Buchbesprechungen

Annemarie Andina-Kernen: Psychisches Wachsen. Symbolisierung, Metapher und künstlerisches Schaffen aus psychoanalytischer Sicht


Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 159–162 A nnemarie A ndina-Kernen: Psychisches Wachsen. Symbolisierung, Metapher und künstlerisches Schaffen aus psychoanalytischer Sicht Basel: Schwabe, 2021 Michael Döhmann (Zürich) Aber das Wort war doch ursprünglich ein Zauber, ein magi- scher Akt, und es hat noch viel von seiner alten Kraft bewahrt. (Freud 1926) Dass die Autorin dieses Zitat an den Anfang ihrer Publikation stellt, zeugt von ihrem grossen Respekt vor der Bedeutung des Wortes. Gleichzeitig verweist es für die Herkunft des Wortes auf den Bereich des Magischen, genauer gesagt: Auf die Kraft, die in dieser Magie wirksam ist. Aus psychoanalytischer Sicht ist es schlüssig, dass eine Quelle dieser Kraft das Unbewusste ist mit seiner Fülle an psychophysischen Erfahrungen, in denen Selbstwahrnehmung und Beziehungsgeschehen erste Ausdrucksformen erhalten, bevor diese zur Sprache kommen, sei es als inneres Bild, als coenästhetisches Empfinden oder anderen sinnlichen Wahrnehmungen. Mit dieser Fülle an sinn­ lichen Eindrücken kann dem Wort und der Sprache eine Vielzahl an Bedeutungen zufliessen, die sich auch untereinander verbinden. Das macht den Reichtum der sprachlichen Mitteilung aus, ihren Zauber und ihre magische Kraft, ihren Sym­ bolcharakter und ihre metaphorische Bedeutung. Bleibt die Sprache mit dem Unbewussten in Verbindung, dann teilt sich die ses im Sprechen mit, umso mehr, je hellhöriger auf eine gefühlte, lebendige, emotional «stimmige» Wortwahl geachtet wird. Es ist jener Respekt vor der Traum­ erzählung, den Assoziationen des Patienten und der Deutung des Ana ly tikers, der dem Wort seinen Zauber und seine Kraft belässt. Aber auch in der Poesie, dem künstlerischen Ausdruck der Sprache teilt sich das Unbewusste mit, verzaubert den Leser mit der Wortmagie. In diese Räume führt uns Annemarie Andina­Kernen mit diesem neu erschienenen Buch. Auf Grund dieses bereits in früheren Publikationen erarbeiteten Ver ständ­ nisses gelingt es ihr nicht nur, dem Leser die Verwandtschaft der analytischen mit © 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jf p.63.13 160 Michael Döhmann der dichterischen Sprache näher zu bringen. Auf ihrer gemeinsamen Grundlage als Sprachkunst schlägt die Autorin auch den Bogen hin zur bildenden Kunst. Auch diese speist sich unter anderen aus un­ und vorbewussten Quellen, mit jener «alten Kraft», von der im Motto dieser Publikation die Rede ist. Es macht unter anderem den Wert dieses Buches aus, dass Annemarie Andina­Kernen konsequent – auch in ihren geisteswissenschaftlichen Exkursen in verwandte Bereiche – immer auf den Referenzrahmen der Psychoanalyse zurück­ kommt, die «psychoanalytische Sicht», wie es im Untertitel des Buches heisst, beibehält. Dabei kommt nicht nur Theoretisches und Metapsychologisches zur Sprache. Mit zahlreichen Fallbeispielen aus ihrer Praxis zeigt Annemarie Andina­ Kernen, was ein aufmerksames Zuhören und Wahrnehmen der Worte bewirken kann. Zunächst erfährt man, wie Symbole aus Repräsentanzen entstehen. Anhand der frühen Mutter ­Kind­Beziehung wird verdeutlicht, wie bedeutsam sinnliche Erfahrungen sind, die im «intermediären Raum» im spielerischen Dialog mit der Mutter ein Echo erfahren und zusammen geteilt werden können. Dieses Erleben hinterlässt basale Eindrücke, Repräsentanzen, woraus sich Erinnerungssymbole und Symbolisierungen entwickeln. Ohne diese Erfahrungen kann kein Körperbild, kein Bild von sich selbst und dem anderen entstehen. Das Kind ist der inneren Befindlichkeit hilflos ausgeliefert, für die es keine inneren Vorstellungen hat. In einem nächsten Kapitel wird das bisher Erarbeitete auf die analyti­ sche Praxis angewendet. Am Beispiel ihrer Patientin Lisa schildert Annemarie Andina­Kernen schwer fassbare Zustände erdrückender Wertlosigkeit, gravieren­ der Depression und alles durchdringender Negativität. Durch die gemeinsame Besetzung der gesprochenen Worte erfahren diese eine besondere Bedeutung und können sich im intermediären Raum entfalten. Es gelingt der Autorin, aufzuzeigen wie aus konkretistisch Gedachtem sich ein metaphorischer Raum entfaltet. Dabei erfährt Lisa im intermediären Raum der Übertragung eine seelisch, sowie auch eine körperlich empfundene Erschütterung, die sie zu einer wichtigen Erkenntnis bringt. Durch