Schwerpunkt

Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust, Heimatlosigkeit, Heimweh und Heimatsuche. Psychoanalytische und psychosoziale Aspekte

Nach einer Begriffsklärung von Heimat werden entwicklungspsychologische Aspekte der Heimatbildung untersucht. Aktuelle Befunde von Entheimatung und Heimatverlust und ihre psychosozialen Folgen werden diskutiert. Der Psycho-sozio-pathologie von Heimat kann nur durch die Förderung einer stabilen inneren Heimat begegnet werden. Sie erlaubt eine Toleranz für Differenz.


Journal für Psychoanalyse, 62, 2021, 168–183 Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust, Heimatlosigkeit, Heimweh und Heimatsuche Psychoanalytische und psychosoziale Aspekte Thomas Auchter (Aachen) Zusammenfassung: Nach einer Begriffsklärung von Heimat werden entwick- lungspsychologische Aspekte der Heimatbildung untersucht. Aktuelle Befunde von Entheimatung und Heimatverlust und ihre psychosozialen Folgen werden diskutiert. Der Psycho-sozio-pathologie von Heimat kann nur durch die För - derung einer stabilen inneren Heimat begegnet werden. Sie erlaubt eine Toleranz für Differenz. Schlüsselwörter: Innere Heimat, Äussere Heimat, Heimatvertreibung, Fernweh, Rechtspopulismus 1 Einführung Seit geraumer Zeit hat der Begriff «Heimat» (wieder) Konjunktur. Das ist zum einen bedingt durch die vielfältigen globalen Fluchtbewegungen und Mi ­ grationsprobleme. Für den Heimatverlust brauchen wir aber gar nicht in ferne Länder zu schauen, auch Braunkohlebagger schaffen z. B. in Nordrheinwestfalen oder in der Lausitz unwiederbringliches Verschwinden von Heimat! Zum anderen hat der Begriff Aktualität durch das Erstarken von rechtspo- pulistischen Bewegungen überall auf der Welt, die diese Vorstellung für sich okku­ pieren und instrumentalisieren. Sie betrachten Heimat als Festung, die gegen andere abgeschottet wird durch Ideologien, Propaganda, Exklusion und Mauern. Sie schlies sen damit an die missbräuchliche Verwendung des Heimatbegriffs durch die Nationalsozialisten an: «Heim ins Reich». Die Heimattümelei im Deutschland der Nachkriegszeit mit den verbreiteten Heimatliedern, Heimatromanen und Hei mat filmen hatte vor allem die Funktion, den Blick von der Scham und der Schuld über die deutschen Verbrechen der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges ab zulenken (vgl. Schmoll, 2016, S. 22; Gross, 2019, S. 51 ff.). Seinerzeit bestand rund ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland aus Heimatvertriebenen, Flücht­ ((Keine Anmerkungen? Darf Nummerierung weg?)) © 2021, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jf p.62 .11 Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust (…) 169 lin gen, Mi granten und «Displaced Persons» (Pavlovi ć, 2016, S. 156). Die Jah res­ tref fen der Heimatvertriebenenverbände mit ihren Trachten, Liedern und Reden spe ku lierten lange Zeit über eine Rückkehr in die Heimat – was nur über eine Hei­ mat vertreibung der nun dort Lebenden möglich gewesen wäre (vgl. Gross, 2019, S. 45 f.). Erst die «Ostverträge» (1970) setzten dem ein Ende. Wobei zweifellos die «Heimatvertreibung» – egal wem und egal wo sie passiert – eine traumatische Er fah­ rung mit gravierenden seelischen Folgen darstellt (Langendorf, 2004; Varvin, 2016). Derzeit ist die Thematik «Heimat» durch die Corona­Pandemie und ihre Fol gen (verstärkte Fixierung auf das Zuhause und auf «Heimaturlaub») weiter ak tualisiert. “Home is where we start from”, lautet der Titel eines posthum veröffent­ lichten Essay ­Bandes von Donald W. Winnicott (1986). Im besten Fall beginnt also unser Lebensweg in einem Zuhause oder einer Heimat. Zugleich aber gilt: “Paradise lost”! In diesem Sinne ist Heimat etwas Verlorenes, das hinter uns liegt. Da dieses paradiesische Gefühl aber zumeist als etwas Gutes empfunden oder fantasiert wird, er wächst daraus Heimat als «Sehnsuchtsort», der vor uns liegt. Heimat hat ebenso mit Herkunft zu tun wie mit Ankunft (vgl. Gross, 2019, S. 19 ff.). Das Bild einer Reise mit unaufhörlichem Aufbrechen und Ankommen ist ei ne treffliche Metapher für das menschliche Leben. Insofern