Schwerpunkt

In Schönheit gestorben? Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung aus dem Schattenreich

In seiner bisherigen Rezeption erzählt der Mythos von Orpheus und Eurydike von der Bewältigung des eigentlich Unmöglichen: Dem Verlust der geliebten Person, und dem Weiterleben nach dem Verlust. Eurydike wird dem Leben entrissen und in die Unterwelt entführt. Orpheus wandert die Erde ab und betritt schliesslich die Unterwelt, um seine Geliebte wiederzufinden. Nach endloser Suche erkennt er beim Blick zurück, dass sie für immer verloren ist. Der gescheiterte Rettungsversuch erlaubt ihm, den Verlust zu bewältigen, und weiterzuleben. Dieser Mythos und seine bisherige psychoanalytische Aufbereitung endet für die Frau mit dem letzten Blick, den ein Mann auf sie geworfen hat. Ein danach scheint es für sie nicht zu geben. Während Orpheus Eurydikes Verlorensein anerkennen muss und sich von ihr löst, bleibt Eurydike in der Unterwelt zurück. Für sie bleibt nur ein Ende ohne Bewältigung, und ohne Weitergehen. Durch meine Fokusverlagerung von Orpheus zu Eurydike als Subjekt des Mythos soll überlegt werden, ob Eurydikes Verlorengehen nicht alleine für den Tod, sondern auch für ein inneres Schattenreich stehen könnte. Anhand verschiedener psychoanalytisch-feministischer Überlegungen zur Figur der jung gestorbenen Frau möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht auch Eurydike einen ganz anderen Weg, als den uns bisher bekannten, gegangen sein könnte. Kann dieser andere Weg Eurydike möglicherweise aus der Unterwelt/dem inneren Schattenreich befreien?


Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 78–93 In Schönheit gestorben? Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung aus dem Schattenreich Carolin Serena Cyranski (Berlin) Zusammenfassung: In seiner bisherigen Rezeption erzählt der Mythos von Or pheus und Eurydike von der Bewältigung des eigentlich Unmöglichen: Dem Verlust der geliebten Person, und dem Weiterleben nach dem Verlust. Eurydike wird dem Leben entrissen und in die Unterwelt entführt. Orpheus wandert die Erde ab und betritt schliesslich die Unterwelt, um seine Geliebte wiederzufinden. Nach endloser Suche erkennt er beim Blick zurück, dass sie für immer verloren ist. Der gescheiterte Rettungsversuch erlaubt ihm, den Verlust zu bewältigen, und weiterzuleben. Dieser Mythos und seine bisherige psychoanalytische Aufbereitung endet für die Frau mit dem letzten Blick, den ein Mann auf sie geworfen hat. Ein danach scheint es für sie nicht zu geben. Während Orpheus Eurydikes Verlorensein anerkennen muss und sich von ihr löst, bleibt Eurydike in der Unterwelt zurück. Für sie bleibt nur ein Ende ohne Bewältigung, und ohne Weitergehen. Durch meine Fokusverlagerung von Orpheus zu Eurydike als Subjekt des Mythos soll überlegt werden, ob Eurydikes Verlorengehen nicht alleine für den Tod, son- dern auch für ein inneres Schattenreich stehen könnte. Anhand verschiedener psychoanalytisch-feministischer Überlegungen zur Figur der jung gestorbenen Frau möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht auch Eurydike einen ganz anderen Weg, als den uns bisher bekannten, gegangen sein könnte. Kann dieser andere Weg Eurydike möglicherweise aus der Unterwelt/dem inneren Schattenreich befreien? Schlüsselwörter: Trauerbewältigung, Griechische Mythologie, Weiblichkeitsbilder Zum Thema Innerhalb der Psychoanalyse ist der Mythos um Orpheus und Eurydike insbesondere als Trauermythos gedeutet und gelesen geworden. 1 Durch u. a. diese Lesart wurde er zu einem der schönsten und zugleich universalsten Mythen der griechischen Antike, und bis heute ranken sich Fragen um besonders eine Stelle: © 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jfp.63.6 In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 79 Warum blickte Orpheus zurück zu Eurydike – wissend, dass sie damit in der Un ter­ welt bleiben muss? Die Interpretation dieser Stelle ist aber nur eine Seite des Mythos, denn blicken wir auf Eurydike, gibt es vielleicht auch eine andere Geschichte zu erzählen. Eurydike geht an die Unterwelt verloren – die nicht alleine für den Tod, sondern, so meine Überlegung, auch für ein inneres Schattenreich stehen könnte, aus dem sie sich nicht mehr befreien kann. Die Beziehung der beiden zerbricht daran. Um diesem Blick auf den Mythos nachzugehen, konzentriere ich mich auf das, was die unbeleuchtetere Hälfte des Liebespaares durchlebt haben könnte: Während Orpheus für seine Liebe versucht, sich dieser Unterwelt zuzuwenden und eben­ falls, wenigstens kurz, in ihr zu existieren vermag, um sich schliesslich zu befreien, erkennt er dabei endlich Eurydikes Verlorenheit, und verlässt die Unterwelt ohne sie. Eurydike bleibt zurück und gefangen, konserviert in der Unterwelt und gleich­ sam wegen ihr verlassen. Für sie gibt es ein anderes Ende, eines ohne Bewältigung, und ohne Weitergehen. Um den Mythos aus Eurydikes Perspektive zu beleuchten, m öchte ich mich psychoanalytischen Betrachtungen von Weiblichkeit und Tod zuwenden: Die Frau als «Verkörperung des Thanatos» (Rohde­Dachser, 1992, S. 132) tritt mythologisch und kulturgeschichtlich in verschiedensten Gewändern auf. In Schön heit gestorben konserviert