Schwerpunkt

Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens

Der Beitrag befasst sich mit den Überlegungen von Winnicott zu den Übergangsphänomenen. Ausgehend von der Erlebenswelt des Neugeborenen, das sich aus der Mutter-Kind-Einheit lösen muss, um sich als eigenes Subjekt entwickeln zu können, wird die Skizzierung des Übergangsraums weiterentwickelt und auf andere Erfahrungen wie die Entwicklung von Gedanken (Bion) oder den Übertritt in den Schlaf (Merleau-Ponty; Levinas; Waldenfels) übertragen. Die Geburt als Eintritt in das Leben spielt dabei sowohl als stets vorausliegende Phänomenalität wie auch als symbolische Grenzüberschreitung von der Vorzeit in eine Lebenszeit eine zentrale Rolle (Rank; Kaplan) und markiert einen Ausgangspunkt für die verschiedenen Aspekte des Verständnisses von Subjekt und Objekt. Schwellenerfahrungen machen nachträglich verständlich, dass Räume neu erschlossen werden können oder nachträglich als beengende Räume erlebt wurden. Die Erfahrungen an den Grenzen erschliessen Innen und Aussen und können als dynamisierende Prozesse beschrieben werden, die nachträglich frühere Horizonte als beschränkte Wahrnehmungs- und Reflexionswelten erkennbar werden lassen, während sie vorweg noch als «undenkbar» erschienen. Die Störung des eigenen Erfahrungsraums wird dabei als Aufgabe verstanden, Antworten auf krisenhaftes Erleben zu entwickeln und sich dazu auch einem Wagnis auszusetzen, sich durch die Schöpfung eines Übergangsraums selbst neuen Erwartungshorizonten zu überantworten. Damit ist stets auch die Bearbeitung von ängstigenden Beschränkungen verbunden.


Journal für Psychoanalyse, 62, 2021, 63–85 Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens Ulrich A. Müller (Hannover/Kassel) Nichts, was man fürchten müsste. ( Julian Barnes, 2008) Das Erleben hat sowohl eine physische als auch eine metaphysische Dimension. Vorstellungen bereichern und begleiten Körperfunktionen und Körperfunktionen begleiten und verwirklichen Vorstellungsbilder. (Donald W. Winnicott, 1983, S. 92) Zusammenfassung: Der Beitrag befasst sich mit den Überlegungen von Winni­ cott zu den Übergangsphänomenen. Ausgehend von der Erlebenswelt des Neu­ geborenen, das sich aus der Mutter ­Kind­Einheit lösen muss, um sich als eigenes Sub jekt entwickeln zu können, wird die Skizzierung des Übergangsraums wei­ terentwickelt und auf andere Erfahrungen wie die Entwicklung von Gedanken (Bion) oder den Übertritt in den Schlaf (Merleau­Ponty; Levinas; Waldenfels) übertragen. Die Geburt als Eintritt in das Leben spielt dabei sowohl als stets vorausliegende Phänomenalität wie auch als symbolische Grenzüberschreitung von der Vorzeit in eine Lebenszeit eine zentrale Rolle (Rank; Kaplan) und mar ­ kiert einen Ausgangspunkt für die verschiedenen Aspekte des Verständnisses von Subjekt und Objekt. Schwellenerfahrungen machen nachträglich verständ lich, dass Räume neu erschlossen werden können oder nachträglich als beengende Räume erlebt wurden. Die Erfahrungen an den Grenzen erschliessen Innen und Aussen und können als dynamisierende Prozesse beschrieben wer den, die nach­ träglich frühere Horizonte als beschränkte Wahrnehmungs­ und Reflexionswelten er kennbar werden lassen, während sie vorweg noch als «un denkbar» erschie­ nen. Die Störung des eigenen Erfahrungsraums wird dabei als Aufgabe verstan­ den, Antworten auf krisenhaftes Erleben zu entwickeln und sich dazu auch ei nem Wagnis auszusetzen, sich durch die Schöpfung eines Übergangsraums selbst neuen Erwartungshorizonten zu überantworten. Damit ist stets auch die Bearbeitung von ängstigenden Beschränkungen verbunden. Schlüsselwörter: Übergangsraum, Angst, Kreativität, psychische Geburt, Schlaf © 2021, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jfp.62.5 64 Ulrich A. Müller Es ruft immer wieder Staunen hervor, in welcher Weise ein Kind diese Welt neu erschafft und sich damit selbst auch die grossartige Illusion verschafft, für seine Objekte selbst aktiv geworden zu sein. Dieser paradoxe Ausgangspunkt sollte nach Winnicott (1998, S. 163) prinzipiell bereits bei einem Säugling als kreati­ ves Leistungsvermögen vorausgesetzt werden, auch wenn die Welt – in unserem Erfahrungshorizont – schon vor dem Neugeborenen vorhanden gewesen ist. Erst «nach und nach entwickelt das Individuum ein intellektuelles Verständnis für die Tatsache, dass es die Welt bereits gab, bevor es selbst geboren wurde, das Gefühl aber, sie selbst geschaffen zu haben, bleibt bestehen» ( Winnicott 1998, S. 164)). Im Grunde liegt der kreative Akt, wie ihn Winnicott beschreibt, jedem neuen Gedan­ ken zugrunde. Der Gedanke von etwas Neuem schafft Etwas, wo zuvor noch nichts war. Aus nichts wird Nichts und damit bald doch schon Etwas, was anders ist als «Ich» es ist: die Schöpfung des Nicht­Ich – wie Winnicott dies benennt – aus dem Nichts. Dieser souverän anmutende Akt ist der Ausgangspunkt einer schöpferi­ schen Tätigkeit, die eine Lösung sucht, wo sich dem Organismus des Kindes eine Krise zur Bedrohung anwuchs. Kinder, die auch später in eine solche Krise geraten sind, suchen nach einer Lösung, phantasieren sie, entwickeln «unheimliche» Gedanken und Kräfte, versu­ chen zu zaubern, bringen Unglaubliches zur Sprache, und manchmal brauchen sie bei diesem Suchen eine Begleitung, um sich dem inneren Konflikt, der auch von aussen induziert sein kann, zu stellen. Diese «Zauberkräfte» zeigen Wirkung, umso mehr, wenn sie von Anderen anerkannt werden. Am Ausgangspunkt sind sie mit ihrer Suche alleine, müssen sich selbst ermächtigen, um die Erfahrung zu machen, dass es notwendig ist, einen Sprung zu wagen aus einer beengenden primären Einheit. Später kann dieser gewagte erste Übergang wegweisend sein für wiederkehrende Wagnisse, sich aus dem Gewohnten heraus zu begeben, um neue Erfahrungen machen zu können. Merleau­Ponty (1984) hat an der «Kin­ der zeichnung» sichtbar werden lassen, wie die bildgebende Darstellung für ein Kind weniger Ausdruck eines Symptoms als vielmehr die Bearbeitung des darin enthaltenen Konflikts selbst ist. Die Zeichnungen des Kindes sind weniger diag­ nostisch interessant als vielmehr bedeutend, insofern sie das Potential des Kindes hervorheben, den Impuls zur Schöpfung aus sinnleerem Unheimlichem etwas Erfahrbares werden zu lassen. Dies ist im Wortsinn «Poesie», wie Merleau­Ponty schreibt, wo die «ursprünglichen Ausdruckweisen [des Kindes] aus sich selbst her ­ aus als positive Leistungen» verstanden werden können (Merleau­Ponty, 1984, S. 163 ff.). Ein solcher phänomenologischer Perspektivwechsel vom klinisch­diag­ nos tischen Blick zum Verstehen des Vollzugs einer «spontanen Geste» ist für Win­ Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 65 nicott gewissermassen Modell für die Anerkennung wiederholter kreativer Akte, durch die zwischenzeitliche Schaffung von Illusionen, Lösungen zu suchen und sich auch zu erschliessen. «Dieser intermediäre Erfahrungsbereich, der nicht im Hin blick aus seiner Zugehörigkeit zur inneren oder äusseren Realität in Frage ge stellt wird, begründet den grösseren Teil der Erfahrung des Kindes und bleibt das Leben lang für aussergewöhnliche Erfahrungen im Bereich der Kunst, der Re ligion, der Imagination und der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit erhal­ ten» ( Winnicott, 1974, S. 25). Dieser imaginative «Zwischenraum» ist daher wohl nicht nur für