse wurde in der Folge von vielen feministischen For sche­ rinnen in verschiedenen Wissenschaften als Ganzes abgelehnt. Im Gegen satz zu dieser Tendenz postulierte die prominente US­amerikanische Feministin Juliet Mitchell 1974: «Wer die Unterdrückung der Frau begreifen und wirksam bekämpfen will, kommt an der Psychoanalyse nicht vorbei.» Christa Rohde­Dachser ging in ihrem Aufsatz von 1989 «Unbewusste Phan­ tasie und Mythenbildung in psychoanalytischen Theorien über die Differenz der Geschlechter» der Frage nach, inwieweit unbewusste Phantasien generell nicht nur unseren Umgang mit Sexualität bestimmen, sondern auch in die psycho­ analytische Theoriebildung über die Differenz der Geschlechter eingehen und bewirken, dass die mit den Mitteln der Psychoanalyse geleistete Aufklärung früher oder später wieder in Mythos zurückschlägt. Zwei Jahre später finden sich dazu in ihrem damaligen «Bestseller «Ex pe dition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse» manche geradezu «süffig» zu lesende Beispiele! In der bereits erwähnten Arbeit von 1996 «Subjektwerdung und Ge schlechts­ konstitution. Die Erkenntnislogik der Freudschen Psychoanalyse und ihre Be deu­ tung für den feministischen Diskurs am Beispiel des Subjektbegriffs» hat Lilli Gast aufgezeigt, wie die psychoanalytische Methode und ihre Erkenntnistheorie – trotz der unglückseligen Weiblichkeitstheorien Freuds und seiner unkritischen Nach­ folgerInnen – im feministisch­psychoanalytischen Diskurs nach wie vor Ent­ scheidendes beizutragen hat. In der aktuellen Gender ­Debatte und in den Gender ­ und Queer­Theorien wird die Bedeutung der Psychoanalyse wieder vermehrt in Frage gestellt. Im Fol­ genden zitiere ich Katharina Liebsch: «Von der friedfertigen Frau zur unlesbaren Wut» (2014): Bis etwa 1990 war die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse für das Verständnis vieler feministischer Debatten eine unbe- Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 15 dingte Voraussetzung. Thesen und Theoreme von (…) Margarete Mitscherlich (1985), von Christa Rohde-Dachser (1991), Carol Hage mann-White (1979), Nancy Chodorow (1985), Jessica Ben- jamin (1990), Luce Irigaray (1980) und Julia Kristeva (1978) – um nur einige Namen zu nennen – prägten die theoretische Aus ei- nandersetzung. Diese Autorinnen knüpften jeweils an verschie- dene psychoanalytische Schulen an. Sie entwarfen neue Weib- lich keitsbilder, erklärten die Nachhaltigkeit der traditionellen Ge schlechterrollen, dachten über die Rolle von Gewalt, Zwang und Normierungen in den Geschlechterverhältnissen nach und setzten sich nicht zuletzt mit dem Frauenbild der klassischen Psy- cho analyse auseinander. (…) Heute (…) ist nur noch selten von Feminismus die Rede, sondern zumeist von Gender Studies und der Queer-Theory. (…) Zudem finden die theoretischen Bemühungen, weiblich, männlich und seit kurzem auch «kein Eintrag» in ihrer sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Verfasstheit zu verste- hen, heute weitestgehend ohne Bezugnahme auf psychoanalytische Theorien statt. (S. 105 f.) 2 Die politische Situation der Frauen in der Schweiz 1969 demonstrierten rund 5000 Frauen und Männer vor dem Bundeshaus in Bern für die Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler und kantonaler Ebene. Angeführt wurde diese Demonstration von Emilie Lieberherr, Präsidentin der Aktion «Marsch auf Bern» und spätere Stadtpräsidentin von Zürich. Ich danke allen Männern, die sich heute mit uns solidarisch erklä- ren. Den Frauen danke ich für den Mut, öffentlich für ihre Rechte einzutreten und damit zu zeigen, wie ernst ihr Interesse an der Sache ist. Zwei Gründe haben uns veranlasst, nach Bern zu kommen: (…) Unmittelbarer Anlass war die Nachricht, dass der Bundesrat dem Parlament empfiehlt, die Menschenrechtskonvention mit Vor behalten zu unterzeichnen. Zwei dieser Vorbehalte betref- fen die Frauen, nämlich das Wahlrecht und das Recht auf glei- che Ausbildung für Mädchen und Knaben. Diese Nachricht hat unsere guteidgenössische Geduld aufs höchste strapaziert. Sie ist ein Schlag ins Gesicht der Frauen und hat unser Vertrauen in den 16 Ita Grosz-Ganzoni Bundesrat erschüttert. Wir stehen hier nicht als Bittende, son - dern als Fordernde. (…) Wir verlangen sofortige Schritte, damit in unserem Land auch die Frauen in den Genuss der Menschenrechte gelangen. (Stadtarchiv Zürich, 1969, zit. n. Hosmann, Amstutz & Belgeri, 2021) Am 