Buchbesprechungen

Markus Fäh (2021). (Hrsg.). Trieb und Ödipus. Einführung in das Denken und Werk von Judith Le Soldat.


Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 155–158 Markus Fäh (2021). (Hrsg.). Trieb und Ödipus. Einführung in das Denken und Werk von Judith Le Soldat. Judith Le Soldat heute, Band 1. frommann holzboog Marie-Luise Hermann (Zürich) Als erster Band der Reihe Judith Le Soldat heute, Theorie und Praxis ist 2021 der vorliegende Sammelband erschienen, herausgegeben von Markus Fäh, unter Mitwirkung von Elisabeth Geiger und Christoph Kappeler. Die Reihe soll die seit 2015 im gleichen Verlag erscheinende Werkausgabe – mittlerweile sind vier Bände erschienen, ein fünfter ist in Vorbereitung – durch Publikationen zu theoretischen Konzepten und ihren praktischen Anwendungen ergänzen. Das Autorenteam hat sich in Band 1 vorgenommen, die durch Judith Le Soldat erweiterte Theorie des Ödi puskomplexes in ihren Bestandteilen einführend darzustellen und sie mit an de ren Weiterentwicklungen der klassischen Theorie nach Freud in Bezug zu set zen und einzuordnen. Der zweite Teil ist der praktischen Anwendung gewid­ met. Grundlage der Buchreihe ist die Beschäftigung einer Gruppe von Zürcher Psychoanalytiker/innen mit Le Soldats Theorie, die sie in Analysen, Supervisionen, Vorträgen, Seminaren und Publikationen vermittelt. Ihr Ziel ist es, «mit diesem Rea d er … eine theoretische und praktische Einführung und Übersicht an die Hand zu geben, die bei der täglichen Arbeit inspiriert und … Neugier für die Au sei­ nandersetzung mit der Theorie von Judith Le Soldat weckt» (S. 15). Wie wird dieses Ziel verfolgt? Für das theoretische Verständnis empfiehlt es sich, dem chronologischen Aufbau der ersten drei Kapitel zu folgen. Zunächst stellt Markus Fäh die klassische Theorie des Ödipuskomplexes in Freuds Konzeption vor und setzt sie in Bezug zu Weiterentwicklungen bei Melanie Klein, feministi­ schen Analytikerinnen und Jacques Lacan. Die Einordnung zeigt Widersprüche und Unklarheiten bei Freud auf – vor allem zur weiblichen Entwicklung –, und wie sie in der Folge weitergedacht oder revidiert werden. Dies ermöglicht den Leser/innen, sich selbst entlang wesentlicher Textstellen bei Freud, Klein oder Chasseguet­Smirgel ein Urteil zu bilden über die Entwicklungslinien, die dann von Le Soldat weitergeführt werden. © 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jf p.63.12 156 Marie-Luise Hermann Ihre Neuerungen und Neukonzeptionen beruhen vor allem auf einer strikt triebtheoretischen Grundlage und Argumentation. Wiewohl Freud für Jungen und Mädchen aktive und passive Triebwünsche und den Wunsch nach beiden Geschlechtsorganen beschreibt, bleibt er mit der Annahme des Penisneids und seiner Begründung der Frau als «kastriert» einer phallozentrischen Sicht verhaf­ tet, die feministisch in der Folge auch vielfach kritisiert wurde. Le Soldat geht aufgrund ihrer Beobachtungen von aktiven und passiven Triebwünschen bei beiden Geschlechtern aus, die ein jeweils anatomisch nicht vorhandenes Organ und entsprechend einen Peniswunsch des Mädchens und den sogenannten «Kol­ poswunsch» nach einer genitalen Öffnung beim Jungen beschreibt. Die Erfüllung dieser Wünsche bildet den zentralen Antrieb der ödipalen Dynamik, die für beide Geschlechter weitgehend parallel an Mutter und Vater gerichtet werden und auf­ grund der Frustrationen zur Kastrationstat