den Säugling Ausgangspunkt einer Ent­Wicklung aus dem mütterli­ chen Binnenraum, sondern ist konstitutiv für weitere Prozesse in der Psychogenese eines Menschen. Wo eine Krise war, da tut sich auch die Quelle einer Lösung auf, die sich in einer «spontanen Geste» zu zeigen gibt. Es böte sich in der Krise die Lösung schon mit der Aufgabe an. Sie muss auf­ und angenommen werden. Aufgabe und Lösung fallen im Grunde in eins. Solange das Baby keine Grenzen kennt, wird jegliche plötzlich erlebte Begrenzung als beängstigende Einengung erlebt Der Begriff der Angst leitet sich etymologisch aus der Erfahrung der Enge ab (www.angst­geschichte.com; vgl. auch Condrau, 1996). Im Zuge der weiteren Betrachtung wird sich diese begriffliche Herleitung begründen lassen. Der veren­ gende Kehllaut in der deutschen Aussprache macht leibhaftig spürbar, wie sich die Enge im Sprechen erlebbar machen kann. Auch das Erleben einer ersten Einengung beim neugeborenen Kind ist durch komplexe Eindrücke gekennzeichnet, die von bestürzender Dramatik sein dürften, wodurch eine Entwicklung in Gang kommt, an deren Ausgangspunkt die Angst «ohne Inhalt» (Bion, 1963, S. 226) steht, weil sie noch kein Objekt hat: «Angst auf dieser frühen Stufe ist nicht Kastrationsangst oder Trennungsangst; sie hat mit ganz anderen Dingen zu tun; sie ist in Wirklichkeit Angst vor Vernichtung.» ( Winnicott, 1987, S. 53). Es ist eine Erregung, hervorge­ bracht durch das Empfinden der ohnmächtigen Einengung. Auch im späteren Leben berichten Kinder von einer Angst, die sie nicht benennen können, sodass sie umso «unheimlicher», d. h. im Sinne von Freuds Überlegungen dazu (Freud, 1919h) in einer heimischen Umgebung das Bewohnte befremdlich werden lässt (vgl. Müller, 2014). Die Paradoxie dieses Vorgangs besteht darin, dass es für diesen Übergang, an dem die Enge spürbar wird, keine eindeutige Grenze gibt, weil die Grenze selbst schon einen neuen Erfahrungsraum konstituiert hat, der vorher noch nicht erkennbar war. Wenn Winnicott behauptet, es gäbe so etwas wie ein Baby 66 Ulrich A. Müller nicht (u. a. Winnicott, 1983, S. 130; 1987, S. 50), so skizziert er damit den Zustand einer unbegreiflichen Grenzenlosigkeit eines lebendigen Organismus, der sich paradoxer weise erst im Moment des Erlebens in seiner immanenten Eigenheit zu entdecken beginnt, dadurch, dass ein Äusseres auftaucht, das etwas (ihn selbst) erst zu sich selbst kommen lässt. Winnicott charakterisiert dies als das Paradox des Ursprungs, indem ein Übergangsraum zugleich gefunden und erfunden wird. Der eigene Ursprung ist eine kreative Schöpfung, die ich mir selbst aneigne. Die Mutter bietet an, was der Säugling verlangt, wenn die Mutter ihm das Angebot macht, sich zu lösen. In diesem Beziehungsgeflecht ist die – nach der erfolgten Tren nung geläufige – Unterscheidung zwischen aktivem Anstoss und passiver Reak tion nicht bestimmbar. Diese Verflochtenheit lässt sich nachvollziehen im Erleben einer projektiven Identifizierung, die in der Beziehung Subjekt und Objekt für einen Moment einander aufhebt. Was für das Neugeborene gilt, affiziert auch die Mutter, insofern sich bei de in einem Nursing Couple befinden, deren Innigkeit zwar der Mutter eine Aus­ senwelt lässt, doch dem Kind nur die Anlagen dazu zur Verfügung stellt. Was auch als projektive Identifizierung beschrieben wird, bestimmt in den ersten Wo chen die Mutter ­Kind­Einheit, zeigt sich aber in der weiteren Entwicklung als In gre­ dienz fortschreitender Erlebens­ und Erfahrungswelten: Übergänge werden als Zwischenwelten erfahrbar an der Quelle von neuen Ideen und Einsichten, im kon­ zen trierten Nachdenken, im überraschten Erstaunen oder auch an der Schwelle des Übergangs zum Schlaf. Dieses Zu­sich­Kommen in der Begrenzung ist ein Erleben, das durch die Fähigkeiten der Sinne erschlossen wird, die in einer selbstreferentiellen Weise sich der eigenen Spuren zu besinnen beginnen. Die Sinneseindrücke bedürfen der Reize, die sowohl von innen wie auch von aussen eine Reaktion provozieren: Die Reizung erfolgt im Organismus und wird nach und nach mit einem Objekt in Verbindung gebracht: Es nervt, weil es an den Nerven rührt ohne bereits eine Qualität (Lust, Freude, Trauer) zu besitzen. Freud beschrieb diese immanente Schleife in Form kommunizierender Röh ren, die im Zuge der Bildung von Nervenbahnen gleichsam auf sich selbst Bezug nehmen müssen, um Erinnerung zu ermöglichen. Im «Entwurf» – dessen Entwicklung er mit Wilhelm Fliess teilte – skizziert Freud, dass die Erinnerung in den Nervenbahnen die Nervenbahnen selbst bilden. Demnach gestalten sich die Nervenbahnen durch die Entwicklung von sinnlich erlebten Sinnesdaten: die auf­ und eintreffenden Sinnesdaten werden zu Erinnerungen (Freud, 1986). Die Struktur ist nach dem Bild eines Möbiusbandes vorzustellen, dessen innere Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 67 und äussere Seite ineinander übergehen. Rätselhaft bleibt der Übergang auch hier. Keine Bahn ohne Sinnesdaten, die durch die wiederholten Reizungen aus dem Erlebten erst Erfahrungen werden lassen. So wenig wie ein Geist sich von der Erinnerung des Nervensystems getrennt hat, wird sich die Psychologie von der Physiologie abheben können. Wir sind unsere Erinnerungen, wir haben sie nicht. Insofern Nervenbahn und Erinnerungsspur nicht getrennt sind, wie Geist und Materie, so erzeugt die Erinnerung selbst das, was man Erinnerungsspur des Nervengeflechts nennt. Es ist eine Bahnung, die durch die Erinnerung geschaffen wird, worin sich innen und aussen am vermeintlichen Ursprung nicht trennen las­ sen. Schon an diesem Ursprung ist ein Übergang zu denken, der durch Freuds Bild von der «Kontaktschranke» (Freud ebenda, 1920g, S. 28 ff.) zwischen somatischem Reiz und psychogener Spur selbst illusionär erzeugt wird. Hier kann der Sinnesreiz in Sinn konvertiert werden. Der sich entwickelnde Sinnesapparat beginnt sich zunächst «seinen eigenen Reim» darauf zu machen. Analog denkt Winnicott auch die Phänomene des Übergangs: Innen und Aussen werden zunächst illusionär geschaffen, indem die Vorstellung einer Be ziehung dazwischen halluziniert wird. Sie werden im Zuge der Initiation geschaf­ fen und erscheinen daher wie magische Objekte, die zum richtigen Zeitpunkt im Er lebenshorizont auftauchen, um Entwicklung zugleich zu ermöglichen wie auch sich selbst als orientierungsgebender Fixpunkt zu kreieren. Die «illusionäre Er fahrung» ( Winnicott, 1983, S. 302) erlaubt es, ein Objekt zu schaffen, das in der Si tuation hervorgebracht wird, um sich in der erlebten Not helfen zu können: Der Mensch ist von Geburt an vor das Problem gestellt, die Beziehung zwischen dem, was er objektiv wahrnimmt, und dem, was er sich subjektiv vorstellt, zu erhellen; […] Der Zwischenbereich, von dem ich spreche, ist der Bereich, der dem Säugling zwischen primä­ rer Kreativität und objektiver, auf Realitätsprüfung beruhender Wahrnehmung gewährt wird. Die Übergangsphänomene stellen die Frühstadien im Gebrauch der Illusion dar; ohne sie hat die Vorstellung von einer Beziehung zu einem Objekt, das von anderen als etwas ausserhalb des betreffenden Menschen Liegendes wahrge­ nommen wird, keine Bedeutung für diesen Menschen. ( Winnicott, 1983, S. 314) 68 Ulrich A. Müller Es erscheint «wirklich magisch», dass dem Kind in einer solchen Not Objekte zur Verfügung stehen, die es sich selbst schafft, um in seiner