ist all un ser An kommen im Leben immer nur vorläufig. «Wer jetzt kein Haus hat, baut sich kei nes mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben», beschreibt Rainer Maria Rilke (1902) in seinem Gedicht Herbsttag mögliche Probleme dieser Reise. Dazu ge hören Un be­ haustheit und Obdachlosigkeit als Varianten von Heimatlosigkeit. Um gekehrt preist Hermann Hesse (1941) in seinem Gedicht Stufen das Aufbrechen mit den Wor ten: «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben», sowie: «Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde». Ähnlich formuliert auch der Text von Georg Thurmair, übrigens 1935 als verdecktes «Anti­ Nazi­Lied» konzipiert: «Wir sind nur Gast auf Erden / und wandern ohne Ruh / mit mancherlei Beschwerden / der ewigen Heimat zu». Unsere Lebensreise endet – soweit wir wissen – mit unserem Tod. 2 Zur Begriffsbildung: «Heimat» Das Konzept«Heimat» ist ebenso komplex wie widersprüchlich (vgl. Gross, 2019). Diesem Facettenreichtum kann man im Grunde nur mit einer multidiszipli­ nären Betrachtung gerecht werden. Im Bewusstsein der Begrenztheit beschränke ich mich im Wesentlichen auf die psychologische (psychoanalytische) und sozi­ alpsychologische Perspektive. 170 Thomas Auchter Im Begriff Heimat steckt das Wort «Heim» und es ist verwandt mit Haus, Zu hause, Daheim, also positiv konnotiert. Dazu gehört aber auch Heim wie Kin der­ heim, Altenheim, die zumindest zwiespältig, wenn nicht negativ konnotiert sind. Auch der Ausdruck «Heim­suchung» hat eine deutlich negative Bedeutung, noch mehr: «heim­tückisch». Nach vielfacher Aussage ist das deutsche Wort«Heimat» in andere Sprachen nicht übersetzbar. Heimat kann sowohl mit einer äusseren wie mit einer inneren Realität (Au ch ter, 2013) in Verbindung gebracht werden. Heimat wird einerseits auf et was Äusserliches bezogen, ein Dorf, eine Stadt, ein Land, eine Region oder eine Land schaft (territoriale Ebene). Heimat wird auch verbunden mit Herkunft und Zugehörigkeit z. B. zu einer Volksgruppe oder Religionsgemeinschaft (soziale oder kulturelle Ebene). Andererseits ist Heimat eine psychische Struktur, die vor allem etwas mit Emotionen und Sehnsüchten zu tun hat, insbesondere mit Sicherheit und Geborgenheit (emotionale Ebene). Diese innere Heimat kann z. B. durch die Familie oder eine bestimmte so ziale Gruppe fundamentiert werden. Christian Morgenstern (1922, S. 122) for ­ mulierte dazu: «Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird». Das Konstrukt «Innere Heimat» resultiert aus haltver ­ mittelnden (Auchter, 2000) und versichernden Beziehungsszenen zwischen Selbst und Objekten, die kognitiv und emotional internalisiert werden. Der Begriff Heimat wurde bis ins 13. Jahrhundert nur für die jenseitige (himm lische) Heimat verwandt und galt nicht für irdische Angelegenheiten (Hoven­Buch holz, 2016, S. 142). Das mitteldeutsche Wort «heim ōt» benannte zunächst das Heim, das Anwesen, den Hof (Schmoll, 2016, S. 20). Heimat hiess in der Schweiz und in Bayern ursprünglich soviel wie «Besitz» (des bäuerlichen Hofes) (Erdheim, 2016, S. 109). Auch die Sprache (vgl. Gross, 2019, S.112 ff.) oder der Dialekt können Hei­ matgefühle auslösen. So lautete das Karnevalsmotto 2019 in Köln: «Uns Sproch es Heimat»! Jean Améry (1988, S. 66 ff.), von den Nazis verfolgter und vertrie­ be ner jüdischer Schriftsteller, macht auf die enge Verbindung von Heimat und «Mut ter sprache» aufmerksam (vgl. auch Gross, 2019, S.112 ff.). Insofern Heimat et was mit frühkindlichen Erfahrungen mit Mutter und Vater zu tun hat, liegt die Ver bindung zu «Mutterland» und «Vaterland» nahe. Sie werden synonym mit «Hei matland»verwendet. Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust (…) 171 3 Psychoanalyse und Heimat «Das Thema Heimatlosigkeit, Vertreibung und Exil ist zentral für die Ge schich te der Psychoanalyse» (Leszczynska­Koenen, 2016, S. 214). Es begann da mit, dass Sigmund Freud «seine Heimat als Arzt im medizinischen Denksystem ver liess auf der Suche nach neuen Konzepten zum Verstehen der menschlichen Psy che und ihrer Erkrankungen» (Pavlovi ć 2016, S. 155). 