sie für den Mann dessen Jugend auf ewig, da er sich in der Erinnerung an sie lebendig fühlen kann. So möchte ich mich auf die Suche nach einer Umdeutung von Eurydikes Schicksal begeben: Was bleibt, wenn dieser allzu oft tödliche Blick auf die Frau überwunden wird? Kann auch Eurydike ohne Orpheus einen Weg finden, lebendig aus ihrem Schattenreich hervorzutre ten? Denn auch nach dem Verlorengehen kann Weiterleben möglich sein. Ich wende mich der Überlegung zu, dass möglicherweise auch Eurydike eine Entwicklung hat durchlaufen können – eine uns alle überraschende, die bisher noch nicht ausge­ leuchtet wurde. Auf die Suche nach ihrer möglichen Befreiung möchte ich mich nun begeben. Die männlich geprägte Perspektive innerhalb der Mythendeutung bleibt bis heute herausfordernd für eine feministische Besetzung dieses Gebiets. Psy­ choanalytikerinnen wie Monika Gsell und Christa Rohde­Dachser wiesen schon vor Jahrzehnten auf die schwierige Spurensuche nach feministischen Botschaften in der griechischen Mythologie hin (Rohde­Dachser, 1992) und legten offen, wie weibliche Perspektiven umgedeutet wurden und den Mann in den Mittelpunkt rückten. Beispielsweise wurde der Mythos um Baubo, vielleicht einer der für weib­ liche Subjektivität bedeutsamsten überhaupt, von Sombart als Verhöhnung des 80 Carolin Serena Cyranski Mannes gelesen (Gsell, 2001, S. 45), wo es tatsächlich auch um das Teilen exklusiv weiblicher Erfahrung zwischen zwei Göttinnen gehen könnte. Der Mann bleibt eben aussen vor, nicht aus Hohn, sondern er erfährt keine Erwähnung, weil das Männliche irrelevant für die Erzählung ist. Die Überdeckung eigentlich weiblicher Botschaften geht weit über diesen Mythos hinaus. Auch in dem verloren gegange­ nen Blickwinkel auf Eurydike handelt es sich – ganz ähnlich wie es Gsell in Hinblick auf Baubo formuliert – um ein Verschweigen der weiblichen Perspektive, um «eine Geschichte des Vergessens, des Verlustes von Wissen, der Nicht­Tradierung» (Gsell, 2001, S. 33), die die Rezeptionsgeschichte griechischer Mythologie durchzieht. Ein ( Wieder ­)Betrachten dieser verschwiegenen Perspektiven kann einen Beitrag dazu leisten, diesen vergessenen Bedeutungen wieder auf die Spur zu kommen. Der Mythos aus Eurydikes Perspektive: Symbolarbeit Insbesondere die Frage nach Orpheus’ Blick zurück lässt uns bis heute nicht los und ist noch immer Gegenstand zahlreicher Arbeiten (Parsons, 2007). Wird jedoch Eurydike und nicht Orpheus als Subjekt der Erzählung betrachtet, so verschieben sich Bedeutungsinhalte und Hauptmotive: Nach wie vor geht es um Vergänglichkeit und Tod, aber insbesondere um deren Verflechtungen mit weibli­ cher Subjektivität, um das Verhältnis von Weiblichkeit, Zeitlichkeit, und den Kampf um Autonomie. In ausgewählten Passagen aus Ovids Metamorphosen (vollendet ca. 8 n. Chr.) zu Orpheus und Eurydike sollen die Symbole, die uns Aufschluss über Eurydike geben können, näher beleuchtet werden. Die folgende Deutung der Symbole konzentriert sich auf einige wenige Stellen und hebt einzelne Worte hervor. Ausgehend von der Annahme, dass im Mythos stets Verdrängtes wiederkehrt (das trotz seiner Entstehungszeit auch in unserer Epoche seine Aktualität bewahrt) (Brüggen, 2016, S. 27), sollen verdeckte Inhalte an die Oberfläche gelangen, wobei neben den einzelnen Worten auch das Narrativ des Mythos betrachtet wird. Wurde etwas in der Rezeption bisher wie­ derholt übersehen, und wenn ja, warum? Und welche Botschaften könnten in der Handlung versteckt sein? 2 Die erste für uns relevante Passage findet zu Beginn des Mythos statt, und beschreibt den Tod von Eurydike: Durch die Gefilde Schweifte die jüngst Vermählte, vom Schwarm der Najaden begleitet, Ach und starb, an der Ferse verletzt von dem Bisse der Natter. (Ovid, 2016, S. 220. Hervorhebungen von der Autorin) In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 81 Die erste Markierung bezieht sich auf Eurydike, die jüngst Vermählte. Sie ist nicht nur jung, sondern eben jüngst vermählt. Sicherlich lässt sich ein klarer Hinweis auf ihr junges Alter erkennen; vielleicht auch durch die überdeutliche Betonung, ihrer Jungfräulichkeit? Dieser Möglichkeit wird an einer späteren Stelle nachgegangen. Zwischen der Eheschliessung und dem Zeitpunkt, an dem der Mythos beginnt, scheint jedenfalls keine Zeit zu liegen. Bevor die zweite Markierung besprochen wird, möchte ich erst auf die Verwundung der Ferse eingehen. Dieses Motiv ist durch den griechischen Kriegs­ held Achill nachträglich zu besonderer Bedeutung gelangt. Seine einzige verwund­ bare Körperstelle wurde ihm zum tödlichen Verhängnis. Dass auch Eurydike an einer Verwundung der Ferse stirbt, wirft aus unserer heutigen Perspektive einige Fragen auf: Kämpft vielleicht auch sie in einem vordergründig unerwähnten Krieg? Möglich ist aber auch eine Verschiebung der eigentlichen Wunde: Nicht bei Ovid, aber nach anderer Quelle wird erwähnt, dass Eurydike vor dem Imker Aristaios flieht, der versucht sie zu vergewaltigen (von Ranke­Graves, 2011, S. 98). An dieser Stelle lässt sich nur mutmassen, ob auch ein anderer Ausgang der Situation möglich gewesen wäre: Ist ihr Fall auf der Flucht vor dem Imker nicht nur wortwörtlich zu verstehen, sondern hat er