Der Artikel erörtert das existentielle Warten, das mit dem Gefühl einhergeht, ein Leben auf Standby zu führen. Dabei versucht der Autor, diesen Existenzmodus mit den im Artikel elaborierten Konzepten der Nicht-Beziehung bzw. des gesperrten Übergangs zu erhellen und verknüpft diese Konzepte mit Überlegungen zu dissoziativen Zuständen, dem Begriff des psychischen Todes und der Unlebendigkeit. Zudem wird vorgeschlagen, dass die therapeutische Situation sich dadurch auszeichnet, im Warten des anderen aufgehoben zu sein.
Journal für Psychoanalyse, 62, 2021, 107–121
Das lange Warten: Nicht-Beziehung und Dissoziation im Leben auf Standby
Nikolaus Lehner (Wien)
Zusammenfassung: Der Artikel erörtert das existentielle Warten, das mit dem
Ge fühl einhergeht, ein Leben auf Standby zu führen. Dabei versucht der Autor,
diesen Existenzmodus mit den im Artikel elaborierten Konzepten der Nicht-Be-
ziehung bzw. des gesperrten Übergangs zu erhellen und verknüpft diese Kon zepte
mit Überlegungen zu dissoziativen Zuständen, dem Begriff des psychischen Todes
und der Unlebendigkeit. Zudem wird vorgeschlagen, dass die therapeutische
Situation sich dadurch auszeichnet, im Warten des anderen aufgehoben zu sein.
Schlüsselwörter: Warten, Nicht-Beziehung, Dissoziation, Unlebendigkeit,
Über gang
Gesperrte Übergänge
Es gibt ein Warten, das die ganze Existenz in sich einzufassen vermag: Es
lässt uns in ein stillgelegtes Leben gleiten, das zu einer unüberwindbar scheinen-
den Synkope unserer Lebendigkeit und unseres In-der-Weltseins wird. Kaum etwas
erschöpft und verhärmt so sehr wie dieses lange Warten. Nicht nur nehmen wir
diese Passivierung als sinnlos wahr, sie scheint ausweglos zu sein. Das Vergehen
der Zeit wirkt leer, es wird, wie eine Uhr ohne Ziffernblatt, eher zu einem Mahnmal
als zu etwas, das zu gebrauchen wäre. Es ist auffällig, dass diese Leere der Zeit
sich der Erzählbarkeit entzieht. Das Leben wird in diesem Existenzmodus unaus-
sprechbar, es bleibt ohne Spuren, wie die Durchquerung eines Meeres, das zwei
Kontinente voneinander trennt. Gemäss Ulrich Sonnemann können wir die Zeit
nur als Übergang denken und wahrnehmen: «Zeit ist Übergang oder ist Nichts»
(Sonnemann, 1987, S. 220). Wenn die Zeit nicht mehr als ein solcher Übergang
begriffen werden kann, verliert sie ihren Halt; die Brücke, die zwischen dem Vorher
und Nachher geschlagen wird, bricht ein. Eine bestimmte Form des Wartens ist
dieser Zusammenbruch der Zeit, der durch einen gesperrten Übergang hervor -
gerufen wird.
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DOI 10.18754/jf p.62 .7
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Alltägliche Formen des Wartens stehen mit mehr oder weniger spezifischen
Erwartungen in Verbindung. Zugleich ist es klar, dass sich das Warten nicht mit
dem Begriff der Erwartung deckt: Denn wenn wir etwas erwarten, haben wir das
Gefühl, ein gewisses Mass an Kontrolle über das betreffende Ereignis zu haben. Wir
nehmen also an, einschätzen zu können, ob und wann das Ereignis eintreten wird
(vgl. Gasparini, 1995, S. 29 ff.). Im Unterschied dazu zeichnet sich das existentielle
Warten, um das es an dieser Stelle gehen soll, dadurch aus, dass wir keine Macht
über das Ereignis haben oder zu haben vermeinen. Je ungewisser es ist, ob oder in
welcher Weise das Ereignis eintreten wird, je weniger Kontrolle über ein erwartetes
Geschehnis wir zu haben glauben und je mehr diese Unverfügbarkeit der Zukunft
uns trifft, desto eher verfallen wir in existentielles Warten. Anfangs warten wir vielleicht noch auf etwas relativ Bestimmtes, auf die
Liebe, Inspiration oder Bestätigung, ein Urteil, eine Diagnose, Erleuchtung, die
Auflösung eines Traumas, auf einen anderen. Irgendwann kommt es aber zu einem
Kipppunkt, das Ausharren wird objektlos und verkommt zu einem existentiel-
