Ausgehend von meiner leidenschaftlichen adoleszenten Frauenstimmrechtsmission in den frühen 60er-Jahren an einem katholischen Mädchengymnasium gehe ich auf eine historische transgenerationelle Spurensuche. Diese führt zu meiner Ur-Ur-Grossmutter mütterlicherseits, einer Frauenrechtlerin und Aktivistin der frühen bürgerlichen Frauenbewegung in der Schweiz der vorletzten Jahrhundertwende und zu ihrer Enkelin, meiner Grossmutter. Dann mache ich einen Abstecher an einen Abend der Freudschen Mittwochsgesellschaft im Mai 1907, an welchem das Thema «Weibliche Ärzte» zur Debatte steht und Freud eine verminderte Fähigkeit der Frauen zur Sublimation postuliert. Auf dem Weg über meine Mutter und meinen Vater endet meine Spurensuche mit der Geburt der Neuen Frauenbewegung im November 1968.
Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 28–42
Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle
Spurensuche mit einem Abstecher an eine Freudsche Mittwochsgesellschaft im Mai 1907
Bigna Rambert (Zürich)
Zusammenfassung: Ausgehend von meiner leidenschaftlichen adoleszenten
Frauenstimmrechtsmission in den frühen 60er-Jahren an einem katholischen
Mädchengymnasium gehe ich auf eine historische transgenerationelle Spu-
rensuche. Diese führt zu meiner Ur-Ur-Grossmutter mütterlicherseits, einer
Frauenrechtlerin und Aktivistin der frühen bürgerlichen Frauenbewegung in
der Schweiz der vorletzten Jahrhundertwende und zu ihrer Enkelin, meiner
Grossmutter. Dann mache ich einen Abstecher an einen Abend der Freudschen
Mittwochsgesellschaft im Mai 1907, an welchem das Thema «Weibliche Ärzte» zur
Debatte steht und Freud eine verminderte Fähigkeit der Frauen zur Sublimation
postuliert. Auf dem Weg über meine Mutter und meinen Vater endet meine
Spurensuche mit der Geburt der Neuen Frauenbewegung im November 1968.
Schlüsselwörter: Bürgerliche Frauenstimmrechtsbewegung, «weibliche Ärzte»,
Sublimierungsleistungen von Frauen
Meine Gymnasialzeit verbrachte ich in den 60er-Jahren in einem ka tho-
lischen Mädcheninternat in Fribourg. In dieser Zeit war ich in meiner Schul-
klas se wiederholt mit zwei Themen in der Minderheit; eines davon war das
Frau en stimmrecht, welches ich heftig befürwortete. Die vom Menzinger Orden
ge führte kantonale Mittelschule galt damals als fortschrittlich. Meine externen
Klassenkameradinnen lebten zuhause bei ihren Familien. Die internen Mädchen –
wie ich – waren Töchter aus dem katholischen oberen Mittelstand aus allen Kan-
tonen der Schweiz. Beim zweiten umstrittenen Thema handelte es sich um die Gründung der
Migros Genossenschaft. Beide Themen waren Idealvorstellungen meiner debat-
tierfreudigen Mutter. Ich stand völlig im Banne ihrer heftigen sozialpolitischen
Dispute. Sie war für das Frauenstimmrecht und für die neu gegründete Migros
Genossenschaft. Der Schweizerische Bund der Migrosgenossenschafterinnen
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Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche (…) 29
wurde 1957 mit dem Zweck gegründet, für die Gleichberechtigung der Frauen im
Staat einzutreten. In einer obligatorischen Exerzitienwoche im Internat hielt ich einmal mehr
ein leidenschaftliches Plädoyer für das Frauenstimmrecht. Religiöser Leiter dieser
Woche war ein Jesuitenpater aus Zürich. Seine Einstellung zu Frauen und zum
Frauenstimmrecht blieb für mich unklar. Er nahm nach den Exerzitien mit mir
brieflich Kontakt auf. Das Frauenstimmrecht liege ihm noch «unverdaut auf dem
Magen». Deshalb habe er mich «noch nicht vergessen können», schrieb er mir –
der 17-jährigen – mit der damals üblichen Anrede «Fräulein». Dass mich diese
Autoritätsperson zur Kenntnis genommen hatte, erfüllte mich damals mit Stolz.