7. Februar 1971 gewährten die Schweizer Männer den Frauen im Land das Stimm­ und Wahlrecht. In den darauf folgenden Jahrzehnten gab es wei tere rechtliche Entwicklungen und verschiedene Änderungen, welche die Gleich­ berechtigung zwischen Mann und Frau in der Schweiz verbesserten: 1981 wird die Gleichberechtigung in der Bundesverfassung festgeschrieben; 1984 wird die erste weibliche Bundesrätin, Elisabeth Kopp, gewählt; 1988 werden Frauen und Männer im Eherecht gleichgestellt, bis dahin war der Mann laut Gesetz das Familienoberhaupt und die Frau für den Haushalt zuständig; 1990 führt der Kanton Appenzell Innerrhoden als letzter Kanton das Stimm­ und Wahlrecht für Frauen auf kantonaler Ebene ein; 1992 wird Vergewaltigung in der Ehe strafbar; 2005 wird der Mutterschaftsurlaub eingeführt. So haben Mütter nach der Geburt Recht auf 14 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub. Seit 01.01.2021 gibt es das das Recht auf zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub. 3 Das PSZ, die Position der Frauen und die psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien Als ich 1971 zum ersten Mal in das Psychoanalytische Seminar an eine Veranstaltung der berühmten linken «Plattformgruppe» ging, war es aus Interesse an den kritischen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Themen und Dis kussionen um die Verbesserung der psychoanalytischen Ausbildung. Spürbar ver borgene Bezüge, Rivalitäten und Animositäten unter den Diskutierenden er schwerten die Orientierung in der Diskussionskultur. Mit meinem allerersten Beitrag geriet ich auf unerwartete Weise hinein. Ich hatte beobachtet, was mich zunehmend derart empörte, dass ich überhaupt etwas zu sagen wagte: Auch bei den Plattformsitzungen sprachen die Männer, immer dieselben. Sie gaben lange Voten ab und nahmen dabei viel Zeit und Raum in Anspruch. Es schien, als ob nur sie, über die Köpfe aller andern hinweg, v.a. miteinander diskutieren würden. Der vielbeschworene Kontakt zur Basis war genau so wenig vorhanden wie in den kritisierten Veranstaltungen anderer Institutionen. Meine Kritik löste betroffenes Schweigen bei den Kritisierten und laute Begeisterung bei den Jungen aus, bei den weiblichen und männlichen Kollegen. Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 17 Es formierte sich eine gemischte Gruppe. In mehreren Sitzungen versuch ten wir unsere kritischen Einwände zur Art der Plattform­Diskussionen zu formulieren. Wir thematisierten aber auch unsere eigenen Hemmungen und Ängste im grossen Rahmen zu reden. Armando Bauleo, Psychoanalytiker, Mitbegründer der argentinischen Platt form und spezialisiert auf Gruppentherapie, kam damals regelmässig nach Europa und war oft am PSZ. Er begleitete unsere Sitzungen und half uns bei der Vorbereitung der geplanten Plattform­Veranstaltung. Ursula Hauser (Costa Rica, Zürich) war eine der wichtigsten Protagonistinnen bei dieser Aktion. Sie beschloss, der neuen Gruppe den Namen «Gruppe merde» zu geben, in Anlehnung an die argentinische Gruppe «mierda». Wir organisierten eine Marathonsitzung und ver ­ schiedene Wochenenden mit Bauleo und waren begeistert von dieser bis anhin unbekannten Methode der operativen Gruppentechnik. Nachdem wir in der extra dafür einberufenen Plattform ­Veranstaltung unsere Kritik eingebracht hatten, zerfiel die kleine Gruppe wieder. Übrigens wurde unsere Kritik von den älteren Plattformitgliedern mit Wohlwollen aufgenommen, vielleicht etwas hilflos. Es gab keine Auseinandersetzung. Zu Beginn meiner psychoanalytischen Ausbildung am PSZ gehörten Sig­ mund Freuds Weiblichkeitstheorien zum psychoanalytischen Kanon. Ich lernte Freuds Konzepte der Triebentwicklung beim Jungen und beim Mädchen kennen, machte Bekanntschaft mit der Theorie, dass der «Penisneid» des kleinen Mädchens zur konstituierenden Erfahrung für die psychosexuelle Entwicklung der Frau werde usw. Dies passte zwar gar nicht zu meinen Erfahrungen mit kleinen Jungen und Mädchen in meinem ersten Beruf als Primarlehrerin. Auch fand ich nichts der ­ gleichen in der Entwicklung meiner kleinen Tochter, die sich gerade sehr für ihren Körper, für das was drinnen war und geschah, interessierte und unermüdlich innere, sehr belebte Welten, Höhlen, zeichnete. Doch dass mir die Theorie, die vom «Mängelwesen» Frau ausgeht, nicht einleuchtete, ja mich empörte, konnte in psychoanalytischen Kreisen zum Beweis für einen typisch weiblichen neuro­ tischen