len Warten ins Leere hinein. Dabei sind die Erfahrung des alltäglichen Wartens
und die Erfahrung des existentiellen Wartens keine vollkommen unterschiedli-
chen Phänomene, vielmehr befinden sie sich auf unterschiedlichen Enden des-
selben Kontinuums. Es ist wie mit dem Postulat der Katastrophentheorie, dem-
zufolge sich ein System lange Zeit kontinuierlich entwickelt, schlagartig aber
Zustandsveränderungen des Gesamtsystems eintreten können: Ein Teich, der
kippt, ein Schneebrett, das abgeht, Eis, das seinen Aggregatszustand ändert und
gefriert (vgl. Mitchell, 2009). Ähnlich ist es mit dem Warten, das die Zeit erst lang-
samer vergehen, dann stillstehen zu lassen scheint und plötzlich das gesamte
Leben in seinen Bann zieht. Im Fall des alltäglichen Wartens ist uns klar, worauf
wir warten, was wir zu erwarten haben; wir können es uns vorstellen, wir haben
vielleicht sogar das Gefühl, einen Einfluss auf das Ereignis zu haben, auf das wir
warten. Dagegen verliert der Vorstellungsinhalt des existentiell Wartenden an
Schärfe, er fühlt sich machtlos, dem Lauf der Dinge ausgeliefert. Im Gegensatz zur
Erwartung scheint diese Form des Wartens zuweilen gar keinen Vorstellungsinhalt
mehr in sich einzufassen, es bleibt offen und objektlos: Ein sprachloses Warten,
das sich vielleicht eher als eine Gestimmtheit charakterisieren liesse. Dabei kann
es offenbleiben, ob dieses Warten tatsächlich objektlos ist, oder ob es sich auf ein
unbekanntes Objekt bezieht. Dieses Warten bezeichne ich als existentiell, weil
es das Leben selbst betrifft, zu einer Lebensform werden kann: einem Leben auf
Standby. Dabei kann dieses Leben durchaus von Geschäftigkeit bis hin zur Raserei
begleitet sein, geprägt von einem endlosen Krei sel aus Arbeit, Freizeit und Konsum.
Das lange Warten … 109
Doch es bleibt der Eindruck, mit dem Leben nicht begonnen zu haben, nicht teil-
zuhaben, nicht ganz da zu sein. Siegfried Kracauer hat angenommen, dass es sich beim existentiellen War -
ten um ein weit verbreitetes Phänomen des modernen Lebens handelt. Er ver -
suchte dieses Phänomen zu fassen, indem er es vor allem als eine metaphysische
Leere beschrieben hat: «Es ist das metaphysische Leiden an dem Mangel eines
hohen Sinnes in der Welt, an ihrem Dasein im leeren Raum, das diese Menschen
zu Schicksalsgefährten macht» (Kracauer, 1977, S. 106). Die existentiell Wartenden
wer den von Gefühlen der Beliebigkeit, Farblosigkeit und Sinnlosigkeit überwältigt.
Dabei handelt es sich meiner Meinung nach nicht notwendigerweise um ei ne
metaphysische oder spirituelle Leere, als vielmehr um die Unfähigkeit, Ob jekt-
besetzungen zu entwickeln, die sich nicht nur auf eine reine Abwesenheit beziehen.
Das Warten als Nicht-Beziehung
Im Allgemeinen impliziert das Warten immer eine Nicht-Beziehung; was
nicht dasselbe ist wie Beziehungslosigkeit. Eine Nicht-Beziehung unterschei det
sich von reiner Beziehungslosigkeit. Im Gegensatz zu der Beziehungslosig keit be -
steht eine Nicht-Beziehung immer im Entzug einer Relation zu einem Objekt oder
zu einem anderen. Es ist auffällig, dass sich die durch das Warten konstituierte
Erfahrung der Nicht-Beziehung auf das Leben selbst auszuweiten droht: Wenn wir
warten, verlieren wir nicht nur unser Interesse an dem, was um uns herum passiert,
die Dinge passieren uns in einem wörtlichen Sinne: sie ziehen an uns vorbei, ohne
uns anzugehen. Dies zeigt sich schon im Fall alltäglicher Wartesituationen. Als
Wartende verlieren wir die Fähigkeit, das Erlebte zu integrieren, da es sich jegli-
cher Bedeutsamkeit entzieht. Jede tatsächlich erlebte Beziehung wirkt angesichts
dieser Nicht-Beziehung matt, schal und unbefriedigend. Wenn wir dann doch ver -
meintlich bedeutungsschwangere Erlebnisse haben, dienen diese nur als Zeichen
für das Ungeschehene, das dem Warten zugrunde liegt: Nichts verweist auf einen