1938 wurde er wie die meis ten jüdischen Psychoanalytiker von den Nazis aus seiner Heimatstadt Wien nach London vertrieben. Im Registerband der Gesammelten Werke von Sigmund Freud taucht der Begriff «Heimat» nicht auf. Im Gesamttext seiner Schriften findet man ihn nur ein einziges Mal, nämlich als er das «weibliche Genitale» als «Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes» bezeichnet (Freud, 1919h, S. 259). Psychoanalytiker benötigen wie alle Menschen einen festen Boden unter ihren Füssen, eine geistige Heimat. Das bieten ihnen zum Ersten das psychoana­ lytische Theoriegebäude und zum Zweiten die psychoanalytischen Institutionen. Die Psychoanalyse eignet sich aber weder als Kathedrale noch als feste Burg. Auch wenn es zu allen Zeiten Psychoanalytiker gegeben hat, die ihre Zugehörigkeit zu einer psychoanalytischen Gruppe verabsolutiert haben und andere als «nichtpsy ­ choanalytisch» ausgegrenzt und diffamiert haben. Insofern ist die Geschichte der Psychoanalyse auch eine Geschichte von « Spaltungen» (Hermanns,1995). Adäquat ist eher ein offenes Haus mit einem stabilen Fundament, aber flexibel ausbaufähig mit «Übergangs­» und «Möglichkeitsräumen» ( Winnicott; vgl. Auchter, 2004; 2013). Der Psychoanalytiker steht auch vor der Notwendigkeit – vor allem in der konkreten Arbeit mit seinen Patienten – seine «psychoanalytische Heimat», sein theoretisches und praktisches Wissen «immer wieder aufzugeben und in Frage zu stellen» (Pavlovi ć, 2016, S. 168)! Sich also dem Nicht-Wissen im Bezug auf den spezifischen Patienten und die spezifische therapeutische Beziehungssituation auszusetzen («gleichschwebende Aufmerksamkeit»)! Vor vielen Jahrzehnten schenkte mir eine junge Patientin am Ende ihres längeren psychotherapeutischen Entwicklungsprozesses ein Blatt mit dem Foto eines alten, selbstzusammengeschusterten, einfachen Gewächshauses auf einem Acker. Darunter hatte sie das folgende selbstgestaltete Gedicht geschrieben: Gewächshaus: In Freiburgs lautester Strasse Eine schwere, grosse Türe aus Holz, eine breite Treppe immer sauber, 172 Thomas Auchter ein kahles, steriles Wartezimmer meist leer. Ein Mensch holt mich ab, führt mich hinein, schliesst Türen und Fenster, setzt sich und schweigt. Im Gewächshaus, dem Möglichkeitsraum einer Psychotherapie können Patient*­innen sich mit Heimatverlust, aber auch mit dem Schaffen «neuer Hei­ maten» befassen (vgl. Gross, 2019, S. 150, S. 158 ff.). 4 Aspekte von Heimat 4.1 Urheimat Von den meisten psychoanalytischen Autoren wird der neunmonatige Auf­ enthalt im Mutterleib als «Urheimat» ( Janus, 2016, S. 73), als «früheste und erste Heimat» (a. a. O., S. 96), als «alte Heimat» (Freud 1919h, S. 259) oder explizit als «Mutterleibsheimat» (Messer, 2016, S. 100) betrachtet. Das Leben beginnt in einem Binnenraum. Im besten Fall – aber nur dann! – stellt das «Mutterhaus» für die ersten intra uterinen neun Monate einen Raum des weitgehenden Geschützt ­ und Ge bor­ genseins, der Sicherheit, des umfassenden Versorgung­ und Befrie digungfindens dar. Da, wie schon Freud (1930a, S. 426) vermerkte, nichts im seelischen Leben verloren geht, bleiben aus dieser Zeit unbewusste seelische Spuren vor allem im Kör pergedächtnis. Der Mutterleib ist allerdings nicht immer und nicht in jedem Fall eine paradiesische, vorambivalente, ideale Idylle und sicher nicht mehr am En de der neun Monate, wo es in diesem ersten Zuhause ziemlich eng wird. Die in trauterine Erfahrung konfrontiert gleich mit den zwei wesentlichen Aspekten des Raumes, nämlich der Geborgenheit einerseits und der Bedrohung durch das Ein gesperrtsein darin andererseits. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem die «Ur ­höhle» zur «Ur ­hölle» werden kann (vgl. deMause, 2000, zit. n. Funke, 2006, S. 169 ff.). Dann müssen wir aufbrechen, werden geboren und unsere Reise setzt sich ausserhalb vom «Hotel Mama» fort. 4.2 Geburt – Exodus –“Paradise lost” Ähnlich wie das Intrauterinstadium eine ambivalente Raumerfahrung dar ­ stellt, lässt sich auch der komplexe Geburtsvorgang unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachten. Otto Rank (1924) hat in seinem grundlegenden Werk: «Das Trauma der Ge burt» die Geburt als «Urtrauma» und als «Urform der Angst» beschrie ­ Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust (…) 173 ben (ebenso Freud, 1926d), also als Prototyp des Heimatverlusts. Für Donald W. Winnicott (1988) ist dagegen die Geburt vor allem der erste schöpferische Akt des Menschen, Aus druck seiner eigenen Bewegungsimpulse, der sogenannten «spontanen Gesten», und eigener Wirkmächtigkeit und damit eine äusserst wert ­ volle ( Winnicott, 1988, S. 144), kreative Erfahrung. Diese beiden Perspektiven schliessen sich keineswegs aus! Die Geburt stellt die «Urform des Exodus» dar. Es ist die erste markan te Erfahrung einer Trennung einer zuvor weitgehend als Einheit, respektive Un unter­ schiedenheit erlebten beziehungsweise fantasierten Situation. Michael Balint (1966, S. 83) hat diesen Ur ­Zustand einmal mit dem schönen Bild der «Harmonie mit dem Grenzenlosen» gezeichnet. Romain Rolland und Sigmund Freud (1930a, S. 422) versuchen ihn mit dem Begriff «ozeanisches Gefühl» zu fassen. Nach dem Geborenwerden zerbricht die Harmonie mit dem Grenzenlosen. Vorher «Selbstverständliches» muss nun vom Säugling aktiv in die eigene Hand genommen werden wie Atmen, Nahrung Aufnehmen und Ausscheiden. Wenn das kleine Kind nach der Geburt in sein Leben aufbricht, ist zunächst einmal das meiste fremd und macht ihm Angst. Der «Neu­angst» steht jedoch die angeborene «Neu­gier» des Kindes entgegen. Der sichere (Rück­)Halt, den die Mutter und andere ihm durch ihre anhaltende liebevolle Präsenz bieten, die sichere «Bindung» (Bowlby), ermutigt das neugierige Explorationsverhalten des Kindes auch durch die Möglichkeit des «emotionalen Auftankens» (Mahler u. a., 1978, S. 91). Als biologischer «Nesthocker» ist das Neugeborene angewiesen auf ein «gutes Nest», in dessen Schutz, Geborgenheit und Sicherheit Entwicklung möglich wird, also eine «Beziehungsheimat». 4.3 Nach der Geburt – Bedürfnis nach Beheimatung Heimat bleibt nach der Geburt lebenslang unbewusst auch ein Sehnsuchts­ ort der Rückkehr in den Mutterleib (Chasseguet­Smirgel, 1988), ins verlorene Pa ra­ dies, gewissermassen Aufbrechen nach hinten, Heim-kehr. Aus der Vertreibung aus dem Paradies resultiert ein tiefes (regressives) Bedürfnis nach Beheimatung. Dieses Bedürfnis versucht auch, ein Gegengewicht gegen die von Winnicott (1974) beschriebenen frühkindlichen archaischen Daseins­ bzw. Zerfallsängste (“Fear of breakdown”) zu bilden (vgl. Durban, 2018, S. 46). Spätere Heimatvertreibungen stellen Retraumatisierungen des ursprünglichen Heimatverlusts dar. Vielleicht des wegen bezeichnet Freud (1933a, S. 62) das Unbewusste als «inneres Ausland», es ist das «ehemals Heimische, Altvertraute» (Freud, 1919h, S. 259). Winnicott (1988, S. 122 ff.) spricht ausdrücklich davon, dass die Seele erst im Laufe der (frühen) 174 Thomas Auchter Entwicklung eine «Unterkunft» [lodgement] im Körper finden muss und mit Hilfe einer hinreichend guten Mitwelt zu «bewohnen» [indwelling] beginnt. Wie jede Pflanze und jeder Baum nur zu seiner angemessenen Grösse her ­ anwachsen kann, wenn sie fest in der Erde verwurzelt sind, ist es auch mit dem Menschen. Zu seinem vollen Menschsein benötigt er nach den Untersuchungen der Bindungsforschung und der Entwicklungspsychologie eine feste innere Ve r - wurzelung oder Verankerung. Johann Wolfgang von Goethe wird der Satz zuge­ schrieben: «Wenn Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie gross sind, verleih ihnen Flügel». So steht der Mensch lebenslang auch innerlich zwischen seinem Bedürfnis nach Sesshaftigkeit (mit dem Extrem des Entwicklungsstillstandes), dem «Heim­ weh» einerseits und dem Bedürfnis nach Nomadentum, Aufbruch und Abenteuer (mit dem Extrem der Selbstauflösung), dem «Fernweh» andererseits. Fortan bewegt sich der Mensch in der Spannung zwischen seiner regressiven Sehnsucht nach Heimkehr in den als paradiesisch und vollkommen sicher phan­ tasierten Mutterleib (Chasseguet­Smirgel 1988, 91 ff.), seinem «Konservativismus» und seiner progressiven Sehnsucht nach