sie auf andere Weise zum Fallen 3 gebracht? Eine weitere interessante Symbolik findet sich in der Erwähnung des Schwarms der Najaden, die Eurydike begleiten: Najaden sind eine Gattung von Nymphen. Wie sehr Eurydikes Existenz mit einem Element der Natur verbunden ist, zeigt sich bereits hier, denn Eurydike ist selbst eine Nymphe, genauer, ein Baumgeist, wobei sie je nach Quelle auch als Dryade, also Waldnymphe, bezeich­ net wird. Der Kampf um Naturbeherrschung, der durchgehend Gegenstand der griechischen Mythologie ist, verdeutlicht die Übermacht des Mannes über die Frau und ihren Willen ( Theweleit, 2013). Trotz Eurydikes umfangreicher weiblicher Begleitung, droht der Imker sie zu überwältigen. Auffällig ist zudem, dass Nymphen eigentlich sehr alt werden – es muss also ein unnatürlicher, gewaltsamer Tod sein, der Eurydike dem Leben entreisst. Der Biss der Natter, der Eurydike tödlich verletzt, hat gewaltsame wie auch sexuelle Facetten. Schlangen waren in der griechischen Antike sowie im alten Ägypten Trägerinnen einer Vielzahl von Bedeutungen. Bemerkenswert ist die enorme Ambivalenz ihrer Symbolik: Einerseits repräsentieren Schlangen durch ihre Fähigkeit, sich zu häuten, ewige Jugend, aber sie stehen ebenso für Weisheit, die Tugend des Alters. Zugleich ist ihr Gift auch todbringend. Sie sind oft weiblich konnotiert, wobei sie mit ihren Zähnen aber in den Körper eindringen, und so auch eine phallische Komponente implizieren. Im alten Ägypten symbolisierten 82 Carolin Serena Cyranski Schlangen sowohl Krankheit wie auch Heilung. In Bezug auf Eurydike trifft, wie sich im Laufe der Arbeit abzeichnen wird, die Ambivalenz von Todesbotschaft und dem Symbol ewiger Jugend zugleich zu, wie auch das Gift sich in den Mythos einfügen lässt, da Eurydike sich daran psychisch infizieren könnte. Es ist oft gerade die schmerzhafte Weiblichkeit, die von der Schlange repräsentiert wird, wie im Mythos von Medusa. Auch hier könnten die Schlangen des Medusenhaupts das eigentlich Furchterregende verdecken: Das weibliche Genital, die Überbringerin der Todesdrohung für den Mann (Rohde­Dachser, 1992, S. 139). Im nächsten Teil des Mythos erfährt der trauernde Orpheus vom drohen­ den Tod seiner Geliebten und steigt in die Unterwelt hinab, um sie zu retten. Dort erklärt er sein Anliegen. Nein, ich kam um die Gattin, der jüngst die getretene Natter Gift in die Wund’ einhaucht’, und die blühenden Jahre verkürzte. (Ovid, 2016, S. 220. Hervorhebungen von der Autorin) Die Schilderung der Konsequenzen des Schlangenbisses ist interessant. Scheinbar gelang Gift in eine schon bestehende Wunde, und beraubt sie ihrer Jugend. Dies aktualisiert für mich meine Frage aus dem oberen Abschnitt: Handelt es sich bei Eurydikes Fersenbiss vielleicht um eine Verlagerung der eigentlichen Verletzung; einer, die ihr ein Mann zugefügt hat und sie damit, wie im folgenden Kapitel erläutert wird, aus der männlichen Perspektive als Repräsentantin ewiger Jugend verwirft? Mit seinem betörenden Gesang bezaubert Orpheus schliesslich Hades und Persephone so sehr, dass sie ihm Eurydike zurückgeben – unter der Voraussetzung, dass er sich nicht zu ihr umdrehen darf, bis sie die Unterwelt verlassen haben. Doch Orpheus kann seiner Sehnsucht nicht widerstehen, und wirft, beinahe wieder auf der anderen Seite angekommen, den berühmten verbotenen Blick zurück auf Eurydike. Der letzte hier genannte Abschnitt behandelt die Abschiedsszene des Liebespaares in der Unterwelt, und ihre letzte Interaktion miteinander. Wieder starb sie den Tod; doch nicht ein Laut um den Gatten Klagete. Konnte sie wohl, so geliebt zu sein, sich beklagen? Fernher rief sie zuletzt, und kaum den Ohren vernehmlich: Lebe wohl! Und gerafft zu der vorherigen Wohnung entflog sie. (Ovid, 2016, S. 221. Hervorhebungen von der Autorin) In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 83 «Konnte sie wohl, so geliebt zu sein, sich beklagen? » (Ovid, 2016, S. 221). Al ler dings könnte sie, denn schliesslich stirbt sie. Umso auffälliger ist die Botschaft der Passage, Eurydike hätte keinen Grund, um ihr Leben zu trauern. Enthalten ist die Annahme, dass Frauen nur leben wollen, wenn sie vom Mann genügend geliebt werden. Gleichzeitig ist dies im Mythos anscheinend auch alles, wonach eine Frau streben kann: Eurydike, die diese Liebe schon in einem so jungen Alter erfahren hat, kann nun in Frieden sterben. Als Eurydike zum zweiten Mal in der Unterwelt verschwindet, dringt «doch nicht ein Laut um den Gatten » (Ovid, 2016, S. 221) aus ihr hervor. Eine Deu tungs­ möglichkeit wäre es, das stumme und klaglose Annehmen ihres Schicksals als Teil ihrer Passivität zu verstehen, so wie sie sonst auch im Mythos weitest gehend passiv erscheint. Vielleicht ist Eurydike so schockiert und hilflos, dass sie sich nicht aus­ drücken kann. Die Differenz zu Orpheus, dem Sänger, der sie durch seine Stimme beinahe aus der Unterwelt befreien konnte und lautstark für seine Bedürfnisse einstehen kann, wird umso markanter. Vielleicht gibt es aber auch einen anderen Grund für ihre situative Stummheit: «Lebe wohl » (Ovid, 2016, 221): Eurydikes Ausruf, den Orpheus schon kaum mehr vernehmen kann, so schnell entzieht sie sich der Situation und wird von der Unterwelt verschluckt, ist für mich eine der aufschlussreichsten Stellen des Mythos. Hier tritt Eurydike als aktives Subjekt auf: Sie nimmt Abschied von Orpheus, und sie entfliegt. 