Bedeutungshorizont, der wesentlich über unser Warten hinausreichen könnte. Wenn nichts mehr über das Warten hinausreicht, wird alles andere schnell
banal: dabei handelt es sich um ein Phänomen, das sich schon beim Warten an
der Haltestelle zeigen kann. Doch diese Banalität ist trügerisch. Denn das Warten
könnte eine ganze Existenz ausfüllen, wenn es sich auch um eine entleerte, bedeu -
tungslose Seinsweise handelte. Unsere einzige wirkliche Beziehung wird dann
die Beziehung zu einer Nicht-Beziehung. Das Warten lässt sich deshalb als ein
gesperrter Übergang beschreiben. Wenn wir warten, haben wir ein Problem damit,
die Erfahrung von Differenz, und damit die Erfahrung von Zeit machen zu können:
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Wenn alles unterschiedslos ineinander verfliesst, gibt es kein Vorher oder Nachher,
die Zeit wird zu einer trägen Masse, die starr wird wie erkaltete Lava. Dabei wirkt
es fast so, als gäbe es beim Warten, im Gegensatz zur Erwartung, kein Objekt mehr,
welches das Zeiterleben strukturieren könnte. Wir können uns diesen Umstand mit dem klassischen, psychoanalytisch en
Modell erklären, demzufolge das wartende Kleinkind in Abwesenheit der Be frie-
digung die Erfüllung seines Wunsches zu halluzinieren beginnt. Im Verlauf der
normalen Entwicklung weicht demnach die Halluzination der Phantasie, die
dann wiederum durch das Denken und realitätsadäquates Handeln ersetzt wird
(Goldberg 1971, S. 415). Der Psychologe Walter Mischel (2014) versuchte die hal-
luzinatorische Wunscherfüllung experimentell zu evaluieren, indem er auf ihre
Lieblingssüssigkeiten wartenden Kindern Fotos der betreffenden Süssigkeiten
vor legte: Tatsächlich konnten sich diese Kinder deutlich länger gedulden als die
Kinder in der Kontrollgruppe, denen von vornherein die echten Süssigkeiten vor -
gelegt wurden. Dabei scheint es innerhalb experimenteller Settings allerdings vor
allem die Fähigkeit zur Ablenkung zu sein, die das Warten erleichtert (Mischel,
2014), die Fähigkeit also, andere Objekte libidinös zu besetzen und die eigenen
Gedanken und Phantasien von dem begehrten Objekt abdriften zu lassen. Dabei
ist es denkbar, dass das Kind, wie der Psychoanalytiker Otmar Seidl (2009, S. 107)
schreibt, das Vergehen der Zeit in der Abwesenheit der erwünschten Befriedigung
wahrscheinlich erstmals als Dauer erlebt (Seidl, 2009). Das Kind erlebe die Zeit
jedoch nur solange als gegenwärtige Dauer,
[...] wie es ein inneres Bild eines bedürfnisbefriedigenden Objektes
trotz dessen Abwesenheit aufrechterhalten kann. […] Wenn
dieses innere Bild zusammenbricht, bedeutet dies, dass auch das
Er le benkönnen von Gegenwart und Zukunft und deren innerer
Verbindung zusammenbricht. (S. 107)
Das Warten ist gerade durch diesen Zusammenbruch gekennzeichnet. An
dieser Stelle ist es nicht so wichtig, ob wir sie als eine valide Aussage über das reale,
frühkindliche Erleben begreifen, es scheint mir aber einsichtig zu sein, dass das
Zeiterleben an die Fähigkeit geknüpft ist, ein abwesendes Objekt zu denken und zu
erinnern. Ergänzend möchte ich hinzufügen, dass dieses Objekt offenbar nicht nur
herbeigesehnt, sondern auch gefürchtet werden kann: Die Valenz der Besetzung
tut also nicht unbedingt etwas zur Sache.
Das lange Warten … 111
Seidl (2009, S. 111) verknüpft die Unfähigkeit, das innere Bild des verlore nen
Objekts aufrechtzuerhalten, vor allem mit der «Zeitpathologie» der Depres sion.
Das spe
zifische Zeitempfinden in der Depression bzw. in der Melan cholie – be stimmt
vom Eindruck leerer Dauer, von Zeitlosigkeit und unbestimmtem Warten – wur -
de sowohl in der psychoanalytischen als auch in der psychologischen Literatur
im mer wieder beschrieben (vgl. Verhaeghe, 2004, S. 172; Rottenberg, 2014, S. 300 f.;
Zimbardo & Boyd, 2008, S. 184; Wittmann, 2015, S. 92 ff.; Küchenhoff, 2019, S. 21 ff.).