Freiheit, Lebendigkeit und Neuem. Diese ist aber grundsätzlich mit einem gewissen Unbehaust sein, mit Nicht­Wissen und mit Unsicherheit verknüpft. Sie können besser ausgehalten werden, wenn aus den vorangegangenen guten Erfahrungen verinnerlichte innere «Re­präsentanzen» von versichernden «guten Objekten» und von «guten Selbstanteilen» vorhanden sind. Das Bedürfnis, festen Boden unter den Füssen zu haben, eine sichere Bleibe zu besitzen, uns wirklich zu Hause fühlen zu können, scheint in diesem Sinne ein sehr archaisches zu sein. Womöglich findet auch das Bedürfnis nach einem «Eigenheim» hier seine unbewusste Quelle? Aber auch das Gegenbedürfnis, zum Aufbrechen, unser «Traum vom Fliegen», das Bedürfnis nach Urlaub, der Wunsch, «Spielräume» zu entdecken, Neues zu erfahren, Abenteuer zu erleben, aber auch «Luftschlösser zu bauen», «aus sich herauszugehen» scheint ebenso tief in der menschlichen Seele verwurzelt. Michael Balint (1960) hat das Verhältnis zwischen dem Heimweh und dem Fernweh mit den Begriffen «Oknophilie» [Liebe zur Nähe] und «Philobatie» [Lie be zur Weite] bezeichnet. Die dem entsprechenden krankhaften seelischen Raum- störungen sind: «Klaustrophobie»und«Agoraphobie». Die Spannung zwischen beiden bildet sich auch ab in der lebenslänglichen Polarität zwischen Bindungsbedürfnis und Individuationsstreben und zwischen den Pas sivitätswünschen und den Aktivitätstendenzen des Menschen. Juan Carlos Rey (1979, S. 255) hat diese Spannung trefflich als das «klaustrophobisch­agorapho­ Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust (…) 175 bi sche Dilemma» benannt. Nach Balint (1960) ist jedes Aufbrechen in der Regel psychisch mit einer gewissen «Angstlust» [thrill] verknüpft. Innerhalb und ausserhalb des Hauses oder der Wohnung Höhlen zu bau­ en, gehört zu den beliebten Kinderspielen und «Zelten» zu beliebten Puber täts­ erfahrungen. Später kann zum Beispiel das eigene Zimmer, die «eigenen vier Wän­ de» zugleich einen Schutzraum bilden, ebenso aber eine Abgrenzung nach aussen ermöglichen. Auch Matthias Hirsch (2006, S. 12) betont die Doppelfunktion und Ambiguität des Hauses, in das man sich einerseits zurückziehen und abschot­ ten kann oder andererseits durch ein «offenes Haus» gerade sozialen Kontakt zur Mitwelt herstellen kann. Dieter Funke (2006, S. 85) schreibt entsprechend von der «grenzsetzenden und grenzöffnenden Funktion» des Hauses. Das Haus kann also zugleich ein Ort der Trennung und ein Ort der Verbindung sein (vgl. Hirsch, 2006, S.81). Insbesondere die Tür charakterisiert in besonderer Weise den Doppelcharakter dieses Sich­Abgrenzens und Sich­Öffnens (Funke, 2006, S. 40). Durch die Türe brechen wir auf und an der Türe kommen wir an. Die Jour nalistin Regine Igel (2005) formuliert im Anschluss an den Psychoanalytiker Uwe Lan­ gendorf (2004): «Heimat bedeutet also keine Höhle, die den Menschen abschottet, sondern eine Brücke zur Welt». In einem Vortrag über «Frühstörungen» habe ich vor vielen Jahren (1992) vom «Niemandskind im Niemandsland» gesprochen. Aufgrund fehlender oder un zureichender emotionaler und/oder kognitiver Resonanz entsteht für sol­ che Menschen am Beginn ihres Lebens im Innern keine Verwurzelung, keine Zu gehörigkeit, kein «Heimatland», sondern eben ein «Niemandsland». Der israe­ lische Kinderanalytiker Joshua Durban (2017) bezeichnet dies als “nowhereness”. 4.4 Anale Konflikte In den Konflikten der sog. «analen Phase», im 2./3. Lebensjahr wird entwe­ der eine feste und stabile Heimatbasis des «Ichs» begründet, oder eine grundle­ gende Unsicherheit und Instabilität. Die in dieser Zeit besonders häufigen «Neins» des Kindes sind die ersten deutlicheren Manifestationen seines Ichs (vgl. Spitz, 1957). Die vielen «Neins» der Erwachsenen können durch ihren begrenzenden Charakter eine wichtige Hilfe für die Ich­Entwicklung und Strukturbildung dar ­ stellen. Neins im Übermass dagegen gefährden die Entwicklung einer stabilen und gesunden Ich­Basis. In der Körperlichkeit geht es vor allem um Festhalten und Loslassen (Ausscheiden), um erste Erfahrungen von Besitz («Identität») und Verlust von Eigenem und um «Reinheit» und Verschmutzungsfantasien über das 176 Thomas Auchter Fremde. Beim analen Bestehen auf«Homogenität» wird das frühe Bedürfnis nach Ungetrenntsein wiederbelebt. 