4 Zudem ist es die einzige Stelle, an der die sonst stumme Eurydike etwas zu sagen hat. Im Mythos wie auch seiner Rezeption liegt sonst der Fokus auf dem Sänger Orpheus, der seine Stimme nutzt, um durch seinen betörenden Gesang Zugang zur Unterwelt zu erlangen und seine Geliebte zu befreien, und um später den Trauerschmerz kreativ zu verarbeiten. Doch hier ist Eurydike einmal nicht stumm: Vielleicht wird ihre aktive Entscheidung offenbar, sich von Orpheus zu verabschieden? Der Mythos endet mit Orpheus’ Tod, der ihre Wiedervereinigung bedeutet. Gewaltsam und blutig wird er umgebracht von grausamen weiblichen Figuren, die ihn, den Frauenverächter, bestrafen für seine unerschütterliche Treue zur Gelieb ten über deren Tod hinaus (Ovid, 2016, S. 222). Schliesslich sind sie in der Unterwelt wieder vereint. Da der Mythos aus Orpheus’ Perspektive formuliert und insbeson­ dere rezipiert wurde, erlaube ich mir hier die Auslegung, dass es sich dabei um seine Phantasie handelt: Eurydike wartet bis ans Ende der Tage auf ihn, während andere Frauen ihm nicht verzeihen können, auf ihn verzichten zu müssen, und deshalb Rache ausüben. 84 Carolin Serena Cyranski In Eurydikes Ende wird eine gewisse Doppeldeutigkeit sichtbar. Aus Or pheus’ Perspektive, wie er in den Deutungen des Mythos klassischerweise ver ­ standen wird, ist ihr Tod sicherlich eindeutig zu verstehen: Für ihn ist sie tatsäch­ lich gestorben. Aber ist sie tot, oder gibt es vielleicht auch einen anderen Grund für seine Abwendung? Repräsentiert sie durch die potenzielle oder tatsächliche Gewalttat des Imkers nun nicht mehr unendliche Blüte, 5 sondern Vergänglichkeit und Tod? Mir scheint, dass der Mythos noch eine andere Interpretation nahelegt: nämlich dass Eurydike auf der Flucht vor männlicher Gewalt verunglückte und auf diese Weise in die Unterwelt gelangte. Die jung(gestorben)e Frau und das ewige Leben des Mannes Eurydike als sowohl jung wie auch mutmasslich jungfräulich gestorbene Frau, könnte über die Trauer hinaus auch Auswirkungen auf Orpheus haben, die ihn in seiner Stärke und Subjektivität stützen. Assoziationen, die sich zum Konzept Jungfräulichkeit aufdrängen, sind beispielsweise Reinheit und Unschuld, mit Freud aber auch die Angst des Mannes vor dem Wissen und der Macht, die die Frau ab dem Zeitpunkt ihrer Defloration besitzt (Freud, 1918, S. 842). Würden wir Eurydike als Jungfrau betrachten, könnten einige spezifische Bedeutungen aus dem Mythos herausgearbeitet werden. Einerseits wäre es möglich, Eurydikes Jungfräulichkeit bzw. deren baldige Aufgabe durch den bereits geschehenen Eintritt in die Ehe als Zeichen ihrer bisherigen Autonomie zu sehen, da sie noch nicht vollends an den Mann gebunden wäre: «Als Jungfrau gehört sie nur sich selbst. Sie ist ‹eins mit sich selbst› » (Highwater, 1992, S. 57). Die Flucht vor dem Imker und auch diejenige in ihr inneres Schattenreich könnten so als Versuche gelesen werden, ihre Autonomie zu bewahren. Ob sich aber ihre Jungfräulichkeit auf sexuelle Unerfahrenheit bezog, kann nicht sicher festgestellt werden – wohl aber auf ihre Freiheit, die Frauen in den griechischen Mythen bis zur Heirat zugestanden wird (Highwater, 1992, 56). Eurydike scheint sich also, jüngst verheiratet, in einer Schwellensituation zu befinden. Diese Freiheit der jungfräulichen Frau bezieht sich vielleicht nicht nur auf den Mann. Die Sehnsucht nach Unendlichkeit, die sich in der Jungfrau 6 zu erfül­ len scheint, ist vermutlich eine geschlechterübergreifende Sehnsucht. Zudem könnte die Jungfrau auch für das Bewahren eines offenen Möglichkeitsraums in der Fantasie stehen. Der Wunsch, Vergänglichkeit entgegenzuwirken und somit Verlust und Tod aufzuhalten, sind Konstanten menschlicher Sehnsüchte durch alle Zeiten hinweg. Die Jungfrau könnte aus mehreren Gründen eine vermeintliche Möglichkeit repräsentieren, dem Tod etwas entgegenzusetzen: Jungfrauen sind für In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 85 Männer (und vielleicht auch Frauen) weniger furchteinflössend als Frauen, die bereits die Bedeutung der Sexualität und die Macht, die sie ihnen (scheinbar) gibt, erkannt haben: «Nur als junge Frau ist die Frau das ungefährliche Weib, ist sie des Todesschreckens ledig. » (Borkenhagen, 2018, S. 155). Denn eigentlich bringt die Leben schaffende Frau damit auch das Wissen um den Tod zwangsweise mit sich; sie kann Leben geben, aber auch nehmen. So könnte im männlichen wie auch weiblichen Unbewussten eine Verknüpfung von Weiblichkeit und Tod stattfinden. Die Jungfrau ist unschuldig, da sie noch nicht vollends ins Geschlechterverhältnis eingetreten ist. Sie weiss noch nicht um einige der Hauptthemen des Lebens; die Sexualität, die die Erschaffung des Lebens bedeutet, und die zugleich auch den Weg zum Wissen um den Tod ebnet. Dabei ist im sexuellen Verlangen nach ihr auch immer das Ende dieser Phantasie enthalten, denn die Jungfrau überschrei­ tet mit ihrem Eintritt in die Sexualität, die ihr bis dahin zugeschriebene Sphäre der Zeitlosigkeit, und befindet sich nun dichotom