Wir verfallen diesem Warten demnach vor allem in Zuständen der Hoff-
nungslosigkeit, dann also, wenn sich die Vorstellungsinhalte von den Vor stel lungs-
zielen abgelöst haben und nur noch die Hülle des ursprünglich E\
rhofften übrig-
bleibt. Wie Plügge (1950, S. 326) schreibt, erfüllt das Ziel, wenn wir uns in existenti -
ellen Wartesituationen befinden, nicht das gegenwärtige Leben, sondern ent wertet
es, da es nur noch als absoluter Mangel wahrnehmbar ist. Plügge (1950, S. 333)
erklärt sich so auch die Ausweglosigkeit und Antriebslosigkeit der Wartenden damit,
das sich bei ihnen das «Etwas-Sich-Vorstellen» – die Mentalisierungsfähigkeit –
nicht durchzusetzen vermag: Die Vorstellung dient allenfalls noch als Abwehr gegen
die Leere, die andernfalls um sich greift und die Wartenden zu verschlucken droht:
Eine Angst vor dem Zusammenbruch, vor der Ich-Auflösung. Vielleicht führt der
unmittelbare Sog dieser Leere in manchen Fällen auch dazu, dass es nötig wird,
diese nach aussen zu projizieren, um zumindest eine minimale Distanz zu dem
Gefühl des Verschlucktwerdens zu gewinnen. Auf jeden Fall scheint das Warten mit Wünschen oder Befürchtungen
verknüpft zu sein, die als negative Existenz oder Nicht-Beziehung fortbestehen,
ohne mit Vorstellungsinhalten oder Gedanken erfüllt werden zu können. Etwas
bleibt zurück wie der Kopfabdruck auf einem Kissen. So werden zumindest drei
Möglichkeiten denkbar:
1. Wir dürfen oder wollen uns kein Bild davon machen, wie die Befriedigung
unserer Wünsche aussehen könnte. Die Ursache für unser Warten liegt dann
möglicherweise in einer Art von Bilderverbot begründet.
2. Wir vermögen es nicht, überhaupt einen Wunsch hervorzubringen und damit
psychisches Erleben in Gang zu bringen, weil der Apparat im Bion’ schen
Sinne (1963, S. 432 ff.) dazu nur unzureichend ausgeprägt oder gestört ist.
3. Das psychische Erleben selbst wird als ein Zuviel oder als unbearbeitbar
wahrgenommen, so dass das Warten eine Flucht vor dem psychischen
Er leben oder Erleiden darstellt, so ähnlich wie ein elektronisches Gerät,
das sich bei Überhitzung auf Standby stellt. Ein Vorgang, der Winnicotts
112 Nikolaus Lehner
Über legungen zum Zusammenbruch widerspiegelt, da das existentielle
Warten in diesem Fall zugleich als Abwehr gegen einen Zusammenbruch
dient, zugleich aber der real erfolgte Zusammenbruch ist.
Für die letzteren beiden Fälle ist es bemerkenswert, dass der Wartende wie
der Melancholiker durch seine Weltentrücktheit auffällt. Denn es ist nicht unbe-
dingt so, dass die Welt für den Wartenden zu existieren aufhört: Es ist ja alles da,
Vogelgesang vor dem Fenster, Freundschaften, Musik und Kaffeehäuser, aber all
das ist nichts. Was die Wartenden von ihren Mitmenschen unterscheidet, ist ihre
Anhedonie, ihre Freudlosigkeit am Aktuellen, Verfügbaren. Im Warten zieht sich
der Affekt von der Welt zurück. Alle Bestrebungen und Anhaftungen verschwin-
den, allein der Eindruck der Dauer, der langen Weile, ist stark genug, um wirklich
zu fesseln.
Dissoziation, Unlebendigkeit und Anhedonie
Diese Anhedonie steht mit einer doppelten Dissoziation in Zusammenhang:
Die Wartenden sind von der Welt und den anderen, aber auch von sich selbst
dissoziiert. Das Warten zeigt sich vor allem im Unvermögen, eine bedeutsame
Verbindung einzugehen. Es ist das Unvermögen, Libido an die Dinge zu heften, die
verfügbar oder potenziell erreichbar sind. Die Libido gilt nur dem, was nicht ist.
Das, was nicht ist, ist jedoch mit dem zunehmenden Vergehen der Zeit ein unsi-
cheres, allenfalls schemenhaft erfasstes Objekt, dessen permanentes Verschwinden
das Begehren versickern lässt. Dies wiederum hat die Entbindung der Libido vom
Selbst zur Folge: So berichtet der jungianische Analytiker Phil Goss
(2006, S. 687)
von einem Patienten, der auf die ungewisse Rückkehr seines Geliebten aus Übersee
wartete, dabei aber vor allem damit haderte, sich selbst präsent und lebendig zu
fühlen. Diese Unlebendigkeit bestimmt den Wartenden ganz. Für den Wartenden
gibt es deshalb auch keine Ablenkung, kein Rezept, ihn von seinem Warten abzu-
bringen. Goss (2006, S. 692) schlägt vor, eine Prädisposition für derartige Zustände
auf Isolationserfahrungen und wenig ausgeprägte Resonanzerfahrungen in der
Kindheit und Jugend zurückzuführen: Aufgrund dieser Erfahrungen werde die
Selbstwerdung auf ein unbestimmtes Später verschoben. Ob diese lebensge-
schichtliche Herleitung nun zutrifft oder nicht, sicher ist, dass das existentielle
Warten eine Desubjektivierung nach sich zieht: Ich gehe, aber ich gehe auf nichts
zu. Ich bewege mich, aber die Bewegung ist bedeutungslos. Ich spreche, aber ich
bin sprachlos. Ich sage ich, aber ich bin niemand. So oder so ähnlich könnte die
Litanei des Wartenden lauten.
