Journal für Psychoanalyse, 63, 2022, 148–151 Buchbesprechungen Anna Koellreuter und Margret Hauch (Hrsg.). Sophinette Becker: Leidenschaftlich analytisch – Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse Psychosozial, Gießen, 2021 Dominique Emch (Zürich) Sophinette Becker vereint, was heute von Psychotherapeut*innen ganz selbst verständlich angenommen wird: eine Synthese und Wissen um Individualität und Sexualität, eine ganzheitliche Betrachtung, die Psychoanalytiker*innen zu vermeintlichen Expert*innen von Sexualität und (Geschlechts-)Identität(en) macht. Durch ihre Ausbildung als Psychoanalytikerin und Sexualwissenschaftle - rin gelingt es ihr, kontrovers diskutierte Themen aufzugreifen und aufzuarbei- ten, ohne dabei die kulturellen, historischen und politischen Hintergründe zu ver nachlässigen. Im vorliegenden Band erlauben uns die Herausgeberinnen einen die wich tigsten Vorträge und Texte umfassenden Streifzug durch die vielschichtigen Themen des Schaffens und Lebens von Becker: von AIDS zur Bosheit der Frau, Nationalsozialismus, dem Umgang mit Schuld, Pädophilie, Trauma, Sexualität, Perversionen der Frau, Körperselbst, Transgender, Bisexualität und sexuelle Orient- ierungen im Allgemeinen. Besonders interessant und neue Perspektiven eröffnend empfinde ich ihre Werke und Vorträge zum Thema der sexuellen Orientierung sowie der Ge - schlechtsidentität, auf die ich näher eingehen möchte. Die Themen des Na tio- nalsozialismus, Kriegs und Umgangs mit Schuld sind jedoch aufgrund aktueller politischer Entwicklungen ebenso erhellend. Becker stellt einen elaborierten Zusammenhang zwischen Formen der ge lebten und ungelebten Sexualität, Trauma, Machtgefühlen bis hin zu sexueller Orientierung und Identität her, ohne den psychoanalytischen Blickwinkel zuguns- © 2022, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. D OI 10.1875 4/jf p.6 3 .10 Sophinette Becker … Anna Koellreuter und Margret Hauch (Hrsg.) 149 ten eines pragmatischen Denkens und konkreten Durcharbeitens und Verstehens zu verlieren. Besonders hervorzuheben ist ihre theoretisch begründete Position, dass weder die Ausrichtung des sexuellen Begehrens noch die Geschlechtsidentität bereits vorgeburtlich unausweichlich und unabänderbar eingraviert sind noch gänz lich frühkindlichen Prozessen unterliegen, sondern in einem komplexen Wechselspiel entwickelt werden, was es noch genauer und weiterhin zu ergrün- den gilt. Sie plädiert entgegen des poststrukturalistischen Diskurses über das Ver - hältnis von Männlichkeit und Weiblichkeit für einen Einbezug des realen physi- schen Körpers, in dem sich die Psyche in Abhängigkeit von der Umwelt entwickle. So ist für Becker klar: Wir sind nicht fluide und es spielt eine integral wichtige Rolle, in welchem (biologischen) Körper wir geboren wurden. Es gibt keine Wahlmöglich- keit des körperlichen Geschlechts (S. 200). Sie zeigt auf, dass die rein biologische Betrachtung der Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung sich auf der einen Seite von der Biologie, dem Körper löst, jedoch gleichzeitig eine «Rebiologisierung» stattfindet (S. 205). Es sind nicht mehr die Geschlechtsorgane, sondern die «Gene» und «das (physische) Gehirn» mit seinen einzigartigen Funktionsweisen, teilweise sogar vorgeburtlich determiniert, die das Geschlecht bestimmen. Zeitgleich gilt das Geschlecht als konstruiert, beliebig veränderbar und fluide, das Weibliche und Männliche immer uneindeutiger erfassbar und doch sich immer wieder selbst im Diskurs reproduzierend. Diese Gleichzeitigkeit von Doppelbewegungen wie (vorgeburtlich festgelegte) Biologie des Gehirns und der Gene versus und gleich- zeitig beliebige Konstruierbarkeit von Geschlecht und Sexualität (S. 205) in der Gesellschaft und im Individuum vermag sie auf eindrückliche Art und Weise ein- gängig zu beschreiben. Dabei seien psychisch individuelle Entwicklungen eines jeden Individuums, die zur Formung der eigenen Geschlechtsidentität führen, noch längst nicht genügend erforscht und durchdacht. So frei, wie wir denken, sind wir wohl betreffend der Loslösung der binären Geschlechtsdenkweise nicht. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik zum viel beachteten Artikel von Hans- bury zu «Das männliche Vaginale – Die Arbeit mit der Körperlichkeit Quee rer an der Transgender-Schwelle» 1 zu verstehen. Hansbury geht von einer Gleichstellung von Fantasie des/der Patient*Innen und der realen Körperlichkeit aus. Becker hingehen geht neben der Fantasie vom Körper von einer pragmatischen, organischen Ebene der Körperlichkeit aus, die sich nicht negieren lässt. Sie übt Kritik an der Deutung Hansburys, dass der biologisch männliche Patient eine real vorhandene Vagina besässe, die ihm genommen worden sei, obwohl er dies aufgrund des männlichen Geschlechts offenbar nicht hat. Durch die Analyse bekäme dieser Patient «wieder 150 Dominique Emch eine Vagina». Hansbury lässt diesen Aspekt unbearbeitet und ohne Bedeutung offen, er weist nicht darauf hin, wie er diese Deutung herleitet (S. 312). Es klingt fast so, als sei dem Patienten eine reale Vagina entfernt worden und nun ist es unklar, ob diese wieder hergestellt werden soll oder ob es darum geht, diese fantasierte Vagina zu akzeptieren. Becker weist uns darauf hin, unsere Patient*innen auch mit der physischen und psychischen Realität zu konfrontieren und den Verlust der bisexuellen Omnipotenz anzusprechen und so zu einem integrierten Verständnis des Körpers und der Geschlechtlichkeit zu gelangen. Die Entwicklung der sexuel- len Orientierung als auch der Geschlechtsidentität sind als dynamische Prozesse zu verstehen, die sich mit der Auseinandersetzung der bisexuellen Omnipotenz (S. 175) beschäftigen. Für Becker bedeutet bisexuelle Omnipotenz, «alles zu haben und alles zu können», fluide zwischen männlichen und weiblichen psychischen und körperlichen Aspekten «wechseln und gleiten» zu können, was sich an der Realität bricht und in Fantasien und am Körper kaum aufrechtzuerhalten ist. Für sie ist es zentral bedeutsam, die Fantasien der Patient*innen genauer zu erforschen und in Bezug zum realen Körper zu setzen. Sophinette Becker macht neugierig, sich weiterhin mit den Themen der Ge s chlechtsidentität und Sexualität auseinanderzusetzen, ohne dabei in ein Pa thos zu verfallen. Wichtig ist hervorzuheben, dass die psychoanalytische Behandlung er gebnisoffen und explorierend ist und dabei einen «bisexuellen/bigender Mög- lich keitsraum eröffnet» (S. 233), in dem Ambivalenzen und Ungelöstes in Bezug auf die eigene sexuelle Orientierung und Geschlechtlichkeit Raum erhält und er tragen werden können. Als mögliches Psychotherapieziel einer Behandlung von transgender Patient*innen stellt sie vor allem die Herstellung eines solchen Möglichkeitsraumes dar, indem Blockaden der eigenen Entwicklung überwunden und neue Erlebnisweisen möglich werden. Das Buch stellt eine gelungene Auswahl an Texten und Vorträgen aus Beck ers Forschungen und Fragen zusammen und macht neugierig auf die Aus- einandersetzung mit dem Thema Geschlecht und sexuelle Orientierung im psy cho- analytischen Diskurs. Becker gelingt es, schwierige Themen mit einer Leichtigkeit zu präsentieren und sie verständlich zu machen. Ihre bestärkenden und strukturie- renden Inputs zu Geschlecht und Geschlechtsidentität führen, so glaube ich, dazu, dass sich immer mehr Psychoanalytiker*innen für die Arbeit mit trans* Personen begeistern können und auch im Umgang mit dem Thema Geschlechtlichkeit bei cis-gender Personen vertrauter werden und diese Gedanken mehr in ihren thera- peutischen Alltag einbeziehen. Sophinette Becker … Anna Koellreuter und Margret Hauch (Hrsg.) 151 Anmerkung 1 Hansbury, G. (2019). The Masculine Vaginal: Working With Queer Men’s Embodiment at the Transgender Edge, Journal of the American Psychoanalytic Association, 65, 6, p. 1009–1031.