führen – dramatisch als Raubmord und Verrat zugespitzt. Dies hat danach lebenslange Folgen aufgrund massiver Kas­ trationsangst vor Strafe und Vergeltung. Eine weitere Triebforderung nach passiv­ aggressiver Erfüllung im Hammerschlag­ oder Apoll­Wunsch führt auch zu einer Neukonzeption der Homosexualität. Es ist das Verdienst des Herausgebers, in den Theoriekapiteln 1 und 2 (hier gemeinsam mit Monika Gsell), die wesentlichen Elemente Le Soldats auf ih re Essenz zu reduzieren und den Anschluss oder Widerspruch zu weiteren Trieb ­ konzeptionen nach Freud herauszuarbeiten. Angesichts der theoretischen Kom­ plexität besticht die Darstellung durch eine einfache, verständliche und dennoch frische Sprache, wohingegen Le Soldat ihr Werk auf der Grundlage eines immensen Wissens in verzweigten Herleitungen und Querbezügen entwickelt hat (1994/2020). Dies erschwert in den Originalwerken einen einführenden Überblick, während die Vorlesungen (2015) sehr verdichtet dargestellt sind. Veranschaulicht wird der Ablauf der ödipalen Stationen und Abwehr po­ sitionen im 3. Kapitel in Christoph Kappelers sehr persönlich gehaltenen Schil­ derungen seiner Entwicklung zum Analytiker und Künstler und der Analyse bei Le Soldat anhand eigener Beispiele sowie Darstellungen in der Kunst, die im A nhang abgebildet sind. Auf der Grundlage von zwei Vorträgen, die er 2016/17 am Psychoanalytischen Seminar Zürich gehalten hat, werden hier die bisher nur theo­ retisch eingeführten Elemente und Gefühlslagen in ihrer ganzen Dynamik greifbar. Im 4. Kapitel veranschaulichen Elisabeth Geiger und Christoph Kappeler die Stadien der ödipalen Wünsche und ihrer Schicksale an psychoanalytischen Kinderbeobachtungen. Hier wird lebendig und deutlich, was Kinder am anatomi­ schen Geschlechtsunterschied und aufgrund ihrer Hoffnung, das «fehlende Organ» Trieb und Ödipus. Einführung in das Denken … (Markus Fäh, Hrsg.) 157 werde noch wachsen oder eröffnet, beschäftigt. Die Fantasiebildungen werden durch aufmerksame teilnehmende Beobachtung im Entstehen verfolgt und mit der Theorie in Verbindung gebracht – im Vorwort markiert als «Meilenstein der psychoanalytischen Literatur, als er psychoanalytische Gespräch mit Kindern, im naturalistischen Kontext der Familie … zugrunde legt» (S. 13). Im zweiten Teil geben die Autor/innen anhand von drei ausführlichen Fall­ darstellungen, die genau dokumentiert und theoretisch reflektiert worden seien (S. 13), Einblick in die praktische Anwendung und Technik ihrer analytischen Arbeit. «In der Adoleszenz ist die Verbindung mit dem Unbewussten noch sehr direkt» (S. 274) kommentiert Elisabeth Geiger am Ende des Falls «Anna – Eine phallische Hemmung» im 5. Kapitel den Verlauf einer niederfrequenten Therapie einer Adoleszenten mit Leistungs­ und sozialen Hemmungen während der Matura und zu Beginn des Studiums. Entlang wesentlicher Sequenzen erläutert sie ihr Verständnis von Symptomen, Abwehrbewegungen und ihre Deutungstechnik des Materials und Stundenverlaufs und ihre Überlegungen zu den reaktivierten ödi­ palen Konfliktlösungen. Diese können sich bei älteren Erwachsenen aufgrund von Verdrängungen und chronifizierten Charakterbildungen in neurotischen Symptomen zeigen, die mit zunehmendem Alter langer und geduldiger hochfrequenter Analyse bedürfen (S. 312). Die Dramatik des Triebgeschehens wird besonders spürbar am Fall «Eva – Kastrationstat und