Das lange Warten … 113
Wenn ich sage: «Ich passe», verwende ich damit eine österreichische
Be
zeich nung für das Warten. Aber «passen», das bedeutet nicht nur zu warten,
son dern auch, sich nicht mehr auszukennen. Man sagt: «Ich passe», wenn man
kei ne Antwort hat, wenn man nicht mehr weiss, was der Fall ist und wie es weiter -
gehen soll, welche Entscheidung zu treffen wäre, wo die eigenen Möglichkeiten und
Grenzen liegen. Deshalb gibt es auch kein Gefühl des Wartenden für das Vergehen
der Zeit. Denn es ist das Selbst, das die Zeit organisiert: Wenn kein Selbstgefühl
vorhanden ist, das Ich also nicht narzisstisch besetzt wird, steht die Zeit still (vgl.
Goldberg, 1971, S. 414). Die narzisstische Besetzung des Selbst geht mit der mehr
oder weniger expliziten Phantasie einher, eine gewisse Kontrolle über die Zukunft
zu haben (Goldberg, 1971, S. 415.) Wenn diese Besetzung verloren geht, finden wir
uns mit dem überwältigenden Gefühl der Ausweglosigkeit wieder. Diese doppelte
Dissoziation, die Entkopplung der Libido vom Selbst als auch von den Objekten,
führt zu einem affekt-, zeit- und ziellosen Lebensgefühl, wie es besonders ein-
drücklich von Siegfried Kracauer (1977) beschrieben wurde:
Da diesen Menschen Haft und Grund fehlt, treibt ihr Geist steuerlos
dahin, überall und nirgends zu Hause. Als Vereinzelte durchqueren
sie die unendliche Mannigfaltigkeit geistiger Phänomene, die Welt
der Geschichte, der seelischen Ereignisse, des religiösen Lebens,
vor nichts mehr Halt machend, gleich nahe und gleich fern sämt-
lichen Gegebenheiten. Gleich nahe: denn sie versenken sich mit
Leichtigkeit in jede Wesenheit, weil kein Glaube mehr ihren Geist
fesselt und ihn derart hindert, irgendeiner beliebigen Erscheinung
sich auf beliebige Weise einzuverleiben. Gleich fern: denn niemals
gilt ihnen eine Erkenntnis als die letzte, niemals also sind sie so tief
in eine Wesenheit gedrungen, daβ sie in ihre Tiefe dauernd eingehen
und gleichsam nicht mehr aus ihr heraus gelangen können. (S. 108)
Wenn wir in diesen Zustand fallen, erfahren wir sozusagen eine «uner -
trägliche Leichtigkeit des Seins» (Kundera, 2005), die sich als eine allumfassende
Beliebigkeit sowie als die Unfähigkeit entpuppt, sich einer Sache zu widmen.
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Dauert dieser Zustand zu lange an, endet er in Unlebendigkeit, in einer Art des
Totseins. Mit André Green (2004, S. 24) gesprochen versinken wir dann in nega-
tiver Halluzination, einem Zustand, in dem es keine Dialektik zwischen Lust und
Unlust, zwischen Positivem und Negativen mehr gibt, sondern nur noch «das
Neutrum». Wir geraten also in einen Zustand, in dem keine affektiven Besetzungen,
114 Nikolaus Lehner
keine lebendigen Erfahrungen mehr möglich sind (vgl. Green, 2005 [1972], S. 275).
Deshalb vermögen wir es im Zustand des existentiellen Wartens nicht länger,
gegenwärtige Ereignisse als Erfahrungen in unser Leben zu integrieren, und das
heisst letztlich: unser Leben zu leben. Dabei gibt es heute viele Möglichkeiten, die eigene psychische Unle ben-
digkeit, unsere «pockets of deadness» (Eigen, 2004, S. 3) nicht zu bemerken. Es
ist ein Leichtes, das Leben im Standby-Modus vor sich selbst und vor anderen zu
kaschieren, denn wir leben auch in einer Just-in-time-Gesellschaft, die jede Menge
Ablenkung bietet. Wer wartet, ist im Grunde schon immer suspekt – legitim ist
allein die Zurschaustellung von Dringlichkeit und Aktivität. Das Warten ist auch ein Ärgernis, das mit allen Mitteln bekämpft oder ver -
tuscht werden muss. Eine Möglichkeit dazu ist die Flucht in die Obsession: Wir
können versuchen, das Warten und die damit einhergehende Leere zu leugnen,
indem wir uns in das Tun flüchten. Dabei ist es nebensächlich, worin die Aktivität
besteht: Wichtig ist nur, dass wir einen Augenblick glauben können, dass die Leere
durch sie verschwinden könnte. Wir stellen dann zum Beispiel Pseudo-Ereignisse
her, die uns nicht betreffen. Im Grassieren der Fear of Missing Out zeigt sich so
mitunter auch die Angst davor, das Warten nicht auf Distanz halten zu können.