auf der Seite der Sterblichkeit. Damit markiert sie den Weg zum Tod – für sich selbst, und auch für ihren Partner. Borkenhagen (2018) konstatiert, dass das eigentliche Begehren des Mannes nach dem gefährlichen weiblichen Genital mit der Lust am jungen weiblichen Körper über deckt werden soll (Borkenhagen, 2018, S. 155). So wird die junge Frau zugleich en sexualisiert, und die von ihr ausgehende Drohung negiert. Zugleich steht sie abseits des Todes und wird damit wiederum Trägerin eines unfassbar wertvollen Gutes, der Phantasie der Unsterblichkeit. Eurydike könnte ahnen, welches Schicksal ihr blüht, wenn sie ihre Jung­ fräulichkeit eintauscht gegen ein Leben an der Seite von Orpheus: Auf einmal reiht sie sich damit ein in eine Subjektivität, die Todesdrohungen in sich birgt. Der schönen Eurydike als einer jung gestorbenen Frau wird im Mythos ein Nullpunkt an Entwicklung zugewiesen. Im Gegensatz zu Orpheus, der lernt, seine Trauer zu verarbeiten und sie als kreativen Schaffensprozess in Form von wunderschönem Gesang umzuwandeln (Haas, 1990), wirkt Eurydike durch ihr frühes Ableben zeitentrückt, und bereits vor ihrem Tod seltsam leblos, da nur ihre Liebe zu Orpheus sie zu definieren scheint. Parsons (2007) wies in seiner Arbeit Warum blickte Orpheus zurück? schliesslich auf die Möglichkeit hin, Orpheus’ Leidensweg wie einen Traum zu behandeln, um so in der vielschichtigen Symbolik des Mythos dessen latente Inhalte herauszuarbeiten. Als Teil seines Traums ist Eurydike inneres Objekt und Selbst­Anteil des Orpheus und repräsentiert in ihrem Untergang und seiner Aufarbeitung die Wiederbelebung seiner Kreativität im Laufe des Traum­Mythos. Dieser Deutung folgend war sie nie eine echte und lebendige 86 Carolin Serena Cyranski Frau. Vielleicht nicht zufällig wird Eurydike damit einmal mehr entsubjektiviert; selbst ihr Tod gehört nicht wirklich ihr, sondern Orpheus: Ihr Tod im Traum enthüllt, dass er sich der Unausweichlichkeit seines eigenen Todes bewusst ist. (Parsons, 2007, S. 129) Damit formuliert Parsons präzise und wie selbstverständlich den Mangel an weiblicher Subjektivität in der Rezeption. In mancher Mythenüberschrift wird Eurydike ganz aus dem Titel gelassen (vgl. Storch, 1998; von Ranke­Graves, 2018). Die tote Eurydike, sowohl als tatsächlich jung gestorbene Ehefrau, wie auch als Selbst­Objekt von Orpheus, bedeutet für die Lebenden, dass sie, auf der anderen Seite, für diese immer jung und schön in Erinnerung bleiben kann. Eurydike kann niemals altern, und so muss es auch Orpheus beim Gedanken an sie nicht tun. Borkenhagen (2018) weist in ihrer Arbeit Optimierte Weiblichkeit als kollek- tive Todesabwehr darauf hin, wie verflochten Weiblichkeit und Tod sowohl in der modernen westlichen Zivilisation, als auch bereits in mythischen Aufbereitungen sind (Borkenhagen, 2018, S. 153): «Wo Leben geboren wird, und das geschieht immer durch Frauen, ist der Tod zwangsläufig mitgesetzt. » (Borkenhagen, 2018, S. 154). Rohde­Dachser, die sich ebenso mit dieser Thematik auseinandersetzte, arbeitete heraus, wie die jung gestorbene Frau effektiv ewige Jugend repräsentiert, indem an ihr «eine Art ‹Tötung des Todes› inszeniert » wird (Rohde­Dachser, 1992, S. 122) – allerdings nur für den Mann, und auf Kosten des Lebens der Frau. Die Frau als «schöne Leiche» ist in ihrer Gefahr einerseits unschädlich gemacht, und andererseits «an den Ort gelangt, den ihr das männliche Unbewusste immer schon zugewiesen hat. » (Rohde­Dachser, 1992, S. 122) Das Bild der schönen Leiche deckt die Radikalität des Geschlechterverhältnisses auf, in dem die männliche Angst vor der Frau als «Verkörperung des Thanatos » (Rohde­Dachser, 1992, 136) nur durch ihre Unterdrückung oder sogar Vernichtung gezügelt werden kann. Eurydikes Schattenreich Eurydikes Schicksal als eines des innerlich Eingefrorenen und Stillstehenden wäre eine berechtigte Erzählung, denn schliesslich erzählt das Leben selbst von Schicksalen wie diesem. Doch durch meinen Versuch, einige Symbole des Mythos in Hinblick auf Eurydikes Subjektivität zu deuten möchte ich, ohne zu einer klaren Antwort zu gelangen, eine alternative Auslegung von Eurydikes Ableben vorschlagen: Eine, die es uns erlaubt, Eurydikes Ende als eines, das nur in den Augen des Mannes In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 87 stattfand, zu betrachten. Mir scheint, dass auch wenn der Titel des Mythos Orpheus und Eurydike lautet, es in seiner Rezeption eher um Orpheus’ Schicksal geht, das von Eurydike eine Weile begleitet wurde, und ihn im Weiteren massgeblich beein­ flusst. So wird ihr Untergang aus seiner Perspektive geschildert. Sein letzter Blick auf sie lässt sie für uns ebenso verschwinden. Vielleicht hat er sie beim letzten Blick als Gefangene der Unterwelt anerkannt und gemerkt, dass er sie daraus nicht befreien kann. Doch auch sie hat sich von ihm abgewandt. Und muss die Abwendung von Orpheus, die vielleicht auch den Wunsch beinhaltet, sich aus dem ihr bisher zu geschriebenen Platz im Geschlechterverhältnis zu lösen, wirklich bedeuten, dass auch ihr Leben endet? Denn die Unterwelt repräsentiert nicht nur den Tod, sondern kann ebenso für innere Abgründe stehen, wie den Wahnsinn (Danzinger, 2015, S. 