erlebten Not nicht an dem zugrunde zu gehen, womit es konfrontiert wird. Die Fähigkeit zum spielerischen Umgang mit einer solchen Notlage lässt sich schon am Ausgangspunkt der Entwicklung finden, an dem das Kind sich durch die Entfaltung eines Übergangsraums selbst zu entwickeln beginnt: Der erlebte Mangel wird in der Phantasie des Kindes umgearbeitet und bekommt in der Beziehung zu einem Anderen (Nicht­Ich) einen Sinn. Dieser Sinn geht aus der wechselseitigen Sorge hervor. Bion bemerkt hierzu, dass es in dieser Not darauf ankäme, ob man den erlebten Mangel als Aufgabe anerkenne und damit die Anstrengung des Denkens auf sich nehme oder ob dies zu einem Ausweichen führe: «Der Schlüssel liegt bei der Entscheidung zwischen der Veränderung oder der Vermeidung von Versagung» (Bion, 1963, S. 228). Die Analogien zwischen der Entfaltung des kreativen Umgangs mit der Realität im Moment der Konfrontation mit der störenden Realität und der Anstrengung des Denkens im Erleben des Mangels bei Bion sind nachvoll­ ziehbar. In dem Akt, sich selbst einen Raum zu schaffen, liegt jedoch ein Moment verborgen, der sich bei Winnicotts “potential space” als phantastischer Vorzug erweist, weil Form und Inhalt ineinander aufgehen. Die Fähigkeit zur spieleri­ schen Weltaneignung ermöglicht es dem Kind, sich selbst in seiner Allmacht als ein schöpfendes Geschöpf zu erfahren. Es ist dabei aktiv und passiv zugleich, weil es die vor ihm liegende Welt wie auch sich selbst schafft. Allmacht vor Ohnmacht. Durch das Sinneserleben die Objekte für sich zu einem Zusammenhang zusammenführen – und sich selbst zur Quelle der Schöpfung machen. Zuvor organisieren sich an der Grenze des leiblichen Organismus die Sinne selbst als Instanzen der Grenze. Die Sinne sind ebenso perzeptiv wie auch apperzeptiv tätig. Sie sind konstitutiv für das Grenzerleben und die daraus fol­ genden reflektierten Erinnerungsspuren, die eine Welt des Übergangs schaffen müssen, um das Äussere von dem Inneren unterscheiden zu können. Wo diese Sinne beeinträchtigt werden, erhebt sich eine Regung. Sobald diese Regung zur Beunruhigung führt, wird dies als Störung erlebt. Diese Beeinträchtigung/Störung des «Konstanzprinzips» nach Fechner hinterlässt einen Eindruck, auf den unwei­ gerlich weitere Eindrücke im Organismus folgen, die sich in der Bildung von Nervenbahnen niederschlagen. In der Erinnerung zeigen sie sich als Ausgangspunkt eines unlustvollen – weil gestörten – Erlebens, das sich fortsetzt und wiederholt Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 69 zu einem Gedanken führt, den Bion in ein anschauliches Bild übersetzt: Der erste Gedanke sei «keine Milch» (vgl. Bion, 1997, S. 81 f.). Die Konkretion provoziert demnach Gedanken, wenn der erlebte Mangel konstruktiv erarbeitet werden kann. Dieses Gedankenbild enthält eine leibhaftige Erfahrung in einer Sprache, die zwar noch nicht zur Verfügung steht, in deren gedanklicher Vorwegnahme (eine Vorstellung vor der Sprache bei Bion) sich aber doch anschaulich zeigt, dass es um das Erleben eines Mangels geht, das die Entwicklung der Sinnesinstanzen in Unruhe und somit auch in Gang setzt. Der empfundene Mangel wird ausge­ löst durch einen beunruhigenden Schmerz im Organismus, den wir als Hunger bezeichnen können, der aber für den Organismus noch nicht lokalisierbar ist. Diese Beeinträchtigung lässt – neben anderen störenden Empfindungen wie das blendende Licht oder das laute Geräusch, die den Säugling in Unruhe versetzen – erfahrbar werden, dass der Organismus sich selbst nicht genügt, d. h. auch nicht für sich alleine ist. Die Störung provoziert eine Krise und eröffnet Möglichkeitsräume (“potential space”) Die frühkindliche Angst ist diffus. Die Mehrzahl der Kinder wie auch der Jugendlichen, die eine psychotherapeutische Praxis aufsuchen, leiden unter Ängs­ ten. Es sind Ängste, die manchmal auf konkrete Anlässe zurückgehen, oft aber sind sie diffus. Entweder entpuppen sich die konkreten Veranlassungen als undeutlich oder die Empfindung der Angst ist nur vage bestimmbar. Es ist nicht ungewöhn lich, wenn im Laufe der fortschreitenden anamnestischen Gespräche deutlicher wird, dass die «Angst» weitere Facetten des Empfindens mit sich führt. Diese Aspekte würde man diagnostisch nicht unmittelbar einer Angststörung zuordnen, doch sie werden vom Kind selbst diesem Erleben zugeordnet. Sich mit den eigenen Ängsten zu befassen, erfordert ohnehin viel Aufwand und ist für ein Kind, das in seiner erwachsenen Umgebung keine emotionale Resonanz dafür findet, schwer zu leisten. Es sind diffuse Beunruhigungen, die ein Kind aufwühlen, es nicht schlafen lassen, es nervös machen, ihm seine Hilflosigkeit erlebbar machen oder für die ihm manchmal noch keine Sprache zur Verfügung steht. Für das beunruhigende Erlebte mit dem Kind eine Sprache zu entwickeln, manchmal im Suchen auch zu erfinden, ist eine bedeutende Aufgabe der analytischen Tätigkeit. Die Suche nach geeigneten Worten in einer analytischen Situation ist auch in späteren Entwicklungsphasen bedeutend. In der Psychotherapie eines 16­jäh­ rigen Jugendlichen, den seine Ängste und seine depressiven Einbrüche zu mir 70 Ulrich A. Müller in die Praxis führten, machte er mir deutlich, wie schwer es ihm fiele, sich im Freundeskreis auf mehrere Personen einzulassen: «Die Grenze ist immer eine drit te Person. Da bekomme ich Schwierigkeiten und merke, dass ich mich wieder zu rückziehe». Für diese Erfahrungen fehlen ihm die angemessenen Begriffe, wie er meint, weil er zwar sein Erleben beschreiben, aber die damit verbundenen Gefühle nicht verstehen könne. «Ich weiss gar nicht, wie ich das beschreiben soll». Es ist ein Erleben, das ihm Unbehagen bereitet und das er zunächst als Angst beschrei­ ben würde. Die in dieser Erfahrung enthaltene Eifersucht ist ihm scheinbar noch nicht bewusst. Er hat dafür noch keine Worte. Unbewusst verweigert er sich einem von ihm selbst verleugneten Empfinden der Aggression auf einen hinzutretenden Dritten, der die Zweisamkeit beeinträchtigen könnte. Deutlich wird bei vielen anamnestischen Erhebungen, dass die Diffusität entweder durch die undeutliche Erinnerung an konkrete Ereignisse in der Um ge­ bung zurückzuführen ist, oder dass die Undeutlichkeit auf die ambivalenten Em pfindungen des besorgten Kindes zurückgeht. «Angst» wird mit einem Erleben in Verbindung gebracht, das aus einer inneren Unruhe hervorgeht, das nicht immer konkrete Objekte benennen kann. Diese Diffusion, die mir in der Praxis begegnet, macht noch einmal deutlich, dass die begriffliche Unterscheidung, die Freud vor ­ geschlagen hatte, die Empfindung der Angst zu unterscheiden von der konkreten Furcht (Freud, 1916, 407 ff.; Freud, 1933a, S. 87 ff.), Sinn macht. Furcht wie auch die Phobie knüpft an die konkrete Erinnerung mit Objekten an, weil diese bereits Spuren hinterlassen haben, die zu intrapsychischen Repräsentanzen geführt ha ben, wes­ halb die Furcht wie die Phobie die Beziehung zu Objekten zur Voraussetzung hät te. Angst bleibt als Affekt insofern diffus, als sie keinem Objekt zugeordnet werden kann. Diese Unbestimmtheit lässt den Angstaffekt mächtiger werden. Sie erinnert an das Erleben, das Winnicott (1987, S. 53) als Vernichtungsangst beschrieben hat. Aus der Perspektive einer entwickelten Ich ­Instanz, die im Sinne Winnicotts (1987, S. 57) erst eine stabile «Einheit» darstellt, wo sich Ich und