Sama Maani (2021): Žižek in Teheran


Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 163–166 Sama Maani (2021): Žižek in Teheran K lagenfurt/Celovec: Drava Sebastian Kugler (Wien) Sama Maani ist vieles: Psychiater, Psychoanalytiker und Schriftsteller, ge ­ boren in Graz, aufgewachsen im Iran, Deutschland und Österreich. Nun ist er wohnhaft in Wien, wo er eine bemerkenswerte literarische Produktivität aufweist: seit 2014 erscheinen beinahe im Jahrestakt Essaybände, Erzählungen und Romane von Maani. So mäandernd und experimentierfreudig er sich dabei auf dem Gebiet literarischer Formen bewegt, so konzentriert scheint sein Denken sich an einer psychoanalytisch (und hier insbesondere durch Lacan) inspirierten Linie aus­ zurichten, deren Fluchtpunkt die Nichtidentität des Individuums mit «seiner Kultur» und mit sich selbst darstellt. Ins Visier der Kritik geraten dabei alle Arten von Unmittelbarkeitssehnsüchten und Homogenisierungsideologien, wie sie sich in Kollektivsingularen «Kultur» und «Religion» manifestieren. Maanis Affinität zum Denken des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek verwundert somit ebenso wenig wie seine Aversion gegen Regime wie die Mullah­ Diktatur im Iran. In seinem über 600 Seiten starken Roman Žižek in Teheran führt er dies nun zusammen – und gleichzeitig nicht: Denn weder begegnet uns Žižek in der Haupthandlung des Romans (er tritt erst als Kommentator im Epilog auf ), noch spielt der Roman im «echten» Iran, sondern in der fiktionalen «Islamischen Republik Teheran» – letztere liest sich wie eine Traumlandschaft, in welche erste rer höchstens als Tagesrest eingeht und dort wunderlichste Bearbeitungen erfährt. Geographische Einheiten werden generell mit Städtenamen bezeichnet ( Teheran, Washington, Graz …); die synekdocheische Verdichtung verweist ebenfalls dar ­ auf, dass wir es hier mit einem hochgradig durch die Rhetorik des Unbewussten (Metapher, Metonymie, Synekdoche) ge­ und überformten Text zu tun haben. Ge ­ warnt sei also davor, Themen, Motive und realhistorische Ereignisse, die im Roman vorkommen, allzu unvermittelt mit der ausserliterarischen Welt kurzzuschliessen und in dem Buch nur einen mehr oder weniger allegorischen Kommen tar zur aktuellen politischen Situation im Iran zu lesen. Eine Lektüre, für welche die Form nur einen verhüllenden Zuckerguss über dem «Inhalt» darstellt, muss an Žižek in Teheran scheitern, denn hier ist alles Form, insbesondere der Inhalt. Darauf verweist schon das Schriftbild: Der Roman ist im lyrischen Flatter­ satz gedruckt – allzu schnell haben die Rezensionen deswegen die im Roman selbst © 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jf p.63.14 164 Sebastian Kugler vorkommende Gattungsbezeichnung «Versepos» (S. 616) reklamiert. Walter Fanta (2021) nennt den Roman in seiner Rezension «psychoanalytische Poesie» und kommt damit der Sache schon näher – doch das eminent psychoanalytische der Form ist eben das an dem Roman, was auf der Rezeptionsebene als Poesie wirkt. Wer die Psychoanalyse aus der Praxis kennt, wird sich beim Lesen weniger an die Verse des Vergil erinnert fühlen, sondern eher an das assoziierende und immer wieder im Satz (in der Zeile) abbrechende Gestammel von Analysand*innen: Ihre Poesie ist die der Anakoluthe und Enjambements. Entsprechend wechseln Figuren und Erzählstimmen die Identität, ver ­ schmelzen oder lösen sich auf. Da ist der teheranisch/grazerische Psychoanalytiker und sein als Gefängnisarzt oder Sozialarbeiter arbeitender Analysand, die in eins fallen, da ist die Geliebte Narges, die Assoziationen zu Bretons Nadja weckt, der Schauspieler, Regisseur und vorrevolutionäre Held der Kindheit Kardan, der er mor­ det wird oder doch nicht (der realhistorisch verbürgte Parviz Kardan starb im Sommer 2021), der geheimnisvolle Anführer der «Mittwochsopposition» Danesch, dessen Name in der Sprache Teherans «Wissen» bedeutet (S. 350), und eine ganze Parade verfeindeter Akteure des teheranischen Regimes. Nicht minder verschoben und verdichtet stellen sich die Schauplätze des Ge schehens dar: das «Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache Te he­ rans verfassten Bücher des Internats Islamischer Mädchen» stellt schon in seinem Namen durch die Genitivkette das Sprunghaft­Assoziative aus, welches den Roman kennzeichnet. Ein weiterer Ort sticht hervor: das vom Vater des «Gefängnisarztes» erbaute «Habitat­Gefängnis» Teherans, eine Art fortschrittliches Gefängnis, dessen Konzeption und Architektur darauf angelegt ist, sich selbst Schritt um Schritt zu demontieren und zu öffnen: «Der Tod des Gefängnisses bedeute die Freiheit / Seiner Bewohner» (S. 130) – Homolog zur marxistischen Konzeption des post ­ revolutionären, absterbenden Staates. Doch ebenso wenig wie der stalinistische denkt der islamistische postrevolutionäre Staat ans Absterben, und folglich exis­ tiert auch das Gefängnis weiterhin als Folterkammer und Allegorie gescheiterter revolutionärer Hoffnung. Hoffnung schöpfen jedoch die Oppositionellen rund um Danesch aus einer geheimnisvollen Schrift, die in Teheran zirkuliert. Sie beschreibt einen wahnhaft­ religiösen Prozess, im Zuge dessen ein Mann «verweibert» und mit der Sonne ein neues Menschengeschlecht erschaffen möchte – die Assoziation zu Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken liegt nicht fern – und tatsächlich mehren sich die Berichte, von teheranischen Männern, welche die Schrift lesen und sich daraufhin in Frauen verwandeln. Der Psychiater Simon Žižek in Teheran (Sama Maani) 165 Wessely (1987) würde dies wohl eine motor variant mass psychogenic illness (MPI) nennen und in eine Reihe mit den berühmten mittelalterlichen «Tanz wut­ Epi demien» 1374 am Oberrhein, 1463 im Eifelgebiet und insbesondere 1518 in Strass burg stellen, sowie mit der Tanganyika­Lachepidemie von 1962. Letztere hat der Linguist Christian F. Hempelmann (2007) mit dem im Rahmen soziokul­ tu reller Transformationsperioden wie der Dekolonialisierung auftretenden Stress in Zusammenhang gebracht und dabei auch auf vergleichbare Vorfälle in den Nachbarländern Uganda und Sambia verwiesen, die ähnliche umwälzende Pro­ zesse erlebten. Er analysiert eine transitional stress-inducing situation both in the country, which is in the process of consolidating its recently gained independence, in general, and in the specific circumstances of the affected popu- lation in particular. (S. 62 f.) Wer die Entwicklungen der letzten Jahre im Iran mitverfolgt hat, wird der Diagnose einer «transitional stress­inducing situation» wenig entgegenhalten können. In der Islamischen Republik Teheran breitet sich ein manisch­matriar ­ chalischer Kult aus, der von den Oppositionellen gefördert, ja initiiert wird und schliesslich in einer «Mutterkultrevolution» (S. 584) das patriarchal­religiöse Regime stürzt. In diesem Sinne reiht sich Maanis literarisch inszenierte MPI ein in die realen massenhaften Proteststürme von 2017 und 2019, die Streikwelle vom Sommer 2020 mit den Arbeiter*innen der Zuckerfabrik in Haft Tappeh an der Spitze, bis zu den Protesten gegen Wasserknappheit in der einst wasserreichen Region Khuzestan im Sommer 2021 und den Lehrer*innenprotesten Ende des­ selben Jahres. Nicht nur im literarischen Teheran, sondern auch im realen Iran gibt es wohl viele, die die Hoffnung des Protagonisten auf eine Revolution teilen und seinen Worten zustimmen: Mit Revolution Meine ich natürlich nicht jene Mit der wir uns vor Jahrzehnten In die Scheiße manövrierten Die sich Islamische Republik nennt Sondern jene uns hoffentlich bevorstehende Zweite, die uns von der gschissenen ersten Erlösen wird, Amen (S. 365) 166 Sebastian Kugler Literatur Fanta, W. (2021). Sama Maanis «Žižek in Teheran»: Furcht vor der Verweiblichung Gottes. Der Standard. 19.7.2021, https://www.derstandard.at/story/ 20001 28235781/sama­maanis­zizek­in­teheran­furcht­vor ­der­verweiblichung­ gottes [Letzter Zugriff: 29.12.2021] Hempelmann, C. F. (2007). The laughter of the 1962 Tanganyika ‹laughter epide mic›. Humor – International Journal of Humor Research, 20(1), 49–71. Wessely, S. (1987). Mass hysteria: Two syndromes? Psychological Medicine, 17(1), 109–120.
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