1). Der Abstieg in die Unterwelt, wie er oft in den griechischen Mythen Aus­ druck findet, wurde schon von Freud als Abbild des therapeutischen Prozesses interpretiert: Was für Ödipus «Zeit» ist, reale historische Vergangenheit, der er entfliehen will, indem er sich weigert, sie zu erkennen, wird in der Perspektive des Freudschen Unbewußten zum «Ort», einem Schattenbereich des Ichs, einer psychischen Lokalität, die dem Bewußtsein nur dank des (schmerzlichen) Prozesses der (Selbst-) Analyse zugänglich werden kann. ( Traverso, 2003, S. 93 f.) Auch Eurydike könnte durch die Hinwendung zu ihrem Schattenreich Selbsterkenntnis, und vielleicht auch Heilung erlangen wollen. Traverso (2003) arbeitet in ihrem Werk «Psyche ist ein griechisches Wort… » heraus, dass «die Reise ins Innere der Erde » ( Traverso, 2003, S. 91) voller Gefahren, und nur für einige wenige Held*innen zu bewältigen ist. Erstaunlich ist, welche Bedeutungsebenen der Unterwelt hier zusammenfallen: Die Vorstellung der Unterwelt verbindet sich über die weiblich assoziierte Erde 7 mit der Frau selbst, und die typische Figurenkonstellation der griechischen Mythologie wiederholt sich auch am Mythos von Orpheus und Eurydike. Während es dem männlichen Helden dank Stärke und Kreativität gelingt, das Schattenreich bewusst zu betreten wie auch zu überwinden, verschmelzen die Frau und das Schattenreich miteinander und sind nicht einmal mehr vom Mann zu trennen. Zugleich sind Unterwelt und Unbewusstes von vorn­ herein mit dem Wahnsinn verbunden, wenn die Selbstanalyse bei den Neurosen der eigenen Unterwelt helfen kann ( Traverso, 2003, S. 92). 88 Carolin Serena Cyranski Frau und Wahnsinn scheinen sich nahtlos ineinander zu fügen, und tatsäch­ lich ist dies der Ort, an den auch Eurydike zuweilen verwiesen wurde. Jelinek (2015) gestand Eurydike in ihrem Theaterstück «Schatten » (Eurydike sagt) ein Dasein als Subjekt überhaupt nicht zu, und formulierte hieraus eine dezidiert feministische Perspektive: Eurydike verweigert sich als Objekt an Orpheus’ Seite, denn Subjekt konnte sie nie werden, und verzichtet dafür sogar auf ihr Leben. Wie schön der Tod ist, wie schön es nachher sein wird, ihnen ewig unerreichbar das Schicksal, nicht geliebt zu werden, das Schönste von allem. Das Grösste aber ist, nicht geliebt zu werden und nicht zu lieben. ( Jelinek, 2015) Es ist verblüffend, wie dankbar Jelineks Eurydike ihr Leben und ihre Liebe abgibt. Welcher Platz wurde ihr in der oberen Welt denn angeboten, dass dessen Aufgabe «das Schönste von allem» ( Jelinek, 2015) ist? Sein kann sie wohl auch ausserhalb des Schattenreichs nicht, weswegen sie sich die Unterwelt als ihren Platz aneignet. Ein Ort von weiblicher Lebendigkeit und Entfaltung bleibt in dieser Perspektive unerfüllt, sogar unmöglich: «Eurydike ist Orpheus Objekt » und fällt im Tod «als Schatten der Melancholie auf den Sänger zurück » (Klebs, 2019, S. 294). Auch Jelinek greift die Schlangensymbolik auf und lässt Eurydike mit dem Biss der Natter einen Häutungsprozess durchlaufen, der sie in die Unterwelt begleitet ( Jelinek, 2015). Buchstäblich streift Eurydike ihre alte Rolle ab. Da sie niemals mehr als Objekt war, empfindet sie das Schattenreich als Befreiung und entschei­ det sich, selbst Schatten zu bleiben. Ein Ort der Lebendigkeit und der Entfaltung bleiben in dieser Darstellung für Eurydike unmöglich; sie verharrt an einem Nicht- Ort ( Jelinek, 2015) Die Bestimmung des Weiblichen stagniert bis heute auch in psychoanalytischen Betrachtungen von Geschlecht allzu oft in der Position als Ergänzungsbestimmung (Rohde­Dachser, 1992, S. 97). Die Frau trat häufig auf als Spiegel, als Negativ des Mannes, und nur in Abhängigkeit zu ihm – also durch das, was sie eben (scheinbar) nicht ist. Darunter verborgen blieb die tatsächli ­ che Subjektivität der Frau, die nichts für sich hatte und nichts aus sich heraus. Gerade in der griechischen Mythologie wurde allzu oft über die Frau und ihren Körper Geschichte gemacht: Land erkämpft, Sieg errungen, der Erhalt des eigenen Genpools gesichert ( Theweleit, 2013). Orpheus trägt keine Schuld an Eurydikes Tod, und vielleicht hätte das Paar ohne den Biss der Natter seine Liebe bewahren, und ein schönes Leben miteinander teilen können. Möglicherweise erkennt Orpheus beim Blick zurück aber auch, wie In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 89 verletzlich Eurydike ist, oder dass sie die Sphäre der scheinbaren Unsterblichkeit verlassen hat, und durchläuft einen Prozess der Entidealisierung seiner Geliebten. Eurydike könnte sich von seiner Abwendung buchstäblich verbannt fühlen. So wäre Eurydike, bislang vielleicht sogar von sich selbst unerkanntes Subjekt, auf sich alleine gestellt. Noch dazu nach einer schwierigen Erfahrung, die das Dilemma aufwerfen könnte, einerseits auf die Anerkennung durch die patriarchale Ordnung angewiesen zu sein, die aber andererseits Unterwerfung, Entsubjektivierung und Gewalt impliziert. Es ist eine Ordnung, in der das Ausleben ihrer eigenen Sexualität sie zur Repräsentantin des Todes werden lässt, und in der ihr Tod wie­ derum ihren Liebhaber seiner Lebendigkeit versichern kann. Aber möglicherweise findet Eurydike eine Möglichkeit, eine derjenigen zu