Nicht­Ich unter ­ scheiden, könnte das ängstliche Empfinden ein Objekt bestimmen, zu dem es daher auch eine Beziehung unterhält, sonst gäbe es keine innere Repräsentanz. Gehen wir jedoch an den Ausgangspunkt der frühen Empfindungen zurück, so scheint klar zu sein, dass Objekte erst im Begriff sind sich zu bilden. Das Empfinden der Angst lässt sich daher verstehen als ein affektiver Indikator für eine erlebte Krise des Organismus, sich in seinem «gewohnten» Zustand gestört zu erleben. Diese Krise schafft Aufruhr. Diese Krise kann zu einem Aufruhr führen, der den Organismus derart er regt, dass er sich in seinen Funktionen bedroht erlebt. Zunächst erzeugt diese Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 71 Er regung eine Spur, die – wiederholt erlebt – zu einer Erinnerung führen kann, idealerweise auch als Erinnerung funktioniert, damit der Organismus nicht immer wieder in den gleichen energiezehrenden Furor gerät. Das noch nicht von der Objektwelt geschiedene Kind ist so auf einen Krisenmodus vorbereitet. Auf die­ sem Weg wird aus dem Erlebten eine Erfahrung, die jedoch nur reaktiv und nicht reflektiert das Erfahrene nutzen kann, um auf solche Situationen vorbereitet zu sein. Die Erregung ist daher noch eine mechanische Reaktion auf eine Krise des angerührten Organismus, der das Erlebte nur als eine Störung einzuordnen weiss. Das, was von Kindern oftmals als Gefühl der Angst beschrieben wird, ent­ spricht insoweit zunächst einer leibhaftigen Erregung, die auf ein Erleben zurück­ geht, das meist noch nicht eingeordnet werden kann. Mit Winnicott könnte man festhalten, dass es zur Konkretion des Erlebten im Sinne einer Unterscheidung eines erlebenden Ich neben dem davon geschiedenen Nicht­Ich braucht, um die Störung auch wahrnehmen und sich ein Bild davon machen zu können. Diese Bilder einer Sinneserfahrung beginnen sich aber erst zu entwickeln. Und es drängt sich der Gedanke auf, dass bei den Kindern, die die Praxis in Begleitung ihrer Eltern aufsuchen, derartige Erfahrungen zwar bereits vorliegen, doch deren intrapsychi­ schen Repräsentanzen noch nicht weit entwickelt sind. Erregung macht Angst-Lust Die Fähigkeit, die erlebte Erregung leibhaftig differenzieren zu können, ist noch nicht entwickelt. Winnicott (1987) geht auf diese unterschiedlichen Qualitä­ ten des Angstempfindens, die an die intrapsychische Entwicklung geknüpft sind, kurz ein: Auf Ich und Es bezogen, ist das Schuldgefühl nicht viel mehr als Angst mit einer besonderen Qualität, Angst, die wegen des Konflikts zwischen Liebe und Hass empfunden wird. Schuldgefühl setzt ein Er tragen von Ambivalenz voraus. Es ist nicht schwer, die enge Be ziehung zwischen Schuld und dem persönlichen Konflikt zu ak zeptieren, der aus gleichzeitigem Lieben und Hassen entsteht; aber Freud konnte den Konflikt bis an seine Wurzel zurückverfol­ gen und zeigen, dass es jene Gefühle sind, die mit dem Triebleben verbunden sind. (S. 19) Dies ist schon so hochdifferenziert, dass wir zweifeln dürfen, ob Erwach­ sene dies gut getrennt zusammenzuführen wissen. Das Kind, das das Inventar 72 Ulrich A. Müller seiner intrapsychischen Welt noch auszugestalten beginnt, steht noch am Anfang solcher Feinheiten. Einem Kinderanalytiker sei es an dieser Stelle erlaubt zu behaupten, dass auch bei Erwachsenen die Fähigkeit, die eigene Erregtheit im späteren Leben dif­ ferenzieren zu können, nicht immer hinreichend entwickelt ist, um sich selbst besser verstehen zu können. Panik oder Phobien beeinträchtigen die kogniti­ ven Differenzierungsfähigkeiten zum Teil erheblich. Wenn Michael Balint an die Schwierigkeit erinnert, Angst und Lust voneinander unterscheiden zu können (Balint, 1960), so macht er doch genau auf diese latente Diffusion aufmerksam, die jede Erregung begleitet. Es ist daher sicher nicht übereilt zu behaupten, die Angst sei immer auch mit einer diffusen Erregung verbunden, in der Lust und Unlust ineinander spielen. Insofern beschreiben auch Kinder und Jugendliche die Angst manchmal als eine erregende Erfahrung, die sie «aus der Bahn wirft», die jedoch aus einer externen Perspektive mit dem Phänomen Angst alleine nicht hinreichend charakterisiert ist, wenn das Objekt nicht benannt werden kann. Versuchen wir also wieder auf die diagnostische Unterscheidung zurückzukommen und von einer Furcht zu sprechen, wo die objektinduzierte Bedrohung vorliegt, gleichwohl auch eine Bedrohung vorliegen kann, wenn der Organismus durch lustvolles Erleben in einer heftigen Weise bedroht ist. Ein Säugling erlebt auch das Zusammenspiel mehrerer Sinneseindrücke als wiederkehrendes komplexes «Sinnesbild», das auf ein nicht steuerbares An deres verweist. Diese Erfahrung der Abhängigkeit geht der Erfahrung von Selbst wirk­ samkeit notwendigerweise voraus. Die Erfahrung des Selbst (noch weit entfernt von einem abgegrenzten «Selbst») ist doch erst Folge des schmerzlichen Erlebens, Anderen ausgesetzt und damit abhängig zu sein. Damit sind die Sinne in ihrer Be deutsamkeit aber noch nicht verortet, vielmehr ist das Erleben bloss «leiblich, was jemand in der Gegend (keineswegs, wie z. B. am Blick deutlich wird, immer in den Grenzen) seines materiellen Körpers von sich selbst spüren kann, ohne sich der fünf Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schmecken) und des aus ihrem Zeug nis an geleiteten perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eige­ nen Körper) zu bedienen» (Schmitz, 2011, S. 5). In der Leibphänomenologie wird diese terminologische Unterscheidung von Herrmann Schmitz beschrieben und gewürdigt, um die erlebte Eindrücklichkeit des Leiblichen von dem versachlichen­ den Körperverständnis als einem Objekt, das ich an mir selbst – quasi im Spiegel eines Anderen – erkenne, unterscheiden und aufeinander beziehen zu können. Mit dem Erleben der dramatisch gestörten Konstanz des Organismus beginnt sich die Erinnerung an eine Einengung und Einschränkung des Erlebens einzurichten, Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 73 was zunächst Unwohlsein und Unsicherheit erzeugt, um dann zu einer vegetativen Reaktion zu führen, die noch nicht intendiert ist, aber erlebt wird: Ergriffensein durch eine als wiederkehrend erlebte Störung erzeugt leibhaftige Reaktionen. Auch wenn die anfängliche Irritation nicht von aussen kommt, wie beim Hungererleben, so verweist die Störung doch mit zunehmender Dauer und Intensität auf einen Mangel, dessen Beseitigung nur durch einen Eingriff von aussen behoben werden kann. Auch die leibliche Empfindung wird nach aussen projiziert, sodass für die erlebte beunruhigende Erregung die Vorstellung einer externen Störungsquelle assoziiert wird (Freud, 1933a, S. 95). Durch die Erinnerungen beginnen sich rudi­ mentäre Gefühle einzustellen wie u. a. Freude und Angst, Lust und Schmerz – in der Phantasie hervorgerufen durch ein äusseres Objekt. Viele Kinder berichten in der Praxis tief beunruhigt von solchen Ängsten, wobei sich erst im Verlauf mehrerer Gespräche zeigt, dass sie diesen Begriff für ihre Reaktionen auf Erlebnisse oft pauschal gebrauchen, um ihre eigenen Gefühle auf­ grund von unkontrollierbaren äusseren Störungen zu verbalisieren. Die Angst wird als von aussen hervorgerufenes Erleben beschrieben, auch wenn sie beim Kind selbst entsteht. Es sind dann heftige Affekte, die beschrieben werden, auf die bei Kindern eine Reaktion folgt, die mit körperlichen