Wir lenken uns ab, um das Warten zu vergessen. Wir sind, mit Siegfried Kracauer
(1977, S. 114 f.) gesprochen, «Kurzschluss-Menschen», die alles daransetzen, «nicht
zurückzufallen in die Leere» des Wartens. Die Ablenkung ist ein gescheiterter Versuch, einen Übergang einzuleiten,
ein Verhältnis zur eigenen Zeitlichkeit zu finden. Die Zerstreuung ist nach Pascal
(2007, S. 98) ein Mittel, um sich vom Wesentlichen abzuwenden, von dem also,
auf das es wert sein könnte, zu schauen. Im Mittelhochdeutschen hiess «warten»
genau das: Auf etwas achtgeben. Warten, das kann vielleicht auch bedeuten, auf
seinen eigenen Mangel achtzugeben. Dieses «Auf etwas achtgeben» verlangt nach
etwas anderem als Ablenkung, aber auch nach etwas anderem als Geduld. Denn die
Geduld schwingt schnell in devote Duldsamkeit um. Sie hängt an einer erträum-
ten Zukunft: Einmal wird alles anders, deshalb können wir noch ausharren. Die
Tagträume dienen als Ersatz für die Gegenwart: Als ein solcher Ersatz können sie
sich durch das ganze Leben ziehen, zu einer Gewohnheit werden. Phil Goss (2006,
S. 688) hat diese Gewohnheit deshalb auch als Pathologie der Geduld bezeichnet.
Warten als Abwehr
Ablenkung und Zerstreuung dienen als Abwehr gegen das Warten. Zugleich
kann das Warten selbst eine Abwehr sein: Dann tendiert es dazu, die eigentliche
Das lange Warten … 115
Ablenkung zu werden. Indem wir warten, können wir uns der Welt entziehen:
Die Ereignisse ziehen sternschnuppenartig an uns vorbei und verglühen, ohne
Spuren zu hinterlassen. So hat Leon Altmann (1957, S. 513) darauf hingewiesen,
dass das Warten dazu genutzt werden kann, die Vorwegnahme des Scheiterns
auszuhebeln. Unsere Passivität wird dann zu einem Werkzeug, das darauf abzielt,
Enttäuschungen zu vermeiden. Wie Adam Philips (2013, S. 160) schreibt, ist
Desillusionierung tragisch, aber die wirkliche Tragödie ist die Vermeidung von
Desillusionierung. Trotzdem sind diese vermeidenden Wartenden überall anzu-
treffen: Der Student, der aus Unzufriedenheit die Abgabe seiner Abschlussarbeit
immer weiter hinauszögert, bis auch die letztmögliche Frist verstrichen ist, die
unglücklichen Eheleute, die sich in Phantasiewelten retten, der Arbeitslose, der
sich keine Bewerbung mehr zutraut. Dabei drückt sich in diesem Warten auch eine
narzisstische Abwehr aus, geht diese doch mit der Neutralisierung des Objekts
einher, mit der Strategie also, die (unmögliche) Wunscherfüllung und damit den
Mangel auszuhebeln (Green, 2004. S. 23.). In diesem Sinne kann das Warten auch
als Instrument gegen etwas dienen, von dem wir das Gefühl haben, es zu sehr zu
begehren oder zu fürchten, so sehr, dass es bedrohlich für unsere eigene Existenz
werden könnte. Diese Gefahr des Wartens kommt vielleicht auch in Roland Barthes
(1986) Geschichte vom Mandarin und der Kurtisane zum Ausdruck:
Ein Mandarin war in Liebe zu einer Kurtisane entbrannt: Ich werde
Euch angehören, sagte sie, wenn Ihr in meinem Garten, unter mei-
nem Fenster, auf einem Schemel sitzend, hundert Nächte meiner
harrend verbracht habt. Aber in der neunundneunzigsten Nacht
erhob sich der Mandarin, nahm seinen Schemel unter den Arm
und machte sich davon. (S. 100)
Doch die Geschichte des wartenden Mandarins weist auch darauf hin, dass
sich unsere Präferenzen zu ändern vermögen. Wer lange gewartet hat, ist wäh-
renddessen unweigerlich zu einem anderen geworden. Die Konzentration auf
das Warten, die Identifikation mit der Dauer lässt übersehen, dass der Wartende
inzwischen verschwunden ist, während das Warten fortdauert. Das hat auch
Konsequenzen für das Warten, an dessen Ende eine Erfüllung steht: Denn so ist