Gleichzeitig war ich wegen seiner anbiedernden – heute würde ich sagen paterna-
listischen – Geste unangenehm berührt. Viel mehr hätte ich mir gewünscht, dass
meine Klassenkameradinnen meine Ideale zum Frauenstimmrecht vollumfänglich
mit mir geteilt hätten. Doch sie hatten andere Familientraditionen, meine leiden-
schaftlich-radikalen emanzipatorischen Dispute waren ihnen fremd. Um die Wurzeln meiner adoleszenten Frauenpower fürs Frauenstimmrecht
zu ergründen, werde ich fast 200 Jahre zurückblicken. Meine Vorfahrinnen mütterlicherseits waren christliche, gebildete und
bür
gerlich moderne Frauen, wie sie die Aufklärung hervorgebracht hatte. Ihre
unterschiedlichen Frauenleben waren jedoch geprägt von den jeweils historischen,
geographischen, sozialen, ökonomischen und zeitpolitischen Umständen ihrer
Lebenssituation. Meine Ur-Ur-Grossmutter mütterlicherseits war um die vorletzte Jahr -
hundertwende im hohen Alter eine aktive und geachtete Frauenrechtlerin der bür -
gerlichen Frauen- und Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz. Wir nannten
sie familienintern «CCC»: Caroline Catherine Caviezel (verh. Stocker). Ich werde
in der Folge dieses Kürzel benützen. Bei meiner Bündner Grossmutter, der Enkelin von CCC – von uns «Tatta»
genannt – hingen an der Wand dunkle Ölportraits der Vorfahren mütterlicher -
seits. Aus schweren Goldrahmen blickten mich fremdartig gekleidete Männer und
Frauen mit sehr ernsten Gesichtern an. Unter ihnen war auch die junge CCC in
einer hochgeschlossenen weissen Rüschenbluse und einer weissen Rose auf der
Brust. Von ihr sprachen alle in meiner Familie – auch mein Vater – mit Respekt. CCC kam 1829 in einer protestantischen Bündner Auswandererfamilie zur
Welt. Ihre bäuerlichen Vorfahren waren auf der Suche nach Arbeit Mitte der 1780er-
Jahre aus dem bündnerischen Schams ins Baltikum ausgewandert und wurden als
Zuckerbäcker und mit Weinhandel vermögend. Die Beziehungen zu Schams und
30 Bigna Rambert
zum Bündnerland hatten sie nie abgebrochen. CCC’s Familie reemigrierte 1845
nach Chur. Der 16-jährigen CCC, der ältesten Tochter, fiel der Abschied von Riga
anfänglich schwer. Die Familie Caviezel führte nach ihrer Rückkehr einen grossbürgerli-
chen Lebensstil mit Dienst- und Lehrerpersonal im geräumigen Anwesen einer
ehe ma ligen Brauerei – schon damals in Chur als das «Rigahaus» bekannt. Die
Kern familie umfasste eine grosse Kinderschar. Auch Waisenkinder aus der Ver -
wandtschaft gehörten dazu. Regelmässig gab es gesellschaftliche Anlässe wie Bälle,
Kutschenfahrten, Theaterbesuche, eigene Theaterproduktionen, zum Teil mit den
Eltern, zum Teil in der Peergroup unter Achtung der damaligen Konventionen und
Spielregeln der gesellschaftlichen Oberschicht. Die bäuerlichen Caviezels aus dem
Schams waren nach ihrer Reemigration im Bündner Patriziat angekommen. Im
Kontext meiner jetzigen Spurensuche transkribierte ich ein Tagebuch von CCC. Sie
schreibe Tagebücher, um zur «Selbstkenntniss» zu gelangen, notiert die 19-Jährige. Ihrem Tagebuch vertraute sie ihre heimliche Liebesgeschichte mit einem
ihrer Hauslehrer, dem neun Jahre älteren Gustav, an: eine Lovestory mit heimli-
chen Be gegnungen, leidenschaftlichen Küssen, gegenseitigen Eifersüchteleien,
Verfügungsansprüchen, Rückzügen, heftigsten Liebeszweifeln und adoleszenten
To des sehnsüchten à la Werther. Erklärungen und «Selbstkenntniss» für ihr Liebes-
und Herzeleid findet die junge CCC bei Dichter*innen und Schriftsteller*innen der
Romantik, aber auch in der Bibel und in christlichen Liedtexten. Entsprechend
ihren Stimmungen schreibt sie Gedichtzeilen oder ganze Verse in ihr Tagebuch.
Manchmal zitiert sie aus männlicher Perspektive geschriebene Verszeilen in weib-
licher Form. Nach über einem Jahr offenbart sie diese heimliche Liebe selbstbewusst
dem Vater und der Mutter:
Dienstag sagte mir Vater daß er v. keinem Verhältniß zw. St.
(B. R. = Gustav) u. mir wiße, daß er keines anerkenne, da ich ihn
nicht um Erlaubniß gefragt einen solchen Schritt zu thun u. er nur
mit Schmerzen sehe daß sein Kind ihn gethan ohne XXX
des Segens
der Eltern zu warten. Armer Vater! wohl hattest Du hier Recht! wohl
hatte Deine Tochter anders gehandelt, aber war sie schuldig? Die
Herrschaft über meine Hand hatte ich seit meinem ersten Denken
über solche Dinge den Eltern zuerkannt, aber die über das Herz
niemals. Dieses konnte, wollte nur ich selbst vergeben, frei v. jedem
Zwang. (aus CCCs Tagebuch, Eintrag vom 15.04.1849)
Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche (…) 31
CCC heiratete ihren Gustav, der an der ETH Zürich Mathematikprofessor
wurde. Das Paar lebte in Zürich und Umgebung und CCC begann über Gustav in
Zürichs bürgerlichen intellektuellen Kreisen zu verkehren. Wie es damals üblich
war, wurde auch sie als «Frau Professor» angesprochen, obwohl sie selbst – zwar
belesen – keinen Beruf erlernt hatte. Das Paar bekam sechs Kinder. Ein Knabe starb
bald nach der Geburt, zwei Mädchen wurden keine zehn Jahre alt. Damals war ein
solches Mutter- und Elternschicksal keineswegs unüblich. Auch die älteste Tochter
von CCC, meine Urgrossmutter, starb bereits mit 43 Jahren. Ihre Tochter Emmy,
meine spätere Tatta, wurde 11-jährig Halbwaisin. Zur bürgerlichen Frauenrechtlerin wurde CCC über ihr gemeinnütziges
Engagement. 1888 trat sie dem Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenverein
(SGF) bei. Über diesen Verein – wahrscheinlich aber auch über die Berufserfahrun-
gen der erwähnten früh verstorbenen Tochter, einer Lehrerin – lernte sie die dama-
lige Bildungsmisere von Frauen aus der Unterschicht kennen. Nächste schriftliche Spuren von CCC finden sich ab 1903 in der neu gegrün-
deten Zeitschrift «Frauenbestrebungen» (ab 1909 mit dem Untertitel «Zürcher
Stimmrechtsverein»). CCC war bereits ab der zweiten Nummer Mitglied in der Redaktion. Diese
Zeitschrift war das offizielle Monatsorgan der bereits 1896 gegründeten und als
fortschrittlich geltenden Union für Frauenbestrebungen, in deren Vorstand CCC
seit der Gründung war.