Apoll­Wunsch» (Kapitel 6), in dem der Analytiker Markus Fäh die auf ihn in der Übertragung einwirkenden Triebwünsche, aggressiven Impulse und manifeste Kastrationsangst im Analyse ­Paar darstellt. Auswirkungen ungelös ­ ter ödipaler Konflikte auf die Lebensführung, Liebes­ und Arbeitsfähigkeit werden ebenso vermittelt wie eine hoch emotionale Dynamik im Analyseverlauf. Im Fall «Oliver» kann man «das Schicksal des passiven Wunsches» bei einem jungen Mann in einer hochfrequenten Analyse im Ablauf der ödipalen Stationen nachvollziehen (Dominic Suter und Elisabeth Geiger, Kapitel 7). Hier wird beson­ ders eng am Material vorgeführt, wie sich das Unbewusste in Wortbildungen und Träumen verdichtet manifestiert und wie diese gedeutet werden können. Auffallend ist, wie alle Analytiker/innen als Übertragungsobjekt die un ­ ge stü men kindlichen Wünsche und Emotionen zulassen und sich verwickeln las sen. In den Falldarstellungen offenbart sich auch der Zugewinn an Ver ständ­ nis und Deutungsebenen sonst schwer erklärbarer Inszenierungen und die Ent­ wicklungsmöglichkeiten der Analysand/innen, die sich auf diesen Prozess einlassen. 158 Marie-Luise Hermann Neue Dimensionen, aber auch Schwierigkeiten in der Behandlung werden sichtbar gemacht. Die Macht der unbewussten Triebdynamiken in allen Facetten auffächern, ausführen und zur Diskussion stellen, lässt sich als Anliegen dieses Sammelbands zusammenfassen, das in jedem Kapitel verfolgt und auch eingelöst wird. Kritisch anzumerken ist, dass dies zu manchen Wiederholungen in der Darstellung der ödi palen Entwicklungsschritte führt, es erleichtert hingegen das unabhängige Le sen einzelner Kapitel und dient dem Lerneffekt. Durch den einführenden Charakter ist der Band gut geeignet, auch Fach­ kolleg/innen und interessierte Laien zu erreichen, die sich noch nie mit der The­ rie Le Soldats beschäftigt haben. Die Auseinandersetzung mit der Theorie, ihren Folgen und Anwendungen lässt sich jedoch nicht intellektuell «absolvieren», man wird bei der Lektüre verwickelt, stösst auf eigene Identifikationen und Widerstände. Nicht die Theorie polarisiert, sondern die von Le Soldat dargelegte psychische Grund verfasstheit des Menschen – mit Triebwünschen, die unerfüllbar sind, und die erfüllbaren bleiben überschattet vom Kastrationskomplex. Das ist die Bot schaft. Die Wirkung einer solchen Psychoanalyse führt auch Freuds Destillat der «Liebes­ und Arbeitsfähigkeit» als Analyseziele fort – zu allen Varianten der Genussfähigkeit, des wissbegierigen Lernens, Zugreifens und Aufnehmenkönnens, des Übermanntwerdenwollens, des positiven Stolzes und Lebensmuts. Zugleich sind die Möglichkeiten des Scheiterns, der Symptombildung und des «mensch­ lichen Unglücks» (Le Soldat, 1994/2020) abgebildet, als Teil eines jeden von uns. Literatur Le Soldat, J. (1994). Eine Theorie menschlichen Unglücks. S. Fischer. Kritisch revi­ dierte Neuausgabe (2020). Raubmord und Verrat. JLS 3 . frommann ­holzboog. Le Soldat, J. (2015). Grund zur Homosexualität. JLS 1. frommann­holzboog.
Sekretariat
Psychoanalytisches Seminar Zürich PSZ
Renata Maggi und Diana Bochno
Quellenstrasse 27
CH - 8005 Zürich
Tel. 044 271 73 97
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. 
Öffnungszeiten Sekretariat
Dienstag, Mittwoch & Donnerstag
9-12 Uhr & 14-17 Uhr
Informationsstelle, Fachliche Fragen
Seminarleitung
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.