Männlichkeitskomplex gedeutet werden. Freuds Überzeugung, dass der Penis­Mangel und der daraus entstehende Neid zum gewachsenen Felsen jeder Frau gehörten, infrage zu stellen, wurde durchaus so interpretiert, dass man mit seinem unabänderlichen Schicksal nicht zurechtkam. Als junge Kandidatin brauchte es Mut, die Penisneidtheorie und die Theorie des Kastrationskomplexes und alle seine Folgen laut und offen in Frage zu stellen. Denn man wollte ja nicht im Verdacht stehen, mit der eigenen Weiblichkeit ein 18 Ita Grosz-Ganzoni Problem zu haben. Wir wissen ja alle, Interpretationen, «wilde Deutungen» gehören zum «Waffenarsenal» unseres Berufs! Und so lernte ich die psychoanalytische Triebtheorie auswendig, wie früher die Physik am Gymnasium, ohne Überzeugung und ohne den Stoff wirklich zu verstehen. Welche Befreiung, als Marie Langer – die legendäre Psychoanalytikerin «Mimi» – Mitbegründerin der Argentinischen Psychoanalytischen Gesellschaft und Mitglied der argentinischen Plattformbewegung – bei einem Vortrag am PSZ Ende der 70er ­Jahre Freuds Theorien zur Entwicklung der Weiblichkeit in Frage stellte! Sie behauptete locker, dass diese wahrscheinlich damit zusammenhingen, dass er selber Lieblingssohn seiner Mutter gewesen sei und sich nicht vorstellen konnte, dass man ohne Penis ein glückliches, erfülltes Leben haben könne. Endlich hatte jemand der alten Generation laut und deutlich eine kriti­ sche, ja witzige, wenn auch «wilde» Meinung zu diesem Stück Theorie öffentlich aus gesprochen. Es war wie ein Tabubruch und damit eine Befreiung, um in die­ se Richtung kritisch und differenziert weiterzudenken. Ich denke heute, dass nur schon die Art, wie Mimi darüber sprach, diesen Teil von Freuds Lehre vom Elfenbeinturm herunter auf eine Ebene brachte, die eine Voraussetzung für wei­ terführendes Denken war. An dieser Stelle möchte ich etwas zur Biografie dieser aussergewöhnlichen Psychoanalytikerin einfügen. «Mimi» war für viele meiner Generation ein Vorbild – als Berufsfrau mit einer dramatischen Lebensgeschichte, als Vertreterin einer fort­ schrittlichen Psychoanalyse, als Feministin und Mutter von fünf Kindern. Zudem war sie eine schöne und charmante Frau mit viel Humor – und Kettenraucherin, wie viele damals. Marie Langer wurde 1910 in Wien geboren und starb 1987 in Buenos Aires. Sie hatte in den 30er ­Jahren in Wien Medizin studiert und war der kommunis­ tischen Partei beigetreten. Kurz darauf begann sie mit der psychoanalytischen Ausbildung, machte ihre Analyse bei Richard Sterba. Auf Empfehlung von Anna Freud wurde sie Mitglied in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Als junge antifaschistische Ärztin engagierte sie sich 1936 zusammen mit ihrem Mann im Spanischen Bürgerkrieg bei den Internationalen Brigaden gegen die Faschisten und arbeitete als Anästhesistin. Nach dem Anschluss Österreichs an das deutsche nationalsozialistische Reich flüchteten die beiden zuerst nach Uruguay und erreichten schliesslich 1942 Argentinien. Sie liessen sich in Buenos Aires nieder und Mimi machte sich bald einen Namen als Psychoanalytikerin. Sie wurde Gründungsmitglied der psychoanalytischen Gesellschaft und war Lei­ Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 19 terin des psychosomatischen Dienstes in der gynäkologischen Abteilung des Kran kenhauses in Buenos Aires. Psychosomatik und Psychoanalyse der Frauen gehörten zu ihrem Spezialgebiet. Nach wie vor gehörte sie zur kommunistischen Partei. Später war sie ein wichtiges Mitglied der Internationalen Plattformgruppe, die 1969 in Rom gegründet wurde. Die Internationale Plattform war eine gesellschaftskritische und institu­ tionskritische linke Bewegung innerhalb der Psychoanalytischen Gesellschaft, die in zahlreichen europäischen Ländern – auch in Zürich – ihre Gruppen hatte. Berthold Rothschild, Teilnehmer am PSZ, war Sekretär dieser Bewegung. Er pflegte die internationale Zusammenarbeit, lud KollegInnen aus Italien, Frankreich und Argentinien nach Zürich ein. Ein wichtiges Verbindungsglied – nicht nur sprach­ lich – war Pedro Grosz, der in Buenos Aires aufgewachsen und Ende der 1960er ­ Jahre nach Zürich emigriert war. Zusammen mit Gleichgesinnten trat Marie Langer 1971 schliesslich aus der argentinischen psychoanalytischen Gesellschaft aus – ein Rieseneklat – aus Protest gegen die verkrusteten hierarchischen Strukturen – auch dort. Die argentinische Plattformgruppe bestand aus linken Psycho ana