1
Im Juni 1904 – damals war CCC bereits 75-jährig – nahm sie als Delegierte
des Bundes Schweizerischer Frauen am internationalen Frauen-Kongress in Berlin
teil (IWC – International Womens Council). In den «Frauenbestrebungen» berich-
tete sie damals und auch später enthusiastisch über ihre vielen Begegnungen mit
Mitstreiterinnen für das Frauenstimmrecht aus der ganzen Welt und über deren
Kämpfe und Errungenschaften. Es hatte sich 1905 – trotz den damals erschwer-
ten Reisemöglichkeiten – sowohl in Europa als auch in die USA ein eigentliches
internationales Frauen-Netzwerk gebildet. Heute würde man von der Seniorin
CCC sagen, sie sei eine Aktivistin. In der Schweiz kam es aber erst 1909 nach heftigen jahrelangen Differenzen
vieler lokaler kleinerer Stimmrechtsverbände – lange nicht alle votierten für ein
integra les Frauenstimmrecht – zu einem gesamtschweizerischen Zusammenschluss
im Schweizerischen Verband für das Frauenstimmrecht (SVF). Die Debatten unter den bürgerlichen Stimmrechtsbefürworterinnen
in jener Zeit kreisten um die dualistische Argumentation (Differenz) versus die
ega litäre Argumentation (Gleichheit) im Kontext des Geschlechterverhältnisses.
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Mit zwei Standardvorträgen «Was wir wollen» (Rechte) und «Was wir sollen»
(Pflichten) versuchte CCC in ihren Vorträgen den Spagat zwischen diesen beiden
Positionen:
Wir wollen mit dem Manne Arbeit und Last des Lebens tragen und
seine Pflichten erfüllen, aber nach Gesetzen, die uns nicht oktro-
yiert sind, sondern bei denen wir mitberaten. Mit der Pflicht der
Arbeit wollen wir auch überall das Recht für dieselbe. Tüchtigkeit
und Leistungsfähigkeit sollen auf allen Gebieten entscheiden
und nicht das Geschlecht […] Wir wollen zum besten der ganzen
Menschheit wie der Frauen statt der bisherigen Mannesrechte –
Menschenrechte. («Frauenbestrebungen» 1906, Heft 4, S. 30 f.)
Das
liegt vor uns – wieviele denken an das ? [...]
Unser Sollen geht nach drei Richtungen: gegen sich selbst, gegen
die Familie und gegen die Allgemeinheit […] Nicht von ungefähr
stellen wir das an erste Stelle.
Die Zeit ist hoffentlich vorüber, da die Frau(en) kein Ich haben, da
sie nur demütig und gehorsam der Familientradition folgen soll
[…] Das Sollen der Frau in der Familie ist fast unbegrenzt. Je besser
vorbereitet die Frau auch hier ist, desto besser wird sie ihre Pflichten
als Hausfrau und Mutter erfüllen […] Dass die Frau unserer Tage
ernste Pflichten nach Aussen zu erfüllen hat, wird leider noch zu
wenig verstanden […] («Frauenbestrebungen», 1907, S. 38 f.)
Meine Grossmutter Tatta hatte nach dem bereits erwähnten frühen Tod
ihrer Mutter zu ihrer Grossmutter CCC eine sehr enge Beziehung. Von CCC und
auch von ihrem Vater – einem Freimaurer – gefördert und unterstützt, begann
sie anfangs des letzten Jahrhunderts ein Medizinstudium. Ich vermute, dass die
Begegnung mit der ersten Schweizer Ärztin Marie Heim Vögtlin in ihrer frühen
Kindheit diese damals für junge Frauen noch unübliche Studienwahl förderte.