werden, die sich aus dem Schattenreich wieder befreien können. Dies funktioniert nur dann, wenn sie sich dem stellen kann, was sie war, und was sie erlebt hat, dabei aber auch trotz allem «fortzufahren», wie Parsons (2003) in seinem Aufsatz Zwischen Tod und Urszene formulierte: Fortzufahren, zu werden, heisst auch, sich von dem, der wir gewesen sind, unabhängig zu machen (Parsons, 2003, S. 120). Beim Verarbeiten ihrer Vergangenheit kann es Eurydike vielleicht gelin­ gen, das Unbewältigte, das sich auch anfühlt wie der Tod, in eine Erfahrung zu transformieren, die darstellbar und damit symbolisierbar wird (Parsons, 2003, S. 121). In der Bearbeitung ihres Schattenreichs gelingt es ihr im besten Fall sogar ihren vergangenen Erfahrungen nachträglich neue Bedeutung zu verleihen. Und vielleicht entdeckt sie sich selbst so als das Subjekt, das sie immer schon war. Sicherlich hat Eurydike viel verloren, doch Entwicklung entsteht auch aus Verlust. Ich wünsche ihr, dass sie ihren Verlust überwinden kann, und sich als lebendige Frau entdeckt, denn: Es braucht lebenslange psychische Arbeit, der Sexualität, der man sein Leben verdankt, und dem Tod, der es einem nehmen wird, Bedeutsamkeit zu geben. (Parsons, 2003, S. 122) Dies ist eine Aufgabe, die die Frau als «Verkörperung des Thanatos» (Rohde­ Dachser, 1992, S. 132) in besonderem Masse betrifft. Ich möchte nicht verschweigen, welche Schwierigkeit es für Generationen von Frauen darstellte und darstellt, sich aus den traditionellen, festgefahrenen Bildern von Weiblichkeit herauszukämpfen. Aber unter diesen Vorstellungen, Phantasien und Ressentiments haben schon immer Subjekte voller Widersprüche und Facetten gesteckt, die kaum im Bild «der Frau » aufgefangen werden konnten. Natürlich existiert die Frau, auch als Subjekt, 90 Carolin Serena Cyranski und auch – im Gegensatz zur Darstellung im Mythos – eben auch dann, wenn kein Mann mehr auf sie blickt. Das Dasein als Schatten des Mannes war das, was Eurydike im Mythos, und vielen Frauen in ihrer Lebensrealität gestattet wurde. Denn welche Wahrheiten im Mythos zu finden sind, formulieren Braun, Brüggen und Gehrlach (2016) folgendermassen: Statt Mythen als vormoderne oder irrationale Denkformen schlicht abzulehnen, fungieren sie im psychoanalytischen Denken als unbe- wusste Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, deren Relevanz ungebrochen ist, auch wenn der Einzelne sich als aufgeklärtes oder rationales Wesen wahrnehmen mag. (Braun; Brüggen; Gehrlach, 2016, S. 8) Eben darum ist eine Betrachtung des Mythos wichtig, die seine «offene Verwendbarkeit » (Braun; Brüggen; Gehrlach, 2016, S. 10) verdeutlicht und gleich­ zei tig ermöglicht, sich dialektisch und kritisch mit dessen verschiedenen Facetten und Ebenen auseinanderzusetzen. Feministischer Ausblick In meiner kritischen Rezeption stellt sich heraus, dass etwas vom Ver­ drängten im Mythos die weibliche Subjektivität sein könnte. Die jung(fräulich) gestorbene Eurydike bedient insofern gleich zwei männliche Phantasien, als dass sich einerseits im Rettungsversuch die Erlösung der Frau zu erfüllen scheint. Die Unabwendbarkeit des Todes wird ausgehebelt, da Hades und Persephone Orpheus tatsächlich Eurydike zurückgeben wollten. Ihre Bedingung erfüllt er aber nicht. Über den unglaublich schmerzhaften Verlust, den das auch für Orpheus bedeutet, schreibt u. a. Haas (1990) eindrucksvoll. Unter Einbindung feministischer Perspektiven kann andererseits eine Fokusverlagerung stattfinden, innerhalb derer auch deutlich wird, dass durch den Tod der jungen, schönen Frau die Todesangst des Mannes zum Teil gebannt wird. Am Mythos lässt sich das nicht nur im Motiv der Eurydike als einer schönen Leiche aufzeigen, sondern auch anhand von Orpheus, «der den Tod überwunden hat» (Storch, 1998), indem er das Reich der Toten leben­ dig betritt und verlässt. Allzu oft scheinen sich kulturelle Erzählungen schwer damit zu tun, Frauen ein langes und (insbesondere sexuell) erfülltes Leben zu gönnen. Vielleicht können andere Auslegungen des Mythos, die Orpheus als Mittelpunkt setzen auch aufzeigen, wie sehr Eurydike als Subjekt gescheitert ist, vielleicht In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 91 enthalten sie aber vor allem die jahrhundertelange Weigerung, Subjektivität von Frauen als solche anzuerkennen. Aber glücklicherweise entwickelt sich das Leben von Frauen normaler ­ weise weiter. Sie werden erwachsen und erleben Sexualität; sie altern, und reprä­ sentieren nicht nur Verluste, sondern erfahren auch selbst welche. Der Weg aus dem Schattenreich ist einer, der die Vergangenheit auch umdeuten und um Perspektiven erweitern kann. Im Verstehen des vergangenen Lebens und Sterbens der Eurydike kann vielleicht klarer werden, was ihr gefehlt hat. Meine Perspektive auf Eurydikes Zustand im Schattenreich soll ein Innehalten erlauben, in dem der Verlust des geliebten Anderen erst einmal nicht bewältigt werden kann. Aber dabei muss es nicht bleiben, denn bereits der Mythos gestattet viel Potential zur Weiterentwicklung. Die Häutung der Schlange könnte für das Ende von Eurydikes bisherigem Weg stehen, und das Zurücklassen einer Haut, die für Orpheus ihr Abbild auf ewig konserviert – zugunsten