ly ti ker In­ nen, die nicht einfach nur im Elfenbeinturm vier Mal wöchentlich ihre PatientIn­ nen analysierten, sondern auch zusammen mit ÄrztInnen, Heil pä da gogInnen und SozialarbeiterInnen im Gesundheitsbereich, zum Teil in Gruppen, tätig waren. Heute ist uns das eher selbstverständlich, damals aber wurden solche Tä tig keiten von der konservativen psychoanalytischen Community sehr kritisch betrachtet, galt dieses Tun doch nicht als «lege artis». Mimi reiste regelmässig nach Österreich und in die Schweiz. An unserem Seminar hielt sie Vorträge und gab Supervisionen, vor allem nachdem sie 1974 aus Argentinien vertrieben wurde, verfolgt von der brutalen, antikommunistischen Terrororganisation AAA, auf deren Todesliste sie stand. Sie floh nach Mexiko, wo sie Asyl fand, und arbeitete dort in ihrer Praxis und an der Universität weiter. Von Mexiko aus reiste Mimi im «Equipo Internacionalista de Salud Mental Mexico­ Nicaragua» immer wieder in das revolutionäre Nicaragua, um an der Entwicklung einer gemeindeorientierten Form der psychischen Versorgung mitzuwirken. Erst kurz vor ihrem Tod kehrte sie wieder nach Buenos Aires zurück. 1951 erschien ihr Buch «Mutterschaft und Sexus. Körper und Psyche der Frau», in dem Marie Langer sich kritisch mit Freuds Theorien zur Weiblichkeit aus­ einandersetzte, beeinflusst von Karen Horney, Melanie Klein und Margaret Mead. Erst 37 Jahre später, 1988, wurde es von Vera Saller ( Teilnehmerin am PSZ) ins Deutsche übersetzt und ohne Überarbeitung veröffentlicht. Ich erwähne das, 20 Ita Grosz-Ganzoni weil Langer noch von der biologistischen Vorstellung ausging, dass zum normalen Frausein der Wunsch nach Mutterschaft biologisch vorgegeben sei, was am PSZ zu einer heftigen Auseinandersetzung mit ihr führte. Später revidierte sie diese Ansicht. Die kritische Auseinandersetzung mit Freuds Weiblichkeitstheorien war lange kein Thema im PSZ und soweit mir bekannt ist, interessierte sich auch keine der damals einflussreichen Psychoanalytikerinnen der älteren Generation dafür. Martha Eicke (1925–2011) zählte zu ihren Forschungsschwerpunkten auch Fragen der Weiblichkeit – 1988 «Über Schuld­ und Schamgefühle bei Frauen» und 2002 «Über Analität bei Frauen». Zur selben Generation gehörte Goldy Parin­Matthèy (1911–1997), ebenfalls Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, die sich aber aus Prinzip nicht am Seminarbetrieb beteiligte. Ihrer Ansicht nach konnte man die Psychoanalyse so nicht lernen. Sie war aber als Analytikerin und Supervisorin sehr geschätzt. Von ihr gibt es leider wenige Schriften, doch ihre Beteiligung an den Publikationen von Paul Parin war ein integrierender Bestandteil davon. Marie Langer gelang es, Goldy, mit der sie befreundet war, zu überzeugen, zumindest etwas für die Frauen am Seminar zu machen, und so entstand die erste Frauengruppe. Wir trafen uns während rund zwei Jahren am Utoquai 41. Ich erinnere mich an lebhafte Diskussionen in dieser exklusiven Frauen­ runde bei «Planteur» – einem karibischen Getränk aus Orangensaft, weissem Rum und etwas Angosturabitter und Pralinen, die uns Paul Parin jeweils zu Beginn un serer Sitzungen aus einer speziellen Dose servierte. Er verschwand nach seinem kurzen Auftritt jeweils wieder in die Küche. Wir waren eine sehr heterogene Gruppe, ältere und jüngere Frauen, teils befreundet mit Goldy, früher in Analyse oder Supervision bei ihr, bei Paul Parin oder Fritz Morgenthaler. In meiner Erinnerung gehörten u. a. Ursula Hauser, Maja Nadig, Jana Benz, Vreni Schärer dazu und ganz speziell erinnere ich mich an Agnes Teichmann, die Frau des damaligen Rabbiners, die auch in Ausbildung am PSZ war, und uns mit einer Auswahl selbstgemachten Gebäcks erfreute. Nebst Lustvollem gab es aber auch Schwierigeres zu ertragen: eher stum mes Machtgerangel, Rivalitäten, tabuisierte Themen. Oft wurden Fälle von Patientin nen besprochen, die in ihren Ehen Probleme hatten. Die Ansicht, sie sollten sich einfach vom Mann trennen war gang und gäbe in der Gruppe. Argumente, dass damit ihre eigenen Probleme nicht gelöst würden, konnten sich nur schwer durchsetzen. 