Sensationen verbunden sind, die zwar benannt aber noch nicht differenziert eingeordnet werden können. Dass Lust und Schmerz ebenso wie ängstliche und freudige Erwartung ähnliche Reaktionen im Organismus hervorrufen können, ist noch sehr undeutlich. Ich unterstelle, dass auch im späteren Leben eine solche Unterscheidung manchen Erwachsenen nicht leicht fällt. So kann auch die intensive Zuneigung mit einer heftigen Angstreaktion ein hergehen, weil die leiblichen Reaktionen auf heftige äussere Irritationen frühe Er innerungsspuren reaktivieren können. Das Andrängen von Lust ist oft verbun den mit Unlust, sodass auch die Unterscheidung in dem Begehren nach befriedigen­ dem Erleben nicht eindeutig geklärt werden kann. Manche Kinder nehmen dann an sich selbst eine Beunruhigung wahr, die sie oftmals als Angst bezeichnen, weil sie enerviert sind und die Kontrolle zu verlieren drohen. Was stört, kann lange Angst machen, auch und womöglich zugleich auch, weil damit lustbringende Erfahrungen verbunden sind. Diese Angstlust wird als be ­ drohlich erlebt, weil sie spürbar die Fähigkeit der Kontrolle über den eigenen Leib in Frage stellt und damit die Triebimpulse spürbar werden lässt. Die von aussen erlebte Bedrohung rührt die Erinnerung an das Erleben der eigenen Abhängigkeit, die durch die von innen kommenden Triebimpulse hervorgerufen werden. Dass es damit auch um mehr gehen könnte als um den Hunger nach Nahrung, ist für das 74 Ulrich A. Müller Kind umso beunruhigender. Es geht um die Anerkennung der eigenen Abhängig­ keit in der Beziehung zu einem bedeutenden Anderen. Die setzt sich häufig auch in der weiteren Lebensgeschichte fort. Es ist er staun lich, dass die erlebte Störung auch in der weiteren Entwicklung oft als be droh lich erlebt wird, weil damit Grenzen erfahrbar werden, die zuvor nicht be wusst waren. Die «Störung» erzeugt ein Unbehagen, und die Angst stellt eine Re aktion auf den in seinem Inhalt unbestimmten Einbruch durch diese Störung dar. Es geht zwar zunächst um die Störung der energetischen Konstanz. Doch da mit ein­ her stellt sich die Frage nach der Illusion der eigenen Unabhängigkeit. Diese Illusion wird bereits in den ersten Lebenswochen erschüttert durch vielfache Er fahrungen von erlebter Irritation. Was Winnicott (1984, S. 17 ff.) als kreative Leistung beim Säugling beschrie­ ben hat, durch die Schaffung des Übergangsraums, einen Weg aus der von Melanie Klein beschriebenen depressiven Position zu suchen, wird im Weiteren von Bion als Containment (1997, S. 26) entworfen, was es dem Säugling möglich machen kann, den erlebten Mangel in einer frühen Beziehung zu bearbeiten und gemeinsam überwinden zu können. «Containing» ist bei Winnicott eine kreative Fähigkeit und erschliesst sich daher immer wieder neu. Während dieser schöpferische Prozess bei Winnicott ein Moment des Übergangsphänomens selbst ist, Zwischenräume he r aufzubeschwören, beschreibt Bion das Containment als präkonzipierten Raum zur Entwicklung von Gedanken. Die Entwicklung des imaginären Containers ge hört für Winnicott selbstverständlich zum Übergangsphänomen dazu, weil es auch Mo tor des Prozesses ist, sich die störende Realität aneignen zu können. Dieser Raum wird erst im Prozess der Aneignung des Erlebten erschaffen. Schwellenerfahrung: Die Not des Subjekts, sich dem Schlaf überlassen zu müssen. Die durch solche Erfahrung ausgelösten Irritationen sind zunächst sinn­ lich geleitet und lassen sich augenblickshaft erleben: Im Schmerz und in der Lust ebenso wie bei der konzentrierten Erfahrung beim Hören oder beim Lesen, beim Riechen wie auch bei der taktilen Wahrnehmung. So ist beispielsweise auch der Schlaf eine wiederkehrende unumgängliche Erfahrung, in der sich die Grenzen zwischen Innen und Aussen für den Schlafenden vorübergehend auflösen. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern spielt die Schlaferfahrung eine bedeutende Rolle. Der Schlaf ist zwar lebensnotwendig, doch diese Macht des Leibes ruft vielgestaltige Widerstände hervor. Erst recht, wenn die damit ver ­ knüpfte Erfahrung der Ohnmacht dem Anspruch des (werdenden) Subjekts auf Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 75 Selbstbehauptung entgegen zu stehen scheint. Es fällt manchen Kindern oftmals sehr schwer, sich dem Schlaf zu überlassen. Es ist zum einen die Vermeidung des Alleinseins, zum anderen die Furcht vor der Hilflosigkeit im Schlaf, wovon ein­ zelne Kinder berichten. Es ist der Zugang zum Schlaf, die erlebte Ruhe vor dem Einschlafen, die zunächst eine Situation herstellt, in der das Bewusstsein manch­ mal beginnt, sich mit sich selbst zu befassen und dabei Erinnerungen Raum gibt, die wach halten. Zugleich dominiert eine Angst vor dem Einschlafen: Der Schlaf erscheint bedrohlich, denn für eine Zwischenzeit geht damit «die Welt unter», wenn ich mich darin (noch) nicht sicher aufgehoben erlebe. Mit dem Schlafengehen wird die eigene Fähigkeit, sich des eigenen Lebens bemächtigen zu kö\ nnen, nicht nur in Frage gestellt, sondern leibhaftig unterlaufen. Der Phänomenologe Levinas (1988, S. 64) spricht von der Kapitulation des Subjekts, in Situationen des ungesteuerten Übergangs vom Wachen zum Schlaf «nicht mehr können zu können». Schlafen ist\ für das Leben eine existentielle Notwendigkeit, die dem Subjekt eine Grenze zeigt, da es keine Wahl hat. Kinder können darum manchmal nur schwer einschlafen, weil sie nicht alleine schlafen möchten oder weil sie grundsätzlich dem Schlafzustand miss­ trauen. Dabei spielt die Erfahrung eine wichtige Rolle, dass die gerade erworbene Fähigkeit zur Selbstbemächtigung im Schlaf immer wieder abgegeben werden muss. Der Schlaf stellt im Grunde das erst gerade erworbene Bewusstsein der Selbst bemächtigung in Frage, denn der Schlaf gebietet dem Subjekt, diese Fähigkeit vor übergehend aufzugeben, um sich gewissermassen dem eigenen Leib wieder an zuvertrauen. Es geht dabei auch um einen Tribut an diese Leiblichkeit, denn der Körper verlangt nach Regeneration, um den Ansprüchen des Bewusstseins am nächsten Tage wieder Genüge tun zu können. Insofern zeigt sich durch die Not wendigkeit des Schlafens unsere Abhängigkeit von einem nichtbewussten Zu stand deutlich. Inwiefern wir uns damit dem Unbewussten überstellt erleben, er öffnet eine weiter zu fassende Frage. Hier könnten man persiflierend behaupten, dass «der schlafende Mensch nicht existiert», weil er sich seiner selbst in dieser Zwischenzeit nicht bewusst ist. Es lebt und es arbeitet zwar in diesem Leib, doch die bewusstseinsleitenden Instanzen haben ihre Funktionen vorübergehend ein­ gestellt. Innen und Aussen gehen im Schlaf unter. Einschlafen und Erwachen tref fen sich an einer bemerkenswerten Schwelle für das Erleben der Begrenzung zwischen Innen und Aussen, die offensichtlich mit der Funktion der psychischen Instanzen im Zusammenhang stehen. Dazu Waldenfels (2019): Der Terminus Schwellenerfahrung hat eine doppelte Bedeutung: er meint Erfahrungen über eine Schwelle hinweg und Erfahrungen der Schwelle, die über ­ 76 Ulrich A. Müller quert wird. […] Die Schwelle ist ein Übergangsphänomen par excellence. Wer auf der Schwelle verweilt, befindet sich weder diesseits noch jenseits. […] Eine Schwelle über queren wir alltäglich und allnächtlich im Einschlafen und Erwachen, aber auch wenn wir in Gedanken oder Schweigen versinken, von Gefühlen überwältigt wer ­ den. Am Horizont