Marie Heim Vögtlin war eine enge Familienfreundin. Sie war die behandelnde
Ärztin sowohl des jüngeren Bruders von Emmy, der 6-jährig starb, als auch ihrer
früh verstorbenen Mutter. Tatta schloss ihr Medizin-Studium 1907 mit dem Staats-
examen ab und eröffnete in Ilanz in der Surselva eine eigene Praxis, in welcher sie
bis zu ihrem 77. Lebensjahr als Hausärztin tätig war. Die betagte CCC hatte 1909 die
Praxiseröffnung ihrer Enkelin – damals die zweite Frau im Kanton Graubünden mit
Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche (…) 33
einer eigenen Praxisbewilligung – noch miterleben können. Bei all diesen Schritten
halfen Emmy wohl CCCs unkonventioneller pragmatischer Pioniergeist und mein
Grossvater, ein Bündner Kommilitone aus dem Studium. Und nun erlaube ich mir einen kleinen Abstecher nach Wien ins Fin de
Siècle. Der Zufall wollte, dass ich bei der jetzigen Recherche in den «Frauen be-
strebungen» auf eine kleine Buchbesprechung von CCC stiess. Im Februar 1906
empfiehlt sie «allen denkenden Frauen» das Buch «Zur Kritik der Weiblichkeit»
von Rosa Mayreder («Frauenbestrebungen, 1906, Heft 2, S. 16). Ich kannte diese
Frauenrechtlerin und autodidaktische Philosophin der Frauenbewegung des Wie-
ner Fin de Siècle bisher nicht, und es soll hier weder ihr komplexes und auch
widersprüchliches Werk noch ihre glücklose Begegnung mit Sigmund Freud zur
Di kussion stehen, den sie in einem Tagebuch «[einen] so hervorragender[n] Dia-
lektiker der Psychologie […] und überdies ein[en] Monoman[en] seines Systems»
nennt (Anderson, 1994, S. 219). Rosa Mayreder war Aktivistin und Mitglied des Allgemeinen Österreichi-
schen Frauenvereins. Dieser Verein setzte sich u. a. auch für die Zulassung von
Frauen zum Studium ein. Frauen wurden in Österreich erst ab 1897 zum Studium
zu
gelassen. Österreich gehörte somit zu den Schlusslichtern Europas – im Ge -
gensatz zu Zürich. Über meine Beschäftigung mit Rosa Mayreder stiess ich bei der
jetzigen Spurensuche über meine Vorfahrinnen auf ein Protokoll der Freudschen
Mittwochsgesellschaft vom 15.05.1907. Acht Herren – mit Freud sechs Ärzte, ein Musikkritiker und ein Germanist –
diskutieren an jenem Mittwochabend über einen Aufsatz mit dem Titel «Weibliche
Ärzte». Dieser Aufsatz war anfangs Mai 1907 unter dem Pseudonym «Avicenna»
in der Zeitschrift «Die Fackel» erschienen und stammte aus der Feder des Arztes
Fritz Wittels. Dass meine Tatta wenige Monate nach dieser Mittwochsrunde ihr
Medizinstudium in Zürich abgeschlossen hatte, war mir bei der Lektüre dieses
Protokolls natürlich präsent. Nunberg und Federn (1962, S. 183–188) geben dem Leser, der Leserin die-
ses Protokolls «zum besseren Verständnis der Diskussion» zu Beginn eine kurze
Inhaltsangabe von Wittels’ Aufsatz:
[…] Die Frau studiere Medizin, weil sie andere Frauen übertreffen
wolle. Je hysterischer sie sei, als um so bessere Studentin erweise sie
sich […] sie könne so unmoralisch sein wie sie wolle […] Männer
die sich als Feministen ausgeben, in Wahrheit aber nichts anderes
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als Masochisten seien, mögen das Medizinstudium von Frauen
be grüssen; aber der gewöhnliche halbwegs gesunde Student halte
seine Kommilitonin für nichts anderes als eine Prostituierte […]
Niemals sollte es ihr [der Frau im öffentl. Gesundheitsdienst B. R.]
erlaubt sein, die Vorgesetzte eines männlichen Kollegen zu werden,
denn sie werde ihre Amtsgewalt immer missbrauchen. Schmeichelei
würde sie leicht dazu verführen, unverdiente Begünstigungen zu
gewähren; […] Wittels kommt, zusammenfassend, zu dem Schluss,
die Hysterie sei die Grundlage für den Wunsch der Frau, Medizin
zu studieren ebenso wie für Ihren Kampf um Gleichberechtigung.
Die Unterdrückung des weiblichen Prinzips habe die «wahre Frau»
wie man sie im alten Griechenland kannte, zum Verschwinden
gebracht.
Ich nehme vorweg, dass sich alle Anwesenden in dieser Runde in unter -
schiedlicher Weise inhaltlich kritisch von Wittels’ Thesen abgrenzten.
FEDERN bemerkt, dass Wittels es versäumt habe, auf die wirkliche
Frage des Frauenstudiums überhaupt einzugehen. Er befinde sich
in einem grossen Irr
tum, wenn er meine, die Sexualität sei der
einzige Trieb des Menschen […] Das Arbeitsbedürfnis ist nicht nur
in den sozialen Verhältnissen begründet, sondern es gehört zu einem
spät entstandenen Instincte des Menschen. Federn weist dann zur
Ergänzung von Wittels’ Einseitigkeit, auf die geile Perversität vieler
männlicher Aerzte hin und auf die Sexualausbeutung vieler Weiber
durch männliche Aerzte […] So viel Berechtigung könne man aller -
dings den Ausführungen Wittel’s unterlegen, dass es unzulässig ist,
Frauen an den Genitalien von Männern öffentlich manipulieren
zu lassen […].
GRAF hebt […] den grossen Affektaufwand hervor, mit dem Wittels
dieses sozialpsychologische Thema behandelt habe. Man könne
diesen inadaequaten Affekt nur dem Aerger Wittels’ darüber
zuschreiben, dass das Weib, statt zu koitieren Medizin studiert
[…] Was speziell den Beruf der Aerztin anbelangt, so könne die
Frau darin nie so Bedeutendes leisten wie der Mann […], weil ihr
die suggestive Kraft abgehe […] dieses Stück Priestertum […] Der
Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche (…) 35
weibliche Arzt, dem ein solches Mass von Autorität fehle, sei eher
geeignet, die Mutter zu ersetzen, und zwar als Krankenpflegerin.