1981, mit 36 Jahren, wurde ich schwanger mit meinem dritten Kind. Es gab nun kleine Seitenhiebe in Form von Bemerkungen bezüglich älterer Frauen, die offenbar Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 21 mein ten, nochmals schwanger werden zu müssen. Ich fühlte mich betroffen, war gekränkt und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich verliess die Gruppe. In den folgenden Jahren lag mein Fokus weniger in der theoretischen Aus­ einandersetzung mit Psychoanalyse und Feminismus, ich war – neben meiner psy ­ choanalytischen Arbeit in der Praxis – mit der Neuorganisation der vergrösserten Familie beschäftigt. Am PSZ ging das Interesse für das Thema weiter. 1987 gab es zuerst eine Vortragsreihe, später entstand ein Buch daraus: «Bei Lichte betrachtet wird es finster. FrauenSichten». Beim neuerlichen Durchstöbern des Buches begegnete ich der Arbeit von Irene Brogle, einer damals prominenten und engagierten Teilnehmerin des PSZ und der Plattform. In «Der blinde Spiegel» befasst sie sich über weite Strecken mit der Diskussionskultur und der Herrschaftssprache in den Veranstaltungen des Seminars und ihrem Unbehagen, ja Ärger über die eigene Sprechhemmung. Maya Nadig brachte in ihrem Artikel neue Aspekte in die Debatte. Im Beitrag «Mutterbilder in zwei verschiedenen Kulturen. Ethnopsychoanalytische Überlegungen» zeigte sie auf, dass die Institution der Mutterschaft, die Art der frühen Mutter ­Kind­ Beziehung in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich gestaltet werden. Dass «Mothering» nicht biologisch vorgegeben ist. Ich fand das nicht nur hochspannend, mich befreiten diese Erkenntnisse auch von den einengenden (schweizerischen) Vorstellungen und Vorgaben bezüglich Mutterschaft. Anfangs Juli 1991 kam eine Einladung zu einem ersten Treffen im «Ar beits kreis für feministische Psychoanalyse», welches von drei deutschen Psy cho analytikerinnen initiiert wurde. 38 Frauen, die meisten davon Psy cho­ analytikerinnen trafen sich, 13 von ihnen kamen aus der Schweiz. Ich konnte mir im Vorfeld nicht recht vorstellen, wie das sein würde, mich in einer reinen Frauengruppe mit unbekannten Kolleginnen zu treffen und zu diskutieren und so achtete ich natürlich auch darauf, was denn «anders» war. In meiner Erinnerung war es v.a. das lange Zögern, bevor jemand das Wort ergriff, an das ich mich gewöh­ nen musste. Bei den ersten Malen fürchtete ich regelmässig, dass niemand etwas sagen würde. Inzwischen finde ich das gerade angenehm. Es gibt so mehr Raum, um Gedanken entstehen zu lassen. Einer der Schwerpunkte zu Beginn des Arbeitskreises war die Geschichte der psychoanalytischen Theorien zur weiblichen Homosexualität. Es wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, wie sehr dies eine Geschichte der Diffamierung war. Das Erstaunen der nichtschweizerischen Teilnehmerinnen über die Mög­ lichkeiten, die wir am PSZ hatten, frei über kritische psychoanalytische Themen wie die Weiblichkeitstheorien oder auch Fragen zur Homosexualität zu diskutieren, 22 Ita Grosz-Ganzoni machte mir zum ersten Mal bewusst, wie gut wir es hatten, verglichen mit den Teilnehmerinnen anderer psychoanalytischer Institute. Nach den ersten Treffen beschlossen wir vom PSZ zu viert eine Lesegruppe zu bilden. Wir ackerten uns intensiv durch den damaligen Bestseller von Christa Rohde­Dachser «Expedition in den dunklen Kontinent». Es folgten im Lauf der Jahre zahlreiche weitere Arbeiten. Seitdem war mein Ziel, die Thematik rund um die psychoanalytische Weib­ lichkeitstheorie und Feminismus im PSZ zu verankern. In den folgenden Jahren luden wir zahlreiche feministisch interessierte Psychoanalytikerinnen und psycho­ analytisch orientierte Wissenschaftlerinnen zu Vorträgen ans PSZ ein. Der Arbeitskreis existiert immer noch, jährlich treffen wir uns, sei es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Heute sind wir vom PSZ noch zu fünft mit dabei, nebst mir Bigna Rambert, Yvonne Schoch, Anna Koellreuter und Laura Wolf. Nachdem ich die Erfahrung gemacht hatte, dass eine rein «weibliche» Ar beits gruppe etwas Angenehmes sein konnte, bildete ich zusammen mit Gabi Döhmann­Höh eine Arbeitsgruppe zum Dauerbrenner ­Thema «Ausbildung am PSZ». In einem recht entspannten Klima war es uns möglich, auch unausgereifte, widersprüchliche Gedanken auszutauschen ohne sofort voreilig Lösungen finden zu müssen und ohne einander zu interpretieren. Auf diese Weise war es möglich, trotz konträrer Standpunkte, Gemeinsames zu erarbeiten und zu einem Beitrag zu formulieren, der in in der sogenannten «Dokumentation der kontroversen Stand­ punkte am PSZ» 1992 herausgegeben wurde. Ende der 1980er ­Jahre fand in den Schweizer Medien eine heftige Debatte um den «Missbrauch» von Kindern statt, dabei standen