4.5 Adoleszenz zwischen Entheimatung und Heimatsuche Die markanteste Aufbruchphase ist natürlich die Adoleszenz. Ein uner ­ schütterliches, «nichtzerstörbares» ( Winnicott) Elternhaus ist die Ausgangsbasis für explorative Aufbrüche und zugleich ein sicherer Rückkehrort (vgl. Kennedy, 2016, S. 812). Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter hat schon 1970 eine patholo­ gische Form der Familie als «Festung» beschrieben. “My home is my castle”, lau­ tet eine britische Redensart. Sogar Erwachsene bauen am Strand «Sandburgen». Allerdings führt der Versuch eines übermässigen Geschützt­ und Geborgenseins gegen Verunsicherungen zu Zwängen, zum Zuchthaus oder Gefängnis, und macht die Menschen darin krank. «Freiheit stirbt mit Sicherheit» soll Kurt Tucholsky (1934) gesagt haben. Vielleicht ist angesichts wachsender Umweltverseuchung und des Klimawandels die «Arche» – mit der man aufbrechen und ankommen kann – heut­ zutage ein angemesseneres Symbol als die «feste Burg»? Ein Haus oder Heim kann uns bergen, Geborgenheit vermitteln («Herberge»). Im Haus kann aber auch Schlimmes «im Verborgenen», heimlich – hinter einer blendenden Fassade – geschehen, zum Beispiel familiäre seelische, sexuelle und andere Gewalt. Familientragödien und Seelenmorde spielen sich zumeist im Raum von Wohnung oder Haus ab. Unser Leben ist durchgängig mit einer Menge an Unsicherheiten bestückt. Das Einzige, das sicher ist, ist – wie es Sigmund Freud in einem Brief (an Max Eitigon vom 05.01.1933; zit. n. Schur, 1972, S. 521) formulierte, dass «wir alle zum Tode verurteilt sind». Auch deshalb ist es uns wohl bewusst und unbewusst lebenslang so wichtig, festen Boden unter den Füssen zu spüren, vier stabile eigene Wände zu besitzen, ein festes Dach über dem Kopf, also ein «sicheres» Haus, eine Bleibe, eine Heimat. Zwischen unserer Geburt und unserem Tod befinden wir uns in einer «prinzipiellen Heimatlosigkeit», in der immer nur vorübergehende «Verortungen» möglich scheinen. Am Ende finden wir unsere letzte Behausung, unsere letzte «Ruhestätte» in einer Kiste, die in der «Mutter Erde» versenkt wird. Vollendet sich da unser «Aufbruch nach rückwärts»? 5 Entheimatung Die Frage ist, ob in unseren postmodernen, «flüchtigen Zeiten» die Balance zwischen den Grundtendenzen Heimweh und Fernweh noch gewährleistet ist. Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust (…) 177 In der Flüchtigen Moderne, wie der polnische Sozialwissenschaftler Zygmunt Bau­ mann (2003) sie nennt, scheint es immer schwieriger, feste Wurzeln zu schlagen oder irgendwo anzukommen. Da gibt es einerseits die Millionen «Pendler», die ihr Heim für die Berufstätigkeit verlassen, und andererseits die Hunderttausende von «Fernbeziehungen», die unerträgliche «Liebe auf Distanz», wie es in einem neueren Schlagerlied heisst. Der postmoderne Mensch hat es unter diesen Umständen schwer, zur Ruhe zu kommen, Ruhelosigkeit ist das dominante Empfinden. Und das ver stärkt vermutlich unbewusst das Bedürfnis nach Orten der Ruhe, nach Heimat. Das Raumgefühl des heutigen Menschen und auch sein Zeitempfinden wird fort während destabilisiert und dekonstruiert, statt bestätigt und bekräftigt. Die mo dernen Verkehrsmittel erlauben eine derart beschleunigte Fort­Bewegung, dass bisweilen unsere Seele dem nicht nachzukommen vermag. Vielreisende wissen bisweilen am Morgen nicht, an welchem Ort der Welt sie gerade aufwachen. «In den Zeiten raschen Wechsels werden die Orte bedeutungsloser und auswechsel­ barer. Sie verlieren ihre Eigentümlichkeit, damit aber auch die Kraft, Menschen zu bergen» schreibt der Theologe Fulbert Steffensky (2003, S. 49; vgl. Langendorf, 2004, S. 210). Die zunehmende Beschleunigung, der der moderne Mensch ausge­ setzt ist, erschwert oder verhindert gar seine Beheimatung. Und weiter: «Es gibt eine neue, fast omnipotente Gleichzeitigkeit, die den Menschen entheimatet und ortlos macht» (Steffensky, 2003, S. 50). Die (fast) grenzenlose Mobilität erschwert die sichere Orientierung und die Verortung in Zeit und Raum. «Der moderne Mensch tauscht Heimat gegen Welt ein», schreibt Jean Améry schon 1966 (1988, S. 75)! «Der Markt verlangt Räder. Aber der Mensch braucht Wurzeln», formuliert der Familienforscher Dirk Weissleder (zit. n. Sell, 2013, S. 12). Aktuell erleben wir im Rahmen der Corona­Krise (Auchter, 2020) proble­ matisch das Gegenteil von Heimatverlust, nämlich vielerorts auf der Welt den Zwang in der Heimat zu bleiben, zu Hause eingesperrt zu sein. Das coronabedingte Fixiertsein (Lockdown) an das Zuhause stellt das Gleichgewicht zwischen Fernweh und Heimweh massiv in Frage. Die Abenteuerlust (Urlaub im Ausland) bezahlt die Gesellschaft mit steigenden Infektionszahlen! Seitdem boomt der Markt mit dem «Haus auf Rädern», den Wohnmobilen. 6 Heimatverlust Neben der seelischen Heimatlosigkeit in der postmodernen Welt ist die Gegenwärtigkeit durch vielfältige Flüchtlings ­ und Migrationsbewegungen charak ­ terisiert, die die globale Verunsicherung und Beängstigung und die fundamentale Unsicherheit der Existenz, das «Geworfensein in die Welt» Martin Heideggers nur 178 Thomas Auchter verstärken. Wenn wir den Gedanken von Roger Kennedy (2016, S. 805) ernst neh­ men, dass für uns das Empfinden von fundamentaler Bedeutung ist, «ein Zuhause zu haben, als Grundlage unseres Seins, als Ort, den wir brauchen, um uns geborgen zu fühlen», dann wird klar, welche Wirkung erzwungene Heimatverluste durch Krieg, Gewaltakte, Hunger und Vertreibung besitzen. Für die Flüchtlinge ist ja in der Regel nicht nur ihr äusseres Zuhause, ihre Heimat verlorenen gegangen oder zerstört worden, sondern gleichermassen ist das verbunden mit dem mehr oder weniger traumatischen Verlust der inneren Heimat, des «psychischen Zuhauses», einer stabilen seelischen Struktur. Wenn das Gefühl des «Heimischseins» vor allem aus Beziehungen erwächst, dann wird auch verständlich, welche Wirkung der mit der Flucht in der Regel ver ­ bundene Beziehungsverlust, die Trennung von Familienangehörigen (ich denke da vor allem an die vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge) und dem sozialen Umfeld hat. Für die meisten Menschen bedeutet der Heimatverlust eine mehr oder minder ausgeprägte «Traumatisierung» (vgl. Langendorf, 2004). Sinnbildlich für den Übergang zwischen alter und neuer Heimat sind viel­ leicht die «Container», in denen viele heutige Flüchtlinge zunächst untergebracht sind. Die Container bergen und schützen einerseits, anderseits sind sie (nur) zeit­ lich begrenzte Gefässe, die jedoch im besten Fall Veränderungen möglich machen und begleiten. Neben dem endgültigen Heimatverlust finden wir auch den vorüberge­ henden der «Emigration». Dabei dominiert die Erwartung und Hoffnung auf eine Rückkehr in die verlassene Heimat. Darüberhinaus haben wir es seit längerem mit einem (Heimat)Verlust traditi­ oneller Zugehörigkeiten und Verbundenheiten (Parteien, Kirchen, Gewerkschaften) zu tun. Da der Mensch aber nicht auf Bindungen zur Stabilisierung seiner Identität verzichten kann, sucht er zumindest unbewusst nach Ersatz. Schon im Begriff der «Identitären» steckt die übermässige Betonung der gefährdeten Identität drin. Diese muss abgesichert werden durch Abgrenzung, Abwertung und Feindseligkeit gegenüber anderen «Nicht­Ichs» und fremden Identitäten, Homogenität auf Kosten von Heterogenität! Gudrun Brockhaus (2018, S. 273) spricht in einer jüngeren Arbeit diesbezüglich vom gesellschaftlichen respektive politischen «Klimawandel». 7 Die Fähigkeit, «neue Heimaten» zu schaffen Neben seinem – vielleicht unstillbaren – regressiven Bedürfnis nach der«alten Heimat» besitzt der Mensch aber auch eine gewisse Fähigkeit «neue Heimaten» zu schaffen, zur «Heimatbildung» ( Türcke, 2006, S. 69). Sverre Varvin (2016, S. 172) Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Heimatverlust (…) 179 bringt das mit «Hoffnung» zusammen. Rainer Gross (2019, S. 139) bezeichnet die Entwicklung eines Heimatgefühls als «komplexe Entwicklungsleistung». Ohne diese Fähigkeit wäre Weiterentwicklung überhaupt nicht möglich. Denn Entwicklung besteht in einem ständigen «Abschied und Neubeginn» (Balint, 1932). So wie das Subjekt am Lebensbeginn seine persönliche Heimat aus sei­ nem beziehungsmässigen Nahraum, seiner sozialen, materiellen und kulturellen Lebensmitwelt konstituiert, so ist das in aller Begrenztheit (vgl. Améry, 1988, S. 67) auch im späteren Leben möglich. Menschen, die dazu nicht in der Lage sind oder dem nicht gewachsen sind, werden zu pathologischen Lösungen greifen. 