einer Subjektivität, in der sie sich vom männlichen Blick abwendet, sodass sie selbst sich entwickeln, altern und trauern darf. Die Ambivalenz des Tieres könnte zugleich einer Bitte an die Leserin gleich­ kommen, Eurydike nicht auf ein einziges Schicksal festzulegen: Es sind so viele Wege für sie möglich. Und einer erzählt davon, wie es Eurydike nach der «tödli­ chen », das Ende ihres alten Lebens markierenden Vergiftung, sowie dem Abstreifen ihrer ehemaligen Schutzhülle gelingt, eine neue Form für sich zu finden, und ihren eigenen Weg einzuschlagen. Hat Eurydike also ihren Weg aus dem Schattenreich gefunden? Vielleicht auch in meiner Interpretation des Mythos noch nicht ganz, aber sicher ist sie auf einem guten Weg in Richtung Subjekt. Und mit jedem Blick, den wir heute auf die Geschichten von Frauen werfen, um Licht ins Dunkel ihrer Prägungen, von aussen auferlegten Hemmnissen, Perspektiven und Entwicklungen zu bringen, kann sie einen weiteren Schritt gehen. Anmerkungen 1 Besonders intensiv hat sich Eberhard Haas dieser Thematik in seinem Werk Orpheus und Eurydike. Vom Ursprungsmythos des Trauerprozesses (1990) gewidmet. 2 Brüggen (2016) weist darauf hin, dass in der griechischen Mythologie das unaus­ weichliche Schicksal oft tarnen soll, was eigentlich vom eigenen Unbewussten eingeleitet wird (vgl. S. 31). 3 Da der Sensibilität sowie Tragweite der Thematik in diesem Rahmen nicht genügend Raum gegeben werden kann, möchte ich an dieser Stelle nicht näher auf die Möglichkeit des Übergriffs eingehen. Zudem ist auch die Überzeugung, dass sexuelle Gewalt tatsächlich das Ende für die Frau bedeutet, durchaus problematisch. 4 Dennoch wusste Orpheus um die Konsequenz seines Blicks, und trotzdem (oder deswegen?) drehte er sich um (vgl. Haas 1990). 92 Carolin Serena Cyranski 5 Manche Quellen geben an, dass Eurydike ihm auf dem Feld auf dem sie starb eigent­ lich Blumen pflücken wollte. Die sexuelle Komponente darin ist offenkundig. 6 Es geht mir hier nicht um Mädchen und Frauen, die noch keinen Sex hatten, sondern alleine um die Phantasie, die im Konzept enthalten ist. 7 Im Lateinischen gibt es eine Verbindung zwischen der Wortherkunft von Materie und Mater. Literatur Borkenhagen, A. (2018). Optimierte Weiblichkeit als kollektive Todesabwehr. In Un ruh, B., Moeslein­Teising, I. & Walz­Pawlita, S. (Hrsg.). Rebellion gegen die Endlichkeit. Psychosozial­Verlag. Brüggen, W. (2016). Die Freud’sche Psychoanalyse des Mythos . In Braun, C., Brüggen, W. & Gehrlach, A. (Hrsg.). Dialektik des Mythos. Mythen und Mythoskritik in der Freud’schen Psychoanalyse. Brandes & Apsel. Danzinger, R. (2015). Orpheus in der Falle. Wie sich die Innenwelt Schizophrener zur Unterwelt öffnet. Werkblatt 75(2). Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Freud, S. (1918): Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens III. Das Tabu der Virginität. Gesammelte Werke (8). Fischer Verlag. Gsell, M. (2001). Die Bedeutung der Baubo: Kulturgeschichtliche Studien zur Re präsentation des weiblichen Genitales. Klostermann/Nexus. Haas, E. (1990). Orpheus und Eurydike. Vom Ursprungsmythos des Trauerprozesses. Jahrbuch Psychoanalyse, 26. Haas, E. (2006). Transzendenzverlust und Melancholie. Psychosozial Verlag. Highwater, J. (1992). Sexualität und Mythos. Walter Verlag. Jelinek, Elfriede (2015). Schatten (Eurydike sagt). Text zum Theaterstück. https:// www.elfriedejelinek.com/fschatten.htm Klebs, J. (2019). Der Raub der Proserpina. Kultur- und Geschlechtergeschichte einer mythischen Figur. Ripperger & Kremers Verlag. Ovid (2016). Metamorphosen. Anaconda Verlag GmbH. Parsons, M. (2003): Zwischen Tod und Urszene. Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis, 29(1). Springer ­Verlag. Parsons, M. (2007): Warum blickte Orpheus zurück? Bulletin (61). von Ranke­ Graves, R. (2011). Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Rohde­Dachser, C. (1992). Expedition in den dunklen Kontinent: Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Springer ­Verlag. Storch, W. (1998). Mythos Orpheus. Reclam Verlag. In Schönheit gestorben? – Von Eurydikes möglicher Selbstbefreiung (…) 93 Theweleit, K. (2013). Pocahontas II. Buch der Königstöchter: Von Göttermännern und Menschenfrauen. Stroemfeld Verlag. Traverso, P. (2003). «Psyche ist ein griechisches Wort … ». Rezeption und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud. Suhrkamp Verlag. Angaben zur Autorin Carolin Serena Cyranski hat Soziologie und Geschichte der Natur wis sen schaf­ ten (B. A.) an der Universität Hamburg und Psychologie (M. A.) an der International Psychoanalytic University Berlin studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf psychoanalytischen Betrachtungen von Weiblichkeitsbildern, Literaturanalysen sowie pathologischem Zeiterleben. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein..
Sekretariat
Psychoanalytisches Seminar Zürich PSZ
Renata Maggi und Diana Bochno
Quellenstrasse 27
CH - 8005 Zürich
Tel. 044 271 73 97
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. 
Öffnungszeiten Sekretariat
Dienstag, Mittwoch & Donnerstag
9-12 Uhr & 14-17 Uhr
Informationsstelle, Fachliche Fragen
Seminarleitung
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.