Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 152–154
Victoria Preis, Aaron Lahl und
Patrick Henze-Lindhorst (Hrsg.):
Vom Lärmen des Begehrens. Psychoanalyse und lesbische Sexualität
Psychosozial-Verlag, 2021
Monika Gsell (Zürich)
Welch ein lebendiger, vielfältiger, reichhaltiger Sammelband! Ausgangs-
punkt der hier publizierten Beiträge ist das Symposium «Psychoanalyse und les-
bische Sexualität», das im Januar 2020 an der Internationalen Psychoanalytischen
Uni versität Berlin (IPU), stattfand.
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Das Buch versammelt aber nicht nur die (meisten) der an der Tagung prä-
sentierten Beiträge, sondern geht weit darüber hinaus und leistet damit etwas,
was man sonst bei vergleichbaren Sammelbänden vermisst. Das ist zum einen
die Beschreibung und Reflexion der eigenartigen Dynamik, die die Tagung prägte:
Ein Eröffnungsvortrag, der einen Sturm der Entrüstung auslöste, der für den Rest
der Tagung anhalten und dafür sorgen sollte, dass kein einziges Referat auch nur
an satzweise sachlich-inhaltlich angemessen diskutiert werden konnte. Diese Dy -
na mik wird in einer ganzen Reihe von Beiträgen und Kommentaren aufgegriffen.
So etwa spricht Caroline Sosat in ihrem Kommentar von einem «tiefe(n) Graben
zwischen feministischen und homosexuellen PsychoanalytikerInnen einerseits
und politisch-aktivistischen Lesben» andererseits (S. 223), von einem nahezu
un überbrückbaren «Konflikt zwischen der psychoanalytisch-wissenschaftlichen
und der politisch-aktivistischen Perspektive» (S. 226). Ihre Rekapitulation der
Vorwürfe, die einige Stimmen aus dem Publikum an die ReferentInnen adressier -
ten, erinnerten mich an meinen eigenen Eindruck als Teilnehmerin und Referentin,
dass man es niemandem recht machen konnte: Entweder man betonte und zeigte
auf, dass Lesbisch-Sein per se keine Pathologie ist, dass aber lesbische Frauen
selbstverständlich auch unter inneren Konflikten und äusseren Belastungen lei-
den können wie alle anderen Menschen – dann beklagten sich Stimmen aus dem
Publikum darüber, dass man sich als Lesbe wieder einmal nicht gesehen fühlte. Lag
der Fokus im Gegenteil darauf, spezifisch lesbische Konfliktlagen und Belastungen
herauszuarbeiten, beklagten sich dieselben Stimmen aus dem Publikum über
Pathologisierung.
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DOI 10.18754/jf p.63.11
Vom Lärmen des Begehrens … ( Victoria Preis et al., Hrsg.) 153
Dass sich die HerausgeberInnen des Bandes – bei denen es sich gleichzeitig
auch um die unter Beschuss geratenen OrganisatorInnen der Tagung handelt – ent-
schlossen, dieser Dynamik im Sammelband selbst Raum zu geben, war ein kluger
Entscheid. Es gelingt ihnen damit, die Tagung nachträglich produktiv zu machen,
als das, was sie ganz bestimmt auch war: die Inszenierung eines unbewussten
Konfliktes, in der wir alle – OrganisatorInnen, ReferentInnen und Publikum – Rol-
len spielten in einem Stück, das wir nicht kannten. Der Sammelband selbst erhält
damit ein Stück weit die Qualität eines Fallberichtes, die es uns Lesenden erlaubt,
die Dynamik freischwebend auf uns wirken zu lassen und so Hypothesen zu den
Konflikten zu bilden, die dabei möglicherweise am Werk waren. Die zweite besondere Qualität des Bandes ist, dass die HerausgeberInnen
das Publikum dazu eingeladen haben, in eigenen Beiträgen zu formulieren, was
ihnen an der Tagung gefehlt hat. Daraus entstanden ist ein bunter Strauss von ganz
unterschiedlichen Texten, die sich gegenseitig und die Tagungs-Referate gut ergän-
zen und teils explizit, teils implizit kommentieren. So etwa gibt es ein vergnüglich
zu lesendes Interview mit Manuela Kay, Journalistin, Verlegerin und Autorin eines
Lesben-Sexratgebers, in dem nachgeholt wird, was Kay auf der Tagung vermisste:
das ganz konkrete, handfeste Reden darüber, wie lesbische Sexualität gelebt wird.