es denkbar, dass nicht mein Warten in Erfüllung gegangen ist, sondern das Warten
eines anderen, der ich schon nicht mehr bin. Gloria Burgess Levin (2012, S. 19) verweist wiederum auf den Umstand, dass
wir das Warten auch zur Vermeidung der Realzeit gebrauchen können; insbeson-
116 Nikolaus Lehner
dere dann, wenn wir es nicht vermögen, mit unserer Lebensrealität oder unserem
emotionalen Erleben umzugehen. Das Warten verkommt so zum Bollwerk gegen
die Zeit und gegen nicht-integrierbare Gefühle. In diesem Sinn kann das existen-
tielle Warten auch als Angriff gegen das psychische Geschehen selbst gewertet
werden: In der Totenstarre psychischer Regungslosigkeit zu versinken ist manchmal
immer noch erträglicher, als sich selbst spüren zu müssen. Der Standby-Modus
ist in diesem Sinn vor allem ein Schutz gegen eine potentiell überwältigende
Überreizung. Zugleich wäre es falsch, das Warten nur als defizitäre oder pathologische
Abwehr zu betrachten. Dazu passt es, dass sowohl die Phantasie als auch der Re alitäts-
sinn aus Sicht der Psychoanalyse aus dem Warten geboren werden. Das hung rige
Kleinkind phantasiert von der sättigenden, mütterlichen Brust. Doch das Kleinkind
gewinnt mit den Wartephasen zwischen den Stillzeiten auch die Phantasie einer
Befriedigung: den Traum des Gestilltwerdens. Ausserdem gewinnt es ein Wissen um
die Abwesenheit der sofortigen Befriedigung. Damit durchlebt es eine Erfahrung
von Kontrollverlust und Abhängigkeit. Doch wenn die Mutter das Kind nicht zu
lange auf das Stillen warten lässt, entsteht auch Vertrauen (Phillips 2013,
S. 166 f.).
Es gibt keine Befriedigung ohne diese Ouvertüre der Frustration, ohne eine Dis kre-
panz zwischen Erwartung und Erfüllung (Phillips 2013, S. 167). Folglich gibt es aus
psy cho analytischer Perspektive weder Begehren noch Denken noch Befriedigung
ohne die Erfahrung des Wartens. Psychoanalytiker wie André Green (2005) haben deshalb überlegt, ob es
optimale Wartezeiten geben könnte, um den Hunger des Babys zu stillen. Wenn die
Mutter sofort auf die ersten Anzeichen von Hunger reagieren oder gar den Hunger
antizipieren würde, entzöge sie dem Kleinen die Möglichkeit, seine Phantasie
und seinen Wirklichkeitssinn zu entwickeln. Wenn die Mutter andererseits gar
nicht auf die Ansprüche des Babys reagierte, erführe das Kind eine traumati-
sche Desintegration. Green (2005, S. 15) schliesst daraus, in Rekurs auf Donald
Winnicotts Diktum der ausreichend guten Mutter: «The good enough mother is
also the bad enough mother». Dabei fällt auf, dass sich sowohl das Kind als auch
der in analytischer Therapie befindliche Patient im Warten eines anderen vorfindet
und wiederfindet. Die Frage ist also: Unter welchen Umständen findet das Warten
nicht nur Stillstand oder Tod, wo wird es zum Schlüssel für mehr Lebendigkeit?
Im Warten des anderen aufgehoben sein
Das Wort Patient geht auf das lateinische patiens, erdulden, zurück. Der
Pa tient ist der Erduldende. Das Wort Patient verweist also auf eine spezielle Be -
Das lange Warten … 117
ziehung zur Zeit. Der Patient erleidet die Zeit oder leidet an der Zeit. Der Patient
wartet. Der therapeutische Raum entfaltet ein eigenartiges Wechselspiel des War -
tens und Wartenlassens. Dabei macht es schon im Alltag einen grossen Un ter-
schied, ob man derjenige ist, der wartet, oder derjenige, der warten lässt. Wenn wir
jemanden auf uns warten lassen, nehmen wir eine Haltung ein, die sich als passiv
bezeichnen liesse. Aber das Wartenlassen fühlt sich nicht passiv an. Es handelt sich
um keine spiegelbildliche Entsprechung des Wartens. Wer warten lässt, zeigt damit
seine Nicht-Bezogenheit und damit seine Unangewiesenheit auf den anderen.