kleine Mädchen im Fokus. Das Thema interessierte mich, und ich begann mich mit dem Phänomen der Verführung zu befassen. «Verführung» war bei uns am PSZ ein geläufiger Ausdruck, dank Fritz Morgenthalers Diktum, dass eine Analyse nie ohne Verführung zustande komme. Während gut zwei Jahren studierte ich die vielfältigen Facetten dieser The matik, begann mit Freuds erster These zur Hysterie, seiner Annahme, dass im mer ein sexueller Missbrauch hinter dieser Neurose stecke, dann verfolgte ich im Briefwechsel von Freud und Wilhelm Fliess, wie er zum Aufgeben der Ver­ führungstheorie kam. Des weiteren befasste ich mich mit den Übertragungs­und Gegenübertragungs­Dynamiken in der klinischen Praxis und schliesslich auch mit der Gefahr der missbräuchlichen Verführung in der psychoanalytischen Praxis. Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 23 Im Juli 1993 hielt ich dazu einen Vortrag «Auf den Spuren der Verführung in der Psychoanalyse». Es war mein allererster psychoanalytischer Vortrag überhaupt, meine Form der Selbstdeklaration. Dies nach gut zwanzigjähriger psychoanaly ­ tischer Praxistätigkeit. Bevor ich es wagte, die Arbeit am PSZ vorzustellen, hielt ich den Vortrag auf italienisch im Seminar in Bologna. Es war eine Art bewusster Hauptprobe. Das PSZ war zu nah, zu gefährlich wohl auch. Bei einem Misslingen stand mehr auf dem Spiel. Zur Hauptprobe in Italien gibt es eine unvergessliche Anekdote: Nach dem Vortragen war es in Bologna üblich, dass einem das Honorar bar bezahlt wurde, was man direkt schriftlich quittierte. Der Leiter des Seminars – im übrigen ein intelli­ genter, sympathischer Psychiater, Psychoanalytiker – überreichte mein Honorar meinem neben mir stehenden Ehemann Pedro und bat ihn, den Erhalt schriftlich zu bestätigen. Ich war fassungslos und Pedro etwas verwirrt. Das «Versehen» wurde natürlich kommentarlos schnellstens korrigiert (Frau ist ja gut erzogen). 1994 konnte ich den Freitagszyklus des Seminars organisieren: «Fe mi nis ­ tische Theorien in Psychoanalyse, Philosophie, Literaturwissenschaft und Ge ­ sellschaftskritik. Berührungspunkte, Spannungsfelder, Kontroversen». Daraus ent­ stand der Sammelband: «Widerspenstige Wechselwirkungen». Von den Au torinnen, die dazu beitrugen, wurde später auch Lilli Gast regelmässig ans Seminar ein­ geladen. Anna Koellreuters Beitrag hiess: «Feministisch­psychoanalytische Weib­ lichkeitskonzepte: Wie steht es mit den Trieben?» Im Jahr 2000 erschien ihr Buch «Das Tabu des Begehrens. Zur Verflüchtigung des Sexuellen in Theorie und Praxis der feministischen Psychoanalyse». Koellreuter hat in den letzten 20 Jahren immer wieder Artikel und Bücher zu diesem Themenkreis publiziert. Sie ist die konsequen­ teste Forscherin auf diesem Gebiet in unserem Seminar. Der Freitagszyklus im Wintersemester 1996/97 mit dem Titel «Vom Umgang mit der Homosexualität» wurde von Dorothea Burkhard­Eggli und Eric Winkler organisiert. Sie befassten sich – für damalige Verhältnisse – mutig und erfolgreich mit dem tabuisierten Thema. Ich begann mich mit Sigmund Freuds (beunruhigender) These vom «femi ­ ninen Masochismus» auseinanderzusetzen. Mich interessierte das Masochistische im Alltagsleben, die Frage, wann masochistische Verhaltensweisen unvermeid­ bar sind und inwiefern diese rätselhafte Konfliktbewältigungsstrategie Frauen und Männern zur Verfügung stehen, also nichts spezifisch Weibliches sind. Die Li teraturwissenschaftlerin Verena Ehrich ­Haefeli lud mich an die Universität Genf ein, wo ich einen Vortrag dazu hielt. 2000 sprach ich im am PSZ darüber: «Aus Leiden Freuden? Im Labyrinth des femininen Masochismus.» Später noch 24 Ita Grosz-Ganzoni an der Universität von San José/Costa Rica, wohin mich Ursula Hauser einlud. Das Interesse der StudentInnen und die leidenschaftliche Diskussion danach sind mir unvergesslich. Die spanische Version dieser Arbeit wurde in der Zeitschrift «Giros de Aspas», No. 6, 2002 veröffentlicht und Teile davon dann auch in der argentinischen psychoanalytischen Zeitschrift «Topia». Die Thematik des «femi­ ninen Masochismus» fand eindeutig mehr Resonanz bei lateinamerikanischen KollegInnen als hier. Überhaupt ist die Diskussion rund um die psychoanalyti­ schen Vorstellungen weiblicher und männlicher Sexualität mit italienischen und argentinischen KollegInnen für mich speziell bereichernd, u. a. weil sie von einer andern Kultur geprägt sind. Im «Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe» von W. Mertens und B. Waldvogel (2000) findet sich der hervorragende Beitrag «Gebär(mutter)neid» von Brigit Barth, einer früheren Teilnehmerin des PSZ. Sie zeigt auf, wie der Wunsch des männlichen Kindes und des erwachsenen Mannes, die weiblichen Geschlechtsorgane zu besitzen und der daraus resultierende Uterusneid nachge­ wiesen werden kann, u.a. an der männlichen Darstellung der weiblichen Sexualität. 