REITLER möchte das meiste von Wittels’ Ausführungen unterschrei-
ben […] Einzelheiten möchte er dagegen ablehnen. So den unbe-
rechtigten Hass gegen die Hysterie oder die Allgemeingültigkeit des
Prinzips von Männerfang; die Weiber die ohne Nötigung Medizin
studieren, haben meist (aus Erkenntnis ihrer körperlichen Defekte)
ganz auf den Mann verzichtet.
HITSCHMANN hebt hervor, dass wir ja die «weiblichen Aerzte»
eigentlich gar nicht kennen, sondern nur die Studentinnen […]
Auch das in gewissem Sinne freie Verhalten der Studentinnen
(sie seien Prostituierte, heisst es) sei immer noch der verlogenen
Heuchelei so mancher virgo tacta (Gersuny) vorzuziehen. Wittels’
Artikel liege […] das […] Hetärenideal zugrunde […] Wittels
schwärme da von ei nem präsyphilitischen Zeitalter und wolle
uns nun das Uebermensch züchten. Aus seinem Aufsatz klingt
der Schrei des überbrünstigen Hirsches nach einer Be frie digung
(Anmerkung der Herausgeber: ist ein oesterreichi-
scher Dialektausdruck für eine unverheiratete Frauensperson, oft
im Sinne von verwendet).
FREUD spricht zunächst dem originellen, temperamentvollen
und scharfsichtigen Artikel Wittel’s seine Anerkennung aus […]
Vor allem sei Wittels ein Mangel an Galanterie im höheren Sinne
vorzuwerfen. Das Weib, dem die Kultur die schwere Last (besonders
die der Fortpflanzung) auferlegt habe, müsse mild und tolerant
beurteilt werden […] … Die Sexualität als Triebfeder des Studiums
habe Wittels ganz richtig hervorgehoben […] Die Verschiebung der
Sexualität zur Wissbegierde liege jedoch jeder Forschung zugrunde
[…] Richtig sei, dass durch das Studium nichts für die Frau gewon -
nen sei und dass damit auch das Schicksal der Frauen im grossen
und ganzen nicht gebessert werde […] Die Frauen können sich
überdies in der Sublimierung der Sexualität nicht mit der Leistung
des Mannes messen […] Wir bemühen uns um die Aufdeckung der
Sexualität; […] Wir setzen an die Stelle der Verdrängung die nor -
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male Unterdrückung. Das sexuelle Problem sei losgelöst vom sozia-
len nicht zu lösen, und wenn man den elenden Sexualverhältnissen
die Abstinenz vorziehe, so abstiniere man unter Protest […] Ein
Weib, das wie die Hetäre, in der Sexualität nicht verlässlich sei, an
dem sei überhaupt gar nichts, sie sei ein Haderlump.
RANK […] Anknüpfend an Freuds Bemerkung vom Weiberhass
bemerkt Rank noch, (dass) […] Wittels’ Standpunkt: alles was das
Weib tue sei sexuell […] nur die Reaktionserscheinung seines frü-
heren Entwicklungsstadiums sei […] wo er das Weib als asexuell
auffasste.
ADLER findet […] Dass es Grenzen für die Medizin studierenden
Frauen gebe, sei eine alte Tatsache. Gelegentlich einer Rundfrage wurde
auch schon vorgeschlagen, zur Vorführung von Genitalaffektionen
spezielle Kurse für die studierenden Frauen zu veranstalten […]
Wittels hebe den Studentinnen den Rock auf und sage . Das sei aber nichts Charakeristisches für
die Studentin.
WITTELS fühlt sich durch ein Wort Freuds (die Hetäre sei ein
Haderlump) persönlich so betroffen, dass er auf die Einwendungen
augenblicklich nicht näher eingehen kann.
Das Protokoll dieses Mittwochabends zeigt anschaulich die komplexen
Ängs te, Sexualängste und -phantasien, auch Konkurrenzängste, schlicht die Ver -
unsicherungen dieser akademischen Männerrunde angesichts künftiger Me di-
zinerinnen. Die Diskutanten grenzen sich zwar mit je unterschiedlichen psycho-
analytischen Psycho- (Patho-) logisierungen des Referenten Wittels von dessen
rohen Thesen ab. Sie kippen dabei allerdings manchmal auch ins Zotige. Freud
schmeichelt dem Schüler Wittels in lehrerhafter Manier und kritisiert ihn gleich-
zeitig entschieden. Der Studienwunsch von Frauen Ärztin werden zu können,
wird zwar als sozialpsychologisches Thema definiert, aber ohne Bezugnahme auf
damalige Debatten. Hauptstossrichtung der Runde ist, diesen Wunsch von Frauen
im Kontext des damaligen psychoanalytischen Denkens zu deuten und ihm damit
in diesem Denken einen Platz zuzuweisen.
Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche (…) 37
Über die aktuelle reale Situation des Medizinstudiums von Frauen an
den Wiener Universitäten erfahren wir nichts. Persönliche Begegnungen mit
Me di zinstudentinnen oder den wenigen bereits praktizierenden Ärztinnen im
damaligen Wien scheinen die Diskutanten nicht zu kennen. Entwicklungen in
anderen europäischen Ländern, geschweige denn Stellungnahmen der Wiener
Frauenrechtsbewegung sind keine Themen. Und Fragen scheint es in diesem
Lehrer-Schülerkontext – die anwesenden Männer sind alle jünger als Freud – keine
zu geben, aber so etwas wie gegenseitige psychoanalytische wilde Deutungslust.
Die Stimmung ähnelt einem gehobenen Stammtischgespräch einer sexuell aufge-
ladenen Männersubkultur, in welcher über abwesende Frauen gesprochen wird. Denn nicht nur in Kreisen von Frauenrechtlerinnen gab es bereits seit
einer Dekade in Wien andere Stimmen zur brennenden zeitgenössischen Frage
des Frauenstudiums. Als ein Beispiel zitiere ich aus der Approbations-Rede des
Doktorvaters der ersten Ärztin in Österreich:
Da nun Frauen an Intelligenz und Willenskraft den Männern nicht
nachstehen, so ist nicht einzusehen, weshalb den Frauen höhere
Berufskreise verschlossen bleiben sollen […] wir können nur wie-
derholen, was wir bei früheren Gelegenheiten hervorhoben: Jahr für
Jahr sind Opfer zu beklagen, die nur darum zugrunde gingen, weil
sie aus Schamgefühl bei männlichen Aerzten keine Hilfe suchen
wollten […] wir wünschen daher, dass Frl. Dr. Gabriele Possaner
von Ehrenthal bald genügend weibliche Concurrenz erhalten.
( Wiener Sonn- und Montagszeitung, 1897, 5. April, S. 2 und S. 3)
Es war der Mittwochsrunde wohl kaum bewusst, wie sehr sie sich im Kontext
dieses Themas – trotz des aufklärerischen Impetus ihrer bisherigen Entdeckungen
und Theoretisierungen zur Bedeutung der Sexualität – in einer auch für ihre Zeit
sehr rückständigen, konservativen und männlich genderisierten Sublimationsblase
befanden. Und vor allem: Freuds inhaltlich theoretischer Beitrag, die von ihm postu-
lierte eingeschränktere Sublimationsfähigkeit der Frauen (im Gegensatz zu den
Männern) bleibt an diesem Mittwochabend in der Runde als theoretische Setzung
unhinterfragt im Raum stehen. Sie wird von Freud auch nicht begründet und seine
Mitdiskutanten hatten offensichtlich keine Fragen dazu. Die Anwesenheit einer
Frauenstimme hätte wohl den Ton an jenem Mittwochabend im Freudschen Sinne
38 Bigna Rambert
galanter gemacht. Seiner Setzung einer verminderten Sublimationsfähigkeit von
Frauen wäre sie kaum im Wege gestanden. Zwei Jahre vor diesem Mittwochabend beschäftigte sich Freud (1905) in
den «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» erstmals in seinen Schriften mit der
Sub limierung.
Die Kulturhistoriker scheinen einig in der Annahme, dass durch
solche Ablenkung sexueller Triebkräfte von sexuellen Zielen und
Hinlenkung auf neue Ziele, ein Prozess, der den Namen S u b l i -
m i e r u n g verdient, mächtige Komponenten für alle kulturellen
Leistungen gewonnen werden. (S. 79)
In der Zeit vor seiner Narzissmusarbeit dachte er bezüglich des Me cha nis mus
der Sublimierung an eine Triebanlehnung der Sexual- und Selbst er
hal tungstriebe.
Die nämlichen Wege aber, auf denen Sexualstörungen auf die übri-
gen Körperfunktionen übergreifen, müssten auch in der Gesundheit
einer anderen wichtigen Leistung dienen. Auf ihnen müsste sich die
Heranziehung der sexuellen Triebkräfte zu anderen als sexuellen
Zielen, also die Sublimierung der Sexualität vollziehen. Wir müs-
sen mit dem Eingeständnis schliessen, dass über diese gewiss vor
-
handenen, wahrscheinlich nach beiden Richtungen gangbaren
Wege noch sehr wenig Sicheres bekannt ist. (S. 107)
Ich finde in den «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» von Freud zur
weiblichen Sublimierungsfähigkeit kein vergleichbares Statement, wie es an der
besagten – zwei Jahre später stattfindenden – Mittwochsdiskussion geäussert wur -
de. Seine allgemeinen Äusserungen zur Sublimierung formuliert Freud in den «Drei
Abhandlungen» suchend und vorsichtig. Gemäss seinem Briefwechsel mit Fliess hatte Freud für die «Drei Ab hand-
lungen zur Sexualtheorie» ursprünglich den Titel «Die menschliche Bisexualität»
vorgesehen. Diese Titelveränderung war mir bis vor kurzem unbekannt. Dazu
Kadi (2016):
Für die […] Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Freud, 1905b)
hatte er zunächst den Titel Die menschliche Bisexualität vorge-
sehen (vgl. Freud 1962, Seite 287). Neben dem Wechsel des Titels
Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche (…) 39
sind zahlreiche Ueberarbeitungen und Ergänzungen, die Freud bis
1924 an den Drei Abhandlungen vornimmt, Ausdruck von Freuds
Perspektivenverschiebung […] Ueberlegungen zum individuellen
kreativen Umgang des Subjekts mit der menschlichen Bisexualität