In einem anderen Beitrag wird der an der Tagung vermisste «positive Blick auf die
psychosexuelle Entwicklung der Frau» eingelöst – so der Untertitel des Beitrages
von Julia Tomanek, die ihrerseits als psychologische Therapeutin und systemische
The
rapeutin tätig ist und die Tagung selbst als pathologisierend erlebt hatte (S. 181).
Tomanek schildert in ihrem Beitrag, welche Bedeutung die 1997 erschienene Studie
von Barbara Gissrau, «Die Sehnsucht der Frau nach der Frau», für die Entwicklung
ihres eigenen Selbstverständnisses als lesbische Frau hatte und wie wohltuend es
für sie war, dass Gissrau den pathologisierenden Konzepten der Psychoanalyse
eine Erzählung entgegenstellte, mit der Tomanek sich als junge Frau identifizieren
konnte. Als psychoanalytisch denkende Leserin mag man die Theorie Gissraus
tatsächlich als idealisierend und unterkomplex halten, wie es an anderer Stelle
im Band heisst (vgl. den «Historischen Abriss» der HerausgeberInnen, S. 36–38).
Tomaneks Beitrag macht aber deutlich, dass wir nicht nur Theorien brauchen,
die uns helfen, unsere eigenen Konflikte und diejenigen unserer PatientInnen zu
verstehen, sondern auch solche, die eine integrative, identitätsstärkende Funktion
haben. Die dritte Leistung des Bandes ist es, dass die HerausgeberInnen selbst
etwas nachliefern, was auf der Tagung ebenfalls vermisst wurde: einen histori-
schen Abriss zu Psychoanalyse und weiblicher Homosexualität, der den patholo-
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gisierenden Strömungen innerhalb der Psychoanalyse Rechnung trägt und die
Ta gung historisch verortet. Die AutorInnen unterscheiden vier Phasen, aus de -
nen sie einzelne theoretische und klinische Beiträge exemplarisch herausgrei-
fen und diskutieren: eine «ambivalente Frühphase», deren Charakteristikum
da rin bestehe, dass ein und dieselben TheoretikerInnen einerseits progressive,
an dererseits normativ-konservative Positionen vertreten (wie Freud selbst); eine
«antihomosexuelle Hochphase» (1950–1990), in der die Psychoanalyse geradezu
aktiv Widerstand geleistet habe gegenüber der gesellschaftlichen Tendenz zur
Liberalisierung; eine «Neuorientierung» in den 1990er Jahren, in der der Bruch
mit dem Pathologisierungs-Paradigma wirksam geworden sei. Die vierte Phase
schliesslich betrifft die «jüngere Vergangenheit» (2000–2020), die sich einer -
seits durch eine starke Tendenz hin zur Pluralisierung von Sexualitäten und
Ge schlechtsidentitäten auszeichne, bei der «die Bemühungen um Theorien über
die (weibliche) Homosexualität und ihre Entstehung» endgültig aufgegeben worden
seien (S. 39). Sofern man sich in der Forschung überhaupt noch mit weiblicher
Homosexualität beschäftige, lasse sich zweitens eine Tendenz zur Fokussierung
auf Themen ausmachen, die sich bei der Behandlung von lesbischen Patientinnen
häufig zeigten (z. B. internalisierte Homophobie oder Inkongruenzen mit den hete-
rosexuellen Elternrepräsentanzen). Schauen wir nun von dieser Gegenwarts-Diagnose her noch einmal zurück
auf die Tagung und den hier anzuzeigenden Sammelband, so lässt sich erstens
sagen: Es gibt einige Beiträge, die die beiden genannten Tendenzen repräsentieren
und bestätigen (insbesondere Quindeau für die Tendenz zur Pluralisierung und
Torelli für die Tendenz zu einem problembezogenen Fokus). Zweitens lässt sich fest-
halten, dass die tatsächlich nebeneinander existierende Vielfalt von Perspektiven,
Positionen und Diskursen über diese Tendenzen weit hinausgehen – und das ist
gut so.
Anmerkung
1 Vorgetragen haben Sonja Düring, Insa Härtel, Patrick Henze-Lindhorst (Nachruf auf
Sophinette Becker), Aaron Lahl, Ilka Quindeau, Almut Rudolf-Petersen (als Ersatz für Anna
Koellreuter, die krankheitshalber ausfiel, deren Beitrag im Band aber enthalten ist), Manuela
Torelli (Eröffnungsvortrag) und ich selbst (meinen Beitrag für den Sammelband konnte ich
aus terminlichen Gründen nicht verschriftlichen).