die beschriebene Symbolisierungsarbeit beginnt Lisa seelisch zu wachsen. Der Buchtitel «Psychisches Wachsen» beschreibt diesen inneren Prozess. Wir folgen der Autorin, wenn sie nun eine Brücke schlägt von dem Sym­ bolisierungsvorgang im analytischen Raum zur Fähigkeit des Dichters, solche Symbolbildungen zu einem literarischen Kunstwerk zu komponieren. Nicht nur das analytische Paar kann über die Sprachmagie verfügen, von der hier die Rede ist. Dem Dichter gelingt es, seelischen Zuständen einen poetischen Ausdruck zu geben, der bei anderen Menschen einen tiefen Eindruck hinterlässt und eben­ Psychisches Wachsen … (Annemarie Andina-Kernen) 161 solche seelischen Erschütterungen auslösen kann. Der Psychoanalytiker, auch wenn er nicht über die Begabung des Dichters verfügt, kann sich ihn zum Vorbild nehmen, wie etwas gesagt sein möchte, um zu bewegen. «Die technische Bedeu­ tung des sinnlichen Sprechens, insbesondere mit Metaphern» nennt die Autorin ein Kapitel und veranschaulicht ihre Ausführungen mit eindrücklichen Beispielen. Metaphern sind ein geeignetes technisches Werkzeug, um PatientInnen affektiv zu erreichen. Hier schliesst die Autorin einen Exkurs zur Metaphorik an: Sie versteht Metaphorik als eine Bildersprache, in der Bilder früheren sinnlichen Erlebens gespeichert sind, das mit dem Aussprechen der Metapher erfahrbar wird. Da Metaphern in ihrer Verdichtung immer auch auf noch nicht Ausgesprochenes, auf Un­ und Vorbewusstes verweisen, öffnen sie in der analytischen Arbeit jenen Raum, von dem die Rede war. In diesem intermediären Raum können sich Me ta­ phern ausbreiten, spürbar werden, ohne dass das Gemeinte direkt benannt wird. In dieser Auffassung folgt die Autorin zur genaueren Bestimmung der Be deutung der Metapher Hans Blumenbergs, der mit dem Begriff der «absolu­ ten Metapher» (Blumenberg, 1960) das Verhältnis von dem zu Begreifenden und dem Begriff umkehrt. Die «absolute Metapher» ist das Primäre, woraus sich alle Erkenntnis ableitet. Sie erweist sich als der eigentliche Wissensvorrat, aus unmit­ telbarer Erfahrung entstanden, woraus sich Begriffe und damit Erkenntnis entwi­ ckeln kann. Die «absolute Metapher» gehört dem Bereich der Phantasie an, einer Phantasie, die nicht in einem Gegensatz zur Realität steht, sondern die – ähnlich wie das Unbewusste Freuds, wie die Autorin folgert – zu einer «katalysatorische(n) Sphä re» wird (68), aus der sich die Begriffswelt bereichert und Erkenntnisse ge winnt. Annemarie Andina­Kernen folgert nun: «Indem Blumenberg auf die ‹ka ta­ ly sa torische Sphäre› des Bildervorrats hinweist, haben Bilder im Sym bo li sie- rungs vorgang die Funktion, wie ein Katalysator zu wirken. Das heisst: Metaphern be inhalten in ihren Bildern eine ( Trieb­)Kraft, die in eine bestimmte Richtung drängt. Tatsächlich hat bereits Freud in Die Traumdeutung darauf hingewiesen, dass ‹Bilder unser Bewusstsein erregen› und uns damit zum Nachdenken anregen (Freud, 1900a, S. 580). Das heisst, die ( Trieb­)Kraft der Sachvorstellung und die Besetzung derselben bewirken eine Überbesetzung, die Assoziationen und ent­ sprechende Wortvorstellungen evoziert» (68). Metaphern sind also ein geeignetes Mittel, Sinnlichem, Vor ­ und Unbewusstem nahe zu sein, um weniger in sekun­ därprozesshafte Deutungen zu verfallen. Zusammenfassend kann gesagt werden, Annemarie Andina­Kernen geht es darum, die wechselseitige Durchdringung von psychoanalytischer und poetischer 162 Michael Döhmann Sprache, von Psychoanalyse und künstlerischer Erfahrung und Darstellung als eine Möglichkeit zu begreifen, sich gegenseitig zu befruchten. In diesem Sinne ist das Buch mit seiner klaren und didaktisch vorzügli­ chen Sprache eine unverzichtbare Einführung für PsychoanalytikerInnen, deren Interesse den Zusammenhängen zwischen dem Ausdruck des Sprechens in der analytischen Situation und dem künstlerischen Ausdruck gilt. Literatur Blumenberg, H. (1960/1998). Paradigmen zu einer Metaphorologie. Suhrkamp. Freud, S. (1900a). Die Traumdeutung. GW II–III. Freud, S. (1926e). Die Frage der Laienanalyse. GW XIV, S. 207–286.
Sekretariat
Psychoanalytisches Seminar Zürich PSZ
Renata Maggi und Diana Bochno
Quellenstrasse 27
CH - 8005 Zürich
Tel. 044 271 73 97
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. 
Öffnungszeiten Sekretariat
Dienstag, Mittwoch & Donnerstag
9-12 Uhr & 14-17 Uhr
Informationsstelle, Fachliche Fragen
Seminarleitung
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.