rücken zunehmend in den Hintergrund. (S. 15)
Wie wir heute wissen, fokussierte sich Freud in seinen nachfolgenden
Theoretisierungen zunehmend auf ein psychogenetisches, ödipal männlich-
libidinös gedachtes Paradigma. Damit wurde auch sein Theoriegebäude zuneh-
mend normativ, respektive heteronormativ. Die weitere Erforschung der Bisexualität
als anthropologische Verfasstheit menschlicher Sexualität blieb auf der Strecke. Viele Jahre später, erst Mitte bis Ende der 80er-Jahre – angeregt durch die
Neue Frauenbewegung der 68er- und 70er-Jahre – wurden diese heteronorma-
tiven Konzepte der Psychoanalyse – damals unter dem Stichwort «phallischer
Monismus» – auch von Psychoanalytiker*innen ideologiekritisch hinterfragt. Ich will diesen Umweg ins Fin de Siècle Wiens nun verlassen und mich
nochmals meiner eigenen adoleszenten Leidenschaft und Passion für die Frauen-
Emanzipation zuwenden. Gäbe es so etwas wie eine transgenerationelle Weitergabe
von Leidenschaften – hätte mir diese Ur-Ur-ahnin so etwas in die Wiege gelegt –
dann wäre die Antwort einfach. Warum meine ältere pragmatische Schwester
davon «verschont» blieb, wäre dann schon eher erklärungsbedürftig. Und auch
bei meiner Tatta – der Enkelin von CCC – finde ich keine Hinweise für so etwas
wie ein leidenschaftliches Interesse an Frauenfragen. Tatta herrschte in meinen Kinderaugen souverän in ihrem Ilanzer-Frauen-
haushalt über eine ledige Tochter – unsere «Tante Gottä» –, die Haushälterin Julia,
die Hühner und Katzen, den grossen Garten und vor allem über ihr Heiligtum,
ihre Einliegerpraxis in ihrem Wohnhaus, zu welcher wir Kinder – ausser wenn wir
uns verletzt hatten oder krank waren – keinen Zugang hatten. Mein Grossvater
Tat war damals bereits gestorben. Tatta war fürsorglich, ernst, streng und auch
geheimnisvoll. In der Öffentlichkeit war sie eine Respektsperson – für mich, das
Kind, irgendwie anders als die anderen Ilanzer Frauen. Bleibt noch meine debattierfreudige Mutter. Sie diskutierte, wie bereits
eingangs gesagt, intrafamiliär die Frauenfragen leidenschaftlich, blieb jedoch eine
singuläre, gut informierte Rebellin. Als jüngste der drei Töchter meiner Ilanzer-
Grosseltern hatte sie in familiärer Tradition Medizin studiert und schloss ihr Stu dium
anfangs der 40er-Jahre ab. Als junge Ärztin ging sie während der Mobilmachung
freiwillig in den Frauenhilfsdienst. In meinen frühen Kindheitsjahren anfangs
40 Bigna Rambert
der 50er-Jahre war sie noch berufstätig. Sie gab die eigene Berufstätigkeit jedoch
vorübergehend zugunsten der zeitlich anstrengenden beruflichen Chirurgen-
Karriere meines Vaters auf, was sie später bereute. Die Ansprüche meiner Eltern
an einen ge pflegten Haushalt, Familien- und Lebensstil waren aufwändig. Es gab
keine le digen Haushälterinnen mehr wie beispielsweise «unsere Julia», die über
30 Jahre mit meiner Tatta zusammengelebt hatte. Und vor allem: Mitte der 50er-Jahre dümpelte die bürgerliche Frauen be-
wegung vor sich hin:
In den konservativen, vom Kalten Krieg geprägten 1950er Jahren
treten Frauenanliegen zunehmend in den Hintergrund. Die im
Privaten wirkende Hausfrau und Mutter wird wieder zum vor -
herrschenden Rollenbild […] Vorbild wird die gepflegte moderne
und fachkundige Gattin, Mutter und Hausfrau. (Frauen Macht
Geschichte, 1.2, S. 9)
Nicht verwunderlich also, dass 1959 das Frauenstimmrecht auf eidgenössi-
scher Ebene massiv abgelehnt wurde. Meiner Mutter gelang später – bereits über
50-jährig – der Wiedereinstieg ins Berufsleben und sie war bis 65 erneut berufstätig.
Damals war der berufliche Wiedereinstieg für Frauen noch nicht gesellschaftlich
erwünscht und gefördert. In den Kreisen meiner Mutter fehlten entsprechende
«Support-Gruppen» anderer Frauen. Auch sie selbst hat den Wert dieses emanzi-
patorischen Schrittes weder erkannt noch gewürdigt. Später während meinem Medizin-Studium in Zürich besuchte ich sie
manch mal am nahen Arbeitsplatz. Im fachlichen, aber auch im politischen Aus-
tausch über die universitären 68er-Ereignisse erlebte ich sie hellwach und kritisch
interessiert. Natürlich wissen wir, dass Leidenschaften vielschichtig determiniert sind
und viele Quellen haben können. Eine möchte ich noch kurz erwähnen: meinen
Vater. Von seiner grossen Achtung für CCC habe ich bereits geschrieben. In meinen
Kinderaugen schien er an ihr und ihrer Geschichte fast mehr interessiert zu sein als
meine Mutter. Erst viel später realisierte ich, dass ihn vor allem der grossbürgerliche
Lebensstil der Familie von CCC fasziniert hatte. Ihn, den grossen Ästheten, der in
einer beengten Dreizimmerwohnung aufgewachsen war und als erster in seiner
Familie studieren konnte. Folgerichtig las er später alle historischen Arbeiten, die
seit Mitte der 80er-Jahre zur Migration der Bündner und zur Migrationsgeschichte
einzelner Familien ins Zarenreich aufgearbeitet worden waren.