stehen Grenzphänomene wie die Geburt als Eintritt in das Leben oder der Tod als Austritt aus dem Leben und aus der Welt. […] So ist es nicht über ­ trieben, wenn Merleau­Ponty das Empfinden [der Schwellenerfahrung] mit dem Erwachen oder Einschlafen ja selbst mit Geburt und Tod assoziiert. Emphatische Schwellenerfahrungen, deren Aura das alltägliche Leben durchdringt, werden von alters her von Übergangsriten begleitet. […] Wie Paul Valery feststellt, ist jede Schwelle durch Kontrollverlust gekennzeichnet. (S. 274 f.) Dies ist auch das Kennzeichen der späterhin von Winnicott beschriebe­ nen Übergangsphänomene, die aber bereits selbst zum Ausdruck einer kreativen Be arbeitung dieses Verlusts zu werden begonnen haben. Der vorübergehende Kon trollverlust wird vom Kind illusionär als Akt der souveränen Schöpfung erlebt. An den Rändern des Schlafs: Vom Einschlafen und Erwachen Um zu verstehen, welche Bedeutung dieses Zwischenreich zwischen Ein­ schlafen und Aufwachen hat, lesen wir darin eine Spur, die auf einen unbestimm­ baren Raum zwischen Wachheit und Schlafen verweist und die der Situation des Kindes im Ausgang der Trennung vom versorgenden Objekt gleicht. Nur an den Rändern des Schlafs werden Grenzen erfahrbar, die ein Innen oder ein Aussen wahrnehmbar werden lassen. Ohne das wiederkehrende Erleben eines absoluten Innen im Schlaf würden wir nicht überleben können, auch wenn wir das Aussen, das uns in diesem Zustand unbestimmt bleibt, nicht verleugnen können. Auch im Schlaf sind wir von einer Umgebung abhängig, die uns in der Regel ruhen lässt, damit eine Regeneration möglich werden kann. So wie das Neugeborene sich in einer Umgebung aufhält, von der es abhängig ist – auch wenn es davon nichts wissen kann. Merleau­Ponty (1974) nimmt ein Bild als Erfahrung und als symbolisches Gleich nis auf, das für diese Überlegungen bedeutsam ist, weil es die Öffnung um schreibt, die ermöglicht werden muss, um etwas zulassen zu können, so wie das sinnlich Empfundene durch das Empfinden ermöglicht wird: Der Schlaf kommt, indem eine bestimmte willentlich eingenom­ mene Haltung plötzlich von aussen eine Bestätigung erfährt, die sie erwartete. Ich atme langsam und tief, um den Schlaf herbeizurufen, Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 77 und plötzlich ist es als kommuniziere mein Mund mit einer riesi­ gen äusseren Lunge, die meinen Atem anzieht und zurückdrängt, der soeben noch gewollte Rhythmus meines Atems wird mein Sein selbst, der Schlaf, zuvor als Bedeutung vermeint, verwandelt sich jäh in Situation. In gleicher Weise lausche und blicke ich in der Erwartung einer Empfindung, und plötzlich ergreift das Sinnliche mein Ohr oder meinen Blick und ich liefere einen Teil meines Leibes oder gar meinen ganzen Leib jener Weise der Schwingung oder Traumerfüllung aus. (S. 249) Dieses Ausgesetztsein ist eine Bedingung für die Fähigkeit Schlaf finden zu können, für das selbstbehauptende Subjekt gewissermassen eine leidliche Aus­ nahme, sich dem Leib überlassen zu müssen. Zugleich ist es dabei aber auf ein Zusammenspiel mit dem Äusseren angewiesen, das hier ins Bild des harmoni ­ sierenden Atems und damit fast schon mythisch der geteilten Luft gesetzt wird, um die sich ankündigende Verschränkung von Innen und Aussen im Zustand des Übergangs in den Schlaf zu erschliessen. Wo Husserl das Erleben des Ich zur aus­ schliesslichen Erfahrungsquelle erhebt (exemplarisch in: Husserl 1987), wird hier der Horizont erweitert und die Abhängigkeit von einer Umgebung beschrieben, die erst den Zugang zu einer Innenwelt ohne das beherrschende Ich verständlich werden lässt. Der Schlaf wird bei Merleau­Ponty (1974, S. 249) im Zusammenspiel des Luft aus tauschs zu einer Erfahrung, wie sich die Empfindung und das Empfundene zu einander in Beziehung setzen müssen: Der Schlaf benötigt «die Bestätigung von aussen», damit dieses Zusammenspiel gelingen kann. Allein «die willent­ lich eingenommene Haltung» des Schläfers reicht nicht aus. Gerade so, als ob der Schlafsuchende die Initiative übernommen hätte, die Umgebung zum Schlaf ein zuladen, ohne die nichts möglich wäre. Atmen und sich Luft holen Wiederholt taucht dabei nicht zufällig die Bedeutsamkeit des Atmens für diese Situation an der Grenze zur Welt auf. Das Einsetzen der Atmung gehört zum Akt der Geburt und signalisiert, dass das Kind in der Lage ist, sich selbst aus der Umgebung zu bedienen, sich selbst etwas zu holen. Diese Fähigkeit ist Ausdruck seiner biologischen Impulsivität wie zugleich auch Symbol für seine Beziehung zur lebensspendenden Umgebung. «Der Vorgang des Atmens ist eines der wichtigs ten Phänomene leiblicher Existenz überhaupt, und zwar weil es diese leibliche Exis tenz 78 Ulrich A. Müller als Vorgang, als Vollzug erfahrbar macht. Das Atembewusstsein ist gewissermas sen das Leibbewusstsein überhaupt» (Böhme, 2019, S. 36). Bis zu dieser Einsicht ist es für das Neugeborene, dessen Atmung spontan einsetzt und das mit diesem Triebimpuls den Willen zum Leben ausdrückt, noch ein weiter Weg. Aber es ist eine Erfahrung, die durch die Mundöffnung erlebbar werden lässt, dass es eine Grenze gibt, an der die lebensspendenden Objekte durch­ gelassen werden müssen: Luft und Milch. Der Mund als Ort – nicht als Raum – des Übergangs, der späterhin auch noch der Bildung von Worten dienen wird. Mit dieser Öffnung des Leibes ist eine Voraussetzung geschaffen, die eine Bedeutung für das Neugeborene erst noch zu gewinnen beginnt. Der Schlaf, so die Ausgangshypothese dieses Abschnitts, macht auch spä­ terhin erlebbar, an welchem unbekannten Ort sich das Kind am Beginn des Lebens befinden könnte, wo es noch nichts von sich und von den Menschen in seiner Umgebung wissen kann. Solange diese nicht für es sind, kann es auch noch nicht bei sich selbst sein. Daher rührt auch der Gedanke, dass der Schlaf daran erinnert, wo wir herkommen. Er ist nicht nur der Bruder des Todes, der auf uns zukommen wird, er ist auch verwandt mit dem Ort, von dem ein Neugeborenes herkommt. Die Winnicott vorausgehenden Überlegungen von Melanie Klein, Wilfried Bion und anderen zum frühkindlichen Erleben und den damit verbundenen Phan tasien, über eine Welt, die sich durch das sinnliche Erleben zu konstituieren beginnt, schliessen an die Hypothesen Freuds zur Nachträglichkeit in der Traum­ deutung (Freud 1900a) an. Es werden Erinnerungen gewesen sein, die das wer ­ dende Kind durch Andere erst allmählich haben zu sich selbst kommen lassen. Dass das Kind über die erlebte Abhängigkeit vorübergehend in ein depressives Stadium verfällt, ist noch nicht ausgemacht. Es gehört aber zu einer lebenserhal­ tenden Entwicklung, dass wir uns hinreichend dem Schlaf überlassen und damit die Kontrolle abzugeben bereit sein müssen. Ursprungsmythen und nachgeholte Vorgeburtserinnerungen Die Hypothese von Otto Rank, nach der alles Streben des Menschen gelei­ tet sei von der Sehnsucht nach einem vorgeburtlichen Zustand, kann angesichts der Ängste, die von Kindern erlebt werden, nicht ohne Widerspruch bleiben. Für Rank ist der Vorgang der Geburt der Moment, in dem der «lustvolle Urzustand […] in unerwünschter Weise unterbrochen wird». Infolgedessen bestehe «das ganze Leben dann darin […], dieses verlorene Paradies auf den geschilderten, höchst komplizierten Umwegen der Libidoschicksale zu ersetzen» (Rank, 2007, S. 179). Somatologisch ist davon auszugehen, dass