2003 entstand der Sammelband «Koordinaten der Männlichkeit. Orien­ tierungsversuche», den wir zu fünft herausgaben: Sylvia von Arx, Sabine Gisin, Andreas Sidler, Monika Leuzinger und ich. Konzepte von Männlichkeit in der Psy cho analyse und in angrenzenden Wissenschaften wurden vorgestellt. Wieder ent standen die Beiträge – diesmal nur von männlichen Kollegen – aus einer Vor­ tragsreihe des PSZ. Die Dekonstruktion der konservativen Weiblichkeitstheo­ rien führ ten unserer Ansicht nach zwangsläufig auch zur Frage nach der ande­ ren Hälf te des «dark continent»! Ausser dem Arbeitstitel wurden keine weiteren Vor gaben an die Referenten gemacht. Die Überprüfung der psychoanalyti­ schen Männlichkeitskonzepte kamen zu der Zeit erst ausserordentlich zaghaft in Gang. Ich zweifle etwas, ob dies in der Zwischenzeit anders geworden ist. Der fulminante Auftakt war die Arbeit von Rolf Pohl «(…) vom Liebhaber zum Lust mörder. Die Legierung von Sexualität und Aggression in der männlichen Ge schlechtsidentität.» Es sollte nicht der einzige Beitrag werden, der sich – für uns Herausgeberinnen unerwartet – mit der Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Gewalt befasste. Das Thema durchzog in unterschiedlichem Ausmass alle Texte der «Männlichkeitskonstruktionen». Dazu zitiere ich aus meinem Vorwort: «Ist Männlichkeit in erster Linie über Gewalt und Bedrohung zu verstehen? Wo sind die andern Aspekte? Auf der Strecke oder verborgen geblieben ist nach unserer Meinung diejenige Hälfte des ‹Mannseins›, welche volkstümlich mit ‹Schwäche› gleichgesetzt wird: Wünsche und Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 25 Bedürfnisse nach Geborgenheit, emotionaler Resonanz, Zärtlichkeit und Hingabe. Die Tatsache, dass in den vorliegenden Arbeiten eine Auseinandersetzung mit diesem emotionalen Bereich und damit die Akzeptanz und der Einschluss weit­ gehend fehlen, weist deutlich auf die Schwierigkeit und Komplexität eines solchen Unterfangens hin.» Vielleicht könnte man bei der Weiterführung der Diskussion das Augenmerk auf folgende Fussnote von Freud richten: «Es ist übrigens merk­ würdig, ein wie geringes Mass von Aufmerksamkeit der andere Teil des männlichen Genitales, das Säckchen mit seinen Einschlüssen, beim Kinde auf sich zieht. Aus den Analysen könnte man nicht erraten, dass noch etwas anderes als der Penis zum Genitale gehört» (1923, S. 295). Zurück zur Gegenwart: Im September 2021 erschien «Leidenschaftlich ana­ lytisch», Texte von Sophinette Becker zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse. Sophinette Becker (1950–2019) war auch am PSZ ein hochgeschätzter Gast, eine gute Kollegin und Freun din, ihre Vorträge waren immer rege besucht und beliebt. Als erfahrene Se xualwissenschaftlerin und Analytikerin richtete sie kri­ tisch und gradlinig ihre Aufmerksamkeit auf Bereiche, die häufig tabuisiert sind: Geschlechtsidentität und AIDS, Transgender, weibliche Perversion, Aggressivität bei Frauen. Themen rund um Sexualität und Geschlecht werden im PSZ inzwischen regelmässig in verschiedenen Kursen diskutiert. Im Sommersemester 2021 orga­ nisierte ich zusammen mit Yvonne Schoch, Nicole Burgermeister und Laura Wolf per Zoom das Seminar «Stationen auf dem unübersichtlichen Weg durch die psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien, Debatten, Kontroversen und Entwicklungen.» Das Interesse der weiblichen Teilnehmer war sehr gross, von den männlichen war leider nur einer dabei. Mit dem Beitrag von Nicole Burgermeister «Die Entwicklung der Gender ­und Queer­Theorien und die Psychoanalyse» rückte auch die Frage ins Blickfeld, welchen Platz den psychoanalytischen und feministi­ schen Sichtweisen in diesen Debatten eingeräumt wird. Ob die Psychoanalyse mit ihren kritischen, unbequemen Fragen einmal mehr und der Feminismus sowieso zum alten, obsolet gewordenen Eisen geworfen werden soll. Nun, es liegt an uns PsychoanalytikerInnen, ob wir dies geschehen lassen. Literatur Barth, B. (2000). Gebär(mutter)neid. In W. Mertens & B. Waldvogel (Hrsg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (S. 216–220). Kohlhammer. Becker, S. (2021) Leidenschaftlich analytisch. In M. Hauch & A. Koellreuter (Hrsg), Geschlecht und Psychoanalyse (Hrsg.). Psychosozial­Verlag. 