8 Zur Psycho-sozio-Pathologie von «Heimat» Das Konzept «Heimat» ist tief in der Lebensgeschichte des Individuums, tief in seiner Emotionalität und tief in seinem Unbewussten verankert. Dadurch bietet es Interessierten, zum Beispiel Rechtspopulisten eine Fülle von Angriffs­ und Manipulationsmöglichkeiten. Da Heimat im Unbewussten mit Sicherheit und Geborgenheit assoziiert ist und entsprechend das Fremde mit Bedrohlichkeit und Angst (Auchter, 1993; 2016), nutzen Rechtspopulisten diese Psychodynamik, um Heimat für sich zu instrumentalisieren. Als Gegenbild bauen sie Offenheit, Multikulturalität und Flüchtlinge als Angstkulisse auf, um dagegen Heimat, Volk und Vaterland als idealen Ort der Sicherheit hochzustilisieren. Wer keine hinreichend gute, ebenso stabile wie flexible innere Heimat sein eigen nennt, der ist gezwungen, auf einer rigiden äusseren Heimat zu bestehen. Anstelle von Brücken werden Gräben, Stacheldrahtzäune und Mauern errichtet. Das Ertragenkönnen von Ambivalenzspannungen vermindert derartige Spal­ tungstendenzen und die innere Notwendigkeit von solchen Feindbildungen. Der Freiburger Psychoanalytiker Gehad Mazarweh, als Palästinenser selbst einst von den Israelis aus seinem Heimatland vertrieben, meint in einem Interview knapp: «Wer Mauern braucht, hat Angst»! Als spezifische lebensgeschichtliche Blaupause für die «Heimatpathologie» ist wie schon erwähnt die Familie von Bedeutung. Im kindlichen Entwicklungsver­ lauf kön nen zu einem bestimmten Zeitpunkt alle die fremd werden, die nicht zur Familie gehören (Erdheim, 1988). Anna Freud (1948) sieht darin eine Folge des unausgehaltenen Ambivalenzkonflikts zwischen Liebe und Hass gegenüber Eltern und Geschwistern. Indem alle missgünstigen Regungen von der Familie weg auf die Aussenwelt gelenkt und in sie projiziert werden (vgl. Richter, 1970). In einem solchen Fall wird die Familie zum «nur guten» Ob jekt, «von dem sich das Individuum gar nicht trennen kann, während die Kultur [oder die Mitwelt] als 180 Thomas Auchter das gefährliche Böse erscheint» (Erdheim, 1988, S. 239). Ob die äussere Heimat z. B. durch Fremde als bedroht erlebt wird oder nicht, hängt von der Stärke und Sicherheit der inneren Heimat ab. Problematisch wird das Konzept «Heimat», wenn um sie herum eine herme­ tische Grenze gezogen wird. Wenn also Heimat nicht mit Inklusion und Integration einhergeht, sondern durch Exklusion abgesichert werden muss. Wenn Heimat ausschliesslich reserviert ist für «Einheimische». Eine überstarke Abgrenzung macht Heimat zu einem destruktiven Kampf be­ griff anstelle einer «Brücke zur Welt» (Igel, 2005). «Entscheidend für ei nen vernünf­ tigen Umgang mit Heimat ist, dass ihre Überschätzung sich zur Schät z ung ermä­ ssigt» ( Türcke, 2006, S. 29). Freud (1939a, S. 197) schreibt: »Das Ge meinschaftsgefühl der Massen braucht zu seiner Ergänzung die Feindseligkeit ge gen eine aussen­ stehende Minderzahl». Dieser Gedanke macht noch einmal deutlich, wie wichtig eine stabile innere Heimat ist, um derartigen Tendenzen ent gegenzuwirken und eine «Toleranz für Differenz» zu entwickeln! Literatur Améry, J. ([1966] 1988). Wieviel Heimat braucht der Mensch? In J. 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Ne ­ ben umfang reicher Vortragstätigkeit zahlreiche Publikationen, vor allem auch im Bereich der angewandten Psychoanalyse. 1999 mit seiner Düsseldorfer Kollegin Laura Viviana Strauss Veröffentlichung von Kleines Wörterbuch der Psychoanalyse. 2012 im Psychosozial Verlag: Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte; 2019: Trauer.
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