die Geburt zu einer schwerwiegenden Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 79 Irritation der Physiologie des Neugeborenen führt, da sich der Organismus des Kindes auf eine vom mütterlichen Organismus getrennte Funktionsweise umstel­ len muss. Das Einsetzen der Atmung sei hierbei exemplarisch als ein bedeuten­ der – meist intuitiv einsetzender – Selbstwirksamkeitsmechanismus des kindlichen Organismus angeführt. Durch das Einsetzen der Atmung wird physiologisch eine Grenze erlebbar, die zwar eine erste Erinnerungsspur legt, die aber dadurch noch nicht bewusst werden kann. Mit Winnicott orientieren wir uns an der Bildung der Psyche, für deren Entwicklung durch die Geburt eine wichtige Voraussetzung geschaffen, die dadurch aber noch nicht vollzogen wurde. Die Geburt schafft erst die Voraussetzungen, damit sich die Psyche aus der Mutter ­Kind­Einheit heraus wird entwickeln können. Ranks Hypothese übergeht nicht nur den Umstand, dass mit der physiolo­ gischen Geburt noch nicht die psychische Geburt erfolgt ist, er vernachlässigt auch die Ambivalenzen, die mit dem traumatisierenden Erleben verbunden sind. Die Sehnsucht nach der Rückkehr in den mütterlichen Körper (ebd., S\ . 178 ff.) ist doch auch mit einer Furcht vor einer vermeintlichen «Rückkehr» verbunden. Das sich seiner selbst bewusst werdende Kind fürchtet sich vor den gerade überwundenen Zuständen der Ungewissheit, denn es erlebt sich bald doch auch sehr gerne als sei­ ner selbst mächtig. Das von Rank unterstellte Erleben des «lustvollen Urzustands» als Sehnsuchtsort wird auch als bedrohlich erlebt, weil dort die Möglichkeit der «Selbst ermächtigung» wieder aufgegeben werden müsste. So illusionär dies auch sein mag, doch die Erlangung der Macht über das «eigene Leben» und die Fä hig­ keit, sich und seiner Möglichkeiten bewusst zu sein, wird auch als lustvoll erlebt. Insofern ist die von Rank als ontologisch konstant beschriebene Sehnsucht der Rückkehr nach dem mütterlichen Körper nur eine Seite einer Ambivalenz, die sich einzustellen beginnt, wenn ein Kind sich seines Lebens bewusst wird und damit sowohl seine Selbstwirksamkeit (anfängliche «Allmachtsphantasien») wie auch seine Abhängigkeit von Anderen anzuerkennen gelernt hat. Diese Allmacht wird vom Kind in seiner frühen Entwicklungsphase auch erlebt, während die Vollkommenheit «des lustvollen Urzustands» eine Erinnerung ist, die als illusionäre Reaktion gespeist wird aus den leidvollen Erfahrungen in der Realität. Die Phantasie vom paradiesischen Urzustand basiert auf keiner Erfah ­ rung, viel mehr entsteht sie aus dem Bedürfnis, wonach jede Störung beseitigt wer ­ den solle, während die Allmachtsphantasie des Kindes durchaus reale Erfahrungen zur Grundlage hat. In ihrem Buch «Die zweite Geburt» nimmt Louise Kaplan (1983) die Über­ legung auf, dass die erlebte Trennung vom mütterlichen Körper mit dem leiblichen 80 Ulrich A. Müller Geburtsvorgang zwar eingeleitet wird, die psychische Trennung aber erst im Laufe der daran anschliessenden Entwicklung erfolgt. Geburt ist das Auseinanderreissen [!, U. M.] des biologischen Eins­ seins von Mutter und Fötus. […] Während der ersten Monate mensch lichen Lebens müssen Mutter und Neugeborenes sich in ei ner Weise kennenlernen, welche das physische Einssein im Mut­ terleib durch psychisches Einssein ersetzt, ein Einssein, das für das Leben ausserhalb des Mutterleibs so wesentlich ist wie das biolo­ gische Einssein für das Leben darin. (Kaplan, 1983, S. 44) Einerseits trennt Kaplan das biologische vom psychischen Leben und be ­ schreibt insoweit konsequent die Unterschiedlichkeit von körperlichem und psy­ chischem Entwicklungsraum, doch andererseits wirkt diese Form der «Auf tren­ nung» unvermittelt, sodass sich darin die cartesische Unterscheidung fortzusetzen scheint: Geistige und körperliche Materie bilden zwei Sphären. Die zweite Geburt zeichnet sich dementsprechend dadurch aus, dass die psychische Entwicklung eine Eigendynamik entwickelt, obwohl sie doch nicht ungetrennt von der leibli­ chen Erfahrung erschlossen werden kann. Leib und Seele entwickeln sich paradox ungetrennt auseinander. Hier erweist sich die phänomenologische Analyse als schlüssig, die Substanzialität des Körpers vom leiblichen Erleben zu unterscheiden und die Verflechtung des Leibes mit der seelischen Entwicklung als Grund eines Erlebens, das die Erinnerung speist, zu unterstellen. Dass «das Baby zum ersten Mal ein Baby ist», wie Kaplan apodiktisch in den Raum stellt (1983, S. 53), ist vor dem phänomenologischen Erfahrungshorizont nicht voraussetzungslos zu unter ­ stellen. Insofern nämlich das Baby selbst nicht existiert, wie Winnicott (1984, S. 50) behauptet, beschreibt dies das Unbestimmte des Erfahrungshorizonts des Kindes und verlegt die Perspektive in die monadengleiche Welt der Mutter ­Kind­Einheit. Diese Monade ist das Erleben eines blossen Bei ­sich ­Seins, das von Rank als urzeit ­ licher paradiesischer Zustand phantasiert wird. In der nachträglichen Bearbeitung aus dem Blickwinkel eines aussenstehenden Dritten in der nachgeburtlichen Gegenwart ist dies durchaus schlüssig, gleicht aber eher dem Sehnsuchtsbild des Paradieses als Gegenentwurf zu einem energiezehrenden irdischen Leidensweg. Der Traum vom paradiesischen Glückszustand ist bereits profanisiert und der müt­ terliche Leib als Ort bereits zu einem Objekt der weltlichen Phantasie geworden. Rank weicht von der universellen Geltung seiner eigenen Hypothese – die universelle Sehnsucht nach der Rückkehr ins «Paradies des mütterlichen Körpers» – Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 81 in einer eindrucksvollen Volte ab, wenn er gegen Ende seines vorletzten Kapitels zur «psychoanalytischen Erkenntnis» von der «Urambivalenz» dieses Bedürfnisses schreibt. Sein Wort von dem «Rätsel der Menschheitsentwicklung» rührt an einer entscheidenden Paradoxie, dass nämlich dieses Bedürfnis bedeuten könnte, die eigene Geburt wieder rückgängig machen zu wollen. Für dieses Bedürfnis mag einiges sprechen, zugleich lässt sich aber auch eine Furcht vor dieser Rückkehr gel tend machen. Eine Tendenz ist nicht so eindeutig bestimmbar, um der zen­ tra len Hypothese Ranks – der ontologischen Sehnsucht in den mütterlichen Schoss – folgen zu können. Die in der Ambivalenz verborgene, «doppelt gefügte Ver drängungsschranke» (Rank, 2007, S. 190) lässt nachvollziehbar werden, dass das «Trauma der Geburt» als ontologische Konstante selbst ein verdecktes Rätsel darstellt, denn die Schwelle, die die Geburt nach Rank markiert, ist die Schwelle des symbolischen Übergangs zum Eintritt in das Leben. Da dieser Eintritt aber zugleich auch den unumkehrbaren Weg zum Sterben einleitet, ist dieses Ereignis selbst rätselhaft. Doch die Erfahrung dieser Angst und deren Bearbeitung ist notwendig, so auch Kaplan (1983): […] würde der Friede durch nichts gestört, könnte die zweite Geburt nicht beginnen. Die Welt ausserhalb der Mutter ­Säugling­Sphäre könnte nicht bekannt werden. Die Mutter würde nie als eigenstän­ dige Person begriffen werden, und das Baby würde nicht den ande ­ ren Teil seines Körper ­Ichs ausbilden – die Aussenhaut oder die externen Grenzen seines Körpers. (S. 84) Erfahrbar wird zugleich damit auch, dass ein solches Angstempfinden be wäl tigt werden kann. Im Grunde muss von einer erlebten Unschärfe von Angst em pfinden beim Säugling ausgegangen