26 Ita Grosz-Ganzoni Brogle, I. (1987). Der Blinde Spiegel. In Psychoanalytisches Seminar Zürich (Hrsg.), Bei Lichte betrachtet wird es finster, FrauenSichten (S. 121–138). Athenäum. Chodorow, N. (1985). Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. Frauenoffensive. Chodorow, N. (1999). La Psychanalyse et les Femmes Psychanalystes. In S. de Mijolla­Mellor (Hrsg.), Perspectives Psychanalytiques (S. 11–32). L’ésprit du Temps. Eicke­Spengler, M. (1988). Über Schuld­ und Schamgefühle bei Frauen. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 3, 77–93. Eicke­Spengler, M. (2002). Über Analität bei Frauen. Zeitschrift für psychoanalyti- sche Theorie und Praxis, 17, 23–30. Freud, S. (1923). Die infantile Genitalorganisation. GW XIII. Freud, S. (1925a). Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechts­ unterschieds. GW XIV, (S. 17–30). Gast, L.(1996). Subjektwerdung und Geschlechtskonstitution. Die Erkenntnislogik der Freudschen Psychoanalyse und ihre Bedeutung für den feministischen Diskurs am Beispiel des Subjektbegriffs. In I. Grosz­Ganzoni (Hrsg.), Widerspenstige Wechselwirkungen (S. 85–114). edition diskord. Grosz­Ganzoni, I. (1992). Auf den Spuren der Verführung in der Psychoanalyse. Werkblatt, 40(1), 51–81. Grosz­Ganzoni, I. (Hrsg). (1996). Widerspenstige Wechselwirkungen. Feministische Perspektiven in Psychoanalyse, Philosophie, Literaturwissenschaft und Gesellschaftskritik. edition diskord. Grosz­Ganzoni, I. (2000). De sufrimiento, placer? Giros de Aspas, 6, 54–69. Hosmann, A., Amstutz, P. & Belgeri, S. Zürcherinnen, die sich für Frauen stark machen. Tagesanzeiger Züritipp, 03.02.2021. Koellreuter, A. (2000). Das Tabu des Begehrens. Zur Verflüchtigung des Sexuellen in Theorie und Praxis der feministischen Psychoanalyse. Psychosozial­Verlag. Langer, M. (1988). Mutterschaft und Sexus. Körper und Psyche der Frau. Kore. (Originalarbeit 1953 publiziert). Lieberherr E. (1969). Rede beim Marsch auf Bern (Auszüge). Stadtarchiv, Zürich, Nachlass Emilie Lieberherr. Liebsch, K. (2014). Von der friedfertigen Frau zur unlesbaren Wut. Feminismus und Psychoanalyse damals und heute. In C. Schrader & I. Moeslein­Tei­ sing (Hrsg.), Keine friedfertige Frau. Margarete Mitscherlich-Nielsen, die Psy- choanalyse und der Feminismus (S. 105–125). Psychosozial­Verlag. Pionierinnen im Dickicht der psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien 27 Mitchell, J. (1985). Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauen-Bewegung. Suhrkamp. Mitscherlich­Nielsen, M. (1975). Psychoanalyse und weibliche Sexualität. Psyche, 29(9), 769–788. Nadig, M. (1987). Mutterbilder in zwei verschiedenen Kulturen. Ethno psycho­ analytische Überlegungen. In Psychoanalytisches Seminar Zürich (Hrsg.), Bei Lichte betrachtet wird es finster, FrauenSichten (S. 81–104). Athenäum. Pfeiffer, E. (Hrsg.). (1966–1980). Sigmund Freud, Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. S. Fischer Verlag. Rohde­Dachser, C. (1991). Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Springer. von Arx, S., Gisin, S. Grosz­Ganzoni, I. Leuzinger, M. & Sidler, A. (Hrsg.). (2003). Koordinaten der Männlichkeit. Orientierungsversuche. editition diskord. Angaben zur Autorin Ita Grosz-Ganzoni, geb. 1944, ist seit 1971 Teilnehmerin des PSZ und arbei­ tet in freier Praxis als Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin und Supervisorin in Zürich. Lehrtätigkeit am PSZ. Publikationen zu verschiedenen Themenbereichen. «Auf den Spuren der Verführung in der Psychoanalyse» (1992, Werkblatt 40, S. 51–81). Zum weibli­ chen Masochismus, «De sufrimiento, placer?» (2000, Giros de Aspas 6, S. 54–69). «Psychoanalyse und Setting» (2008, Journal 49, Seismo Verlag, S. 99–109). “Where is Psychoanalysis Today? Questions and Answers.” (2016, Psicoterapia e Scienze umane, Verlag FrancoAngeli, S. 482). Herausgeberin und Mitherausgeberin von je einem Sammelband mit kri­ tischen Betrachtungen der psychoanalytischen Konstruktionen von Weiblichkeit, beziehungsweise Männlichkeit: «Widerspenstige Wechselwirkungen» (1996, edition diskord), «Koordinaten der Männlichkeit» (2003, edition diskord).
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