Meine Frauenbefreiung: eine transgenerationelle Spurensuche (…) 41
Eine Erzählung über CCC von ihm, eigentlich ist es nur eine kleine Anek-
dote, ein typisches Narrativ, hatte ich als Mädchen mehrmals gehört: CCC habe in
einem ihrer Tagebücher geschrieben: «In der Hochzeits-Nacht lernte ich ihn fürch-
ten» [B. R. den Ehemann Gustav]. Ich fand diese geheimnisvolle Anekdote äusserst
faszinierend. Irgendwie schienen sowohl mein Vater als auch meine Mutter über
diesen Tagbucheintrag von CCC amüsiert. Meine damaligen Mädchen-Phantasien
waren entfacht. Ich war über sexuelle Dinge – zumindest technisch – frühzeitig
und detailgetreu aufgeklärt worden. Dennoch tappte ich im Dunkeln. Ich habe bei der jetzigen Spurensuche im von mir beigezogenen Tagebuch
von CCC keinen solchen Satz gefunden. Das ist faktisch auch nicht weiter erstaun-
lich. Dieses Tagebuch endet mit ihrer Verlobung. Weitere Tagebücher von CCC aus
unserem Familienarchiv ruhen untranskribiert im Bündner Staatsarchiv in Chur. Wer die besagte Anekdote in Umlauf gesetzt hatte, ob sie gar meiner blü-
henden Mädchen-Phantasie oder derjenigen meines Vaters entstammte – ihre
Funktion im Dienste der Neugier war bei mir allemal gesetzt. CCC starb am 1. August 1914 mit 85 Jahren, 4 Tage nach der Kriegserklärung
von Österreich-Ungarn an Serbien, dem Beginn des ersten Weltkrieges:
Dem frauenpolitischen Aufbruch, der sich in der Schweiz unter an -
de
rem in der Gründung des Schweizerischen Verbandes für Frauen -
stimmrecht (1909) äussert, setzt der Erste Weltkrieg ein vor
läufiges
Ende. Auf internationaler Ebene bricht die Frauen be
wegung fast
vollständig auseinander. In der Schweiz stellen die Frauenverbände
ihre Forderungen nach politischer Mitbestimmung zurück. Die
bürgerliche Frauenbewegung engagiert sich statt dessen mit pat-
riotischem Elan in der Kriegswohlfahrtspflege und bemüht sich,
die Mobilisationskosten des Staates mitzutragen. (Frauen Macht
Geschichte, 1.2, S. 3)
Lange 54 Jahre waren seit CCCs Tod vergangen – in der Schweiz war das
Frauenstimmrecht immer noch nicht eingeführt. Und dann geschah im November
1968 etwas ganz Neues: Völlig unerwartet wurde im Schauspielhaus in Zürich die
Feier zum 75-jährigen Bestehen des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins – genau
jenes Vereins, dessen Mitstreiterin CCC seinerzeit gewesen war – von einigen jun-
gen, mutigen, frechen Frauen gestört.
42 Bigna Rambert
Es war die Geburtsstunde der Neuen Frauenbewegung im Kontext der lin-
ken 68er-Bewegung, in deren Strudel auch ich mitgerissen und in der Folge geprägt
wurde. Aber das wäre nochmals eine ganz andere Geschichte.
Literatur
Anderson, H. (1994). Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de siècle Wiens. Deuticke.
Caroline Caviezel, Staatsarchiv Graubünden, Tagebücher Januar bis Mai 1849, Sig. ASpIII/ 14r 1.15.8, Transkription Alexandra Donat.
Freud, S. (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V, S. 27–145. S. Fischer.
Frauen Macht Geschichte (1998). Frauen – und gleichstellungspolitische Ereignisse in der Schweiz. Eidgenössische Kommission für Frauenfragen, Bern.
Frauenbestrebungen. 1903–1921. E-Periodica.
Kadi, U. (2015). eXistenZ, Differenzen innerhalb der Psychoanalyse und zwischen den Geschlechtern. Psychoanalyse , Texte zur Sozialforschung, 19 I (S. 14–26).
Nun berg, H. & Federn, E. (1962 ). Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Ver -
einigung, Band I. 1906-0. S. Fischer.
Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, Fragmente von der Woche, Der erste weibliche
Arzt (S. 2–3). http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno ?aid=wsz (05.04.1897).
Anmerkung
1 Mit der Neuen Frauenbewegung der 70-er Jahre entstand eine grosse Forschungs-
welle zu Frauenthemen. Die Zeitschrift «Frauenbestrebungen» wurde von der Zürcher His-
torikerin Esther Burkhardt Modena erschlossen und archiviert.
Angaben zur Autorin
Bigna Rambert , Dr. med., von 1967–1974 Medizinstudium an der Universität
Zürich, Ausbildung zum FMH in Psychiatrie und Psychotherapie, Mitglied des
Psychoanalytischen Seminars Zürich seit den Anfängen an der Tellstrasse. E-Mail:
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