werden, sobald er auf eine stören de Irritation seiner Empfindungen reagiert. Die Irritation ist unklar und für die auslö­ sende Situation gibt es noch kein Objekt, denn nichts ist vom Säugling psychisch geschieden. Wenn diese Angst kein Objekt kennt, so geht es um das Empfinden der Enge oder wie Schmitz (2011, S. 15 f.) schreibt, um die «Engführung» im Ge gensatz zum «Anschwellen», die sich auch beim Atmen vollzieht. Daher folgt auf die Irritation des Schmerzes eine Reaktion, die der Säugling unmittelbar auch an sich selbst erlebt, was zu einer Kette von weiteren Reaktionen führen kann: Der Organismus wird insgesamt attackiert, und zwar auch durch die eigene Reaktion auf die erlebte Irritation. Da das Nervensystem sich beständig in einem reduzier ­ 82 Ulrich A. Müller ten Masse in Bewegung befindet, geht es um Veränderung der Erregung, die die Irritation selbst darstellt und die sich fortpflanzt. Diese Veränderung kommt aus dem Organismus selbst und ist nicht von aussen induziert. Doch die Empfindung erzeugt eine Reaktion, die auch einen Appell darstellt, wenn er aufgenommen wird. Die Reaktion appelliert an ein Aussen, ohne dass dieses Aussen als Adressat bewusst avisiert würde. Beschrieben ist ein solcher Mechanismus bei dem Physiologen Kurt Goldstein: Jeder Reiz, der auf den Organismus einwirkt, wird zunächst durch eine Zuwendung des Organismus zum Reizobjekt beantwortet. An diese Zuwendung reihen sich weitere Reaktionen an, die entwe­ der dazu führen, das Reizobjekt «aufzunehmen» oder «abzuweh­ ren». Dass es bei manchen Reaktionen zu einer Abwehrreaktion kommt, dürfte nur scheinbar sein; immer muss das Reizobjekt ir gend wie erfasst sein, ehe der Organismus sich von ihm abwen­ den, es von sich abstossen kann. Aufnahme und Abwehrreaktionen sind so zwei verschieden gerichtete, aber dem Wesen nach gleiche Verhaltungsweisen, verschiedene Arten der «Erfassung» des Reiz ­ objekts. Ob schliesslich eine Aufnahme oder Abwehr oder et wa teil weise Eliminierung erfolgt, ist von der mehr oder weniger gros sen Adäquatheit des Reizobjekts gegenüber der ganzen Or ga­ nisation des vorliegenden Organismus abhängig. Alles, was den Systemzusammenhang auf Dauer in Frage stellt, d. h. die Rück ­ kehr in den dem betreffenden Organismus entsprechenden rela­ tiven Gleichgewichtszustand unmöglich macht, wird eliminiert. (Goldstein, 2014, S. 104) Die Geburt des bedeutenden Anderen Bedeutung bekommt dieser Vorgang durch die Resonanz, d. h. durch die Antwort des noch unbekannten Adressaten. Der noch ungetrennte Andere wird dadurch angerufen – idealtypisch durch einen Laut, einen Schrei, vielleicht auch durch die veränderte Physiognomie. Da eine Eliminierung des Hungerreizes nie völlig und manchmal auch nur vorübergehend möglich ist, wird der Organismus sich auf eine Integration mit allen seinen Folgen und den Konsequenzen für die Neuausrichtung der Organisation einstellen müssen und sich mit der Tatsache einer wirkmächtigen Aussenwelt befassen müssen. Hier beginnt sich sukzessive Intermediäre Schöpfungen. An den Rändern kreativen Prozessierens 83 die Störung durch den Reiz zu einem komplexen Bild zu transformieren, das sich nachträglich zu einem Objekt des Anstosses wie auch zu einem der Resonanz entwickeln wird und das «die Realität» repräsentiert. In diesem Moment kann von einer Geburt des Anderen (Lefort & Lefort, 1986) ausgegangen werden, der dem Kind vorausgegangen ist, um ihm seinen Platz zu weisen. Es ist als Subjekt darauf angewiesen, dass es einen Platz von einem anderen zugewiesen bekommt. In dieser Ab hängigkeit entwickeln sich Affekte wie Angst, eine depressive Position aber auch die Sorge um den Anderen – das mütterliche Objekt – ohne den das eigene (Über) Leben nicht möglich wäre. Dazu schreibt Winnicott (1983): Jedes Erleben hat sowohl eine physische als auch eine nichtphy­ sische Dimension. Vorstellungen begleiten und bereichern Kör per­ funktionen, und Körperfunktionen begleiten und verwirklichen Vorstellungsbilder. Man muss ausserdem von der Gesamtheit der Vorstellungen und Erinnerungen sagen, dass sie sich allmählich zu dem ausdifferenzieren, was dem Bewusstsein verfügbar ist, was ihm nur unter bestimmten Umständen verfügbar ist und was im verdrängten Unbewussten nicht verfügbar bleibt, weil es mit einem unerträglichen Affekt belastet ist. (S. 92) Wenn die Reaktion auf eine frühe Irritation im neugeborenen Kind Angst aus löst, ist dies zunächst der Ausdruck einer erlebten Einschränkung, deren Be ­ deutung sich auch nur auf die «Einschränkung» und die somatischen Reaktionen da rauf bezieht. Die Störung der dynamischen Konstanz wird als Beeinträchtigung insofern erlebt, als dadurch eine Umorganisation des Organismus wirksam wird. Auch der Schrei des Kindes ist nicht nur Ausdruck, sondern gleichsam Teil des Geschehens selbst, das den Organismus irritiert. Wir sollten hier nicht nur vom Schrei als einem Ausdruck der Angst ausgehen, sondern den Schrei zugleich als Folge der organischen Umbildung auffassen, die sich im Laut ebenso zeigt wie in den biochemischen und hormonellen Veränderungen. Angst wäre zunächst nur die Erfahrung der erlebten Einschränkung durch eine partielle oder umfassende Umorganisation. Das Kind kann möglicherweise – wie ein Psychotiker – völlig von der in ihm selbst erzeugten Angst ergriffen sein, ohne ein Objekt zu haben, das für diese Empfindung verantwortlich zu machen wäre. Denn noch gibt es nur die reine Immanenz des Erlebens und kein Bewusstsein der Getrenntheit (vgl. u. a. Müller 2019). 84 Ulrich A. Müller Doch dieses veränderte Empfinden im Inneren, die Störung als Aufgabe an zunehmen, erschliesst den Zugang zu einer äusseren Welt, insofern die Rück­ kehr zu einen dynamischen Niveau der Ruhe durch einen äusseren Eingriff er folgt. Die Störung der Ruhe und die Antwort auf die Reaktion des kindlichen Or ga nis mus erschliesst einen bis dahin unbekannten Raum. Es beginnt sich sche men haft eine Objektwelt zu bilden. Hier wie in anderen Überlegungen wird die Tragweite der Überlegungen von Winnicott sichtbar, Horizonte zu eröffnen. Neue Gestaltungsräume werden vorstellbar, die bis dahin unbekannt waren. Die Di mension des Übergangsraums wird im Prozess der schöpferischen Bewältigung der Krise begreifbar. Nach all dem Nichts Etwas als das Neue zu denken, ist das Wagnis, das diesem kreativen Akt zugrunde liegt: Die Welt der Objekte, die es dem Kind möglich machen, sich aus der erlebten Enge zu befreien. Literatur Balint, M. (1960). Angstlust und Regression. Klett­Cotta. Barnes, J. (2010). Nichts, was man fürchten müsste. Kiepenheuer und Witsch. Bion, W. (1997). Lernen durch Erfahrung. Suhrkamp. Bion, W. (1963). Eine Theorie des Denkens. In E. Bott Spillius (Hrsg.), Melanie Klein heute Bd. I. Beiträge zur Theorie (S. 225–235). Klett Cotta. Böhme, G. (2019). Leib. Die Natur, die wir selbst sind. Suhrkamp. Condrau, G. (1996). Zur Phänomenologie der Angst. In H. Lang & H. Faller (Hrsg.), Das Phänomen Angst. Pathologie, Genese und Therapie (S. 32–43). Suhrkamp. Freud, S. (1986). Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904. S. Fischer. Freud, S. (1933a). 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Forschungsinteressen: Säuglings­ und Klein­ kind forschung; Psychosoziale Forschungsstudien. Publikationen in verschiedenen Fachzeitschriften.
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