Allenfalls behauptet derjenige, der warten lässt, seine Souveränität auf Kosten des
Gegenübers. Es handelt sich um eine Abwertung, die letzten Endes strukturell ist,
da sie dem sozialen Verhältnis als solchem zugrunde liegt. Bestimmte Gesten und soziale Praktiken versuchen, die in diesem Verhält-
nis angelegte Ungleichheit zu lindern. Wer beispielsweise sagt: ‹Bitte nach Ihnen›,
setzt sich selbst in die Position des Wartenden. Das Warten wird durch diesen
Akt umrahmt. Es handelt sich um eine Geste, die durch die selbstgewählte Pas-
sivität, die sie uns auferlegt, die Aktivität des anderen ermöglicht. Diese Form
von Passivität lässt den anderen sein und gibt ihm Raum. Freundlichkeit (und in
eingeschränkter Form Höflichkeit als soziale Institutionalisierung freundlichen
Verhaltens) besteht vor allem darin, dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben,
in Erscheinung zu treten. Das Warten setzt sich als Akt des So-sein-lassens daher
immer in Beziehung zu einem Gegenüber. Es handelt sich um eine Grenzform
des Wartens, die sowohl souveräne Passivität als auch eine aufeinander gerichtete
Beziehung umfasst. Mir scheint, dass diese Form der Passivität viele alltägliche
Wartesituationen erträglicher macht: Wer beispielsweise seinem Nächsten an der
Supermarktkasse den Vortritt lässt, gibt dem eigenen Warten einen Sinn, den es
vorher noch nicht hatte. Dies führt schliesslich auch zur Frage, ob und wie das
Warten durch Gemeinschaften abgedämpft werden kann. In Gemeinschaften ist
das Warten typischerweise ein in Übergangsphasen auftretendes Phänomen, das
räumliche und biografische Schwellen markiert. Seit jeher wird das Warten daher
auch ritualisiert, um die instabile oder ungewisse Identität, die in Übergangspha-
sen angenommen wird, zu begleiten und vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Der Ethnologe und Ritualforscher Victor Turner (2005 [1969], S. 94) beschrieb
Über gangsriten in drei Phasen: Die erste Phase ist eine Phase der Trennung. Das
Individuum wird von der sozialen Einbindung in eine Gruppe gelöst. Die zweite
Phase ist die Schwellenphase: Das «rituelle Subjekt» befindet sich in einem Bereich,
der keine oder nur sehr wenige Merkmale mit der vergangenen oder zukünftigen
Subjektivität teilt. In der dritten Phase ist der Übergang bereits vollzogen: Das
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Individuum wird wieder in klare soziale Kontexte eingegliedert. Es gewinnt neue
Freiheiten und Pflichten. Sowohl der Schwellenzustand, als auch die Individuen,
die sich in diesem befinden, rutschen durch «[...] das Netz der Klassifikationen, die
normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren [...] Schwel-
lenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere.»
( Turner 2005 [1969], S. 94). Die Soziologin Lahad Kinneret (2012, S. 182) führt die kollektive Ri tu a-
li sie rung des Wartens am Beispiel des in Israel bei Hochzeiten üblichen Glück-
wunsches «Bekarov Ezlech» aus. Der Wunsch gilt den noch ledigen, weiblichen
Hoch zeitsbesuchern und bedeutet in etwa «bald bei euch». Das individuelle War ten
der Single-Frauen wird in ein kollektives Warten eingefasst: Wir wünschen uns,
dass wir auch bei euch bald eine Hochzeit feiern können (Kinneret, 2012, S. 182).
Zugleich ist der Segen eine Disziplinarmassnahme, da er die Frauen daran erinnert,
noch nicht in dem von der Gemeinschaft erwarteten Lebensabschnitt angekom-
men zu sein (Kinneret, 2012, S. 182). Das ritualisierte Warten bietet aus dieser
Perspektive eine Einbettung des Wartenden in die Gemeinschaft. Der Wartende
fällt nicht ganz aus der Gemeinschaft heraus. Die Gemeinschaft solidarisiert sich
mit dem Wartenden. Doch das geschieht zum Preis der Disziplinierung. Das ritu-
alisierte Warten wird zu einem geschlossenen Warten, es gerinnt zur aussenbe-
stimmten Erwartung und gerät ins Stocken. Das Ritual ist also immer auch eine
problematische Lösung. Während das Warten im besten Fall dazu führt, einen
Raum zu eröffnen, geht es der rituellen Gemeinschaft darum, diesen Raum zu
kapern und für sich zu beanspruchen. Das rituelle Warten droht also, zu einem
enteigneten Warten zu werden: Und was bleibt übrig, wenn einem nicht einmal
mehr das eigene Warten gehört? Psychoanalytisch orientierte und psychodynamische Therapieansätze ver -
folgen eine andere Strategie: Die Patienten lassen sich auf einen langandauern-
den Prozess mit offenem Ausgang ein. Sowohl die Patienten als auch die Thera-
peuten sind in diesem Prozess Wartende. Wie Nancy McWilliams (2004, S. 73)
schreibt, wissen die Therapeuten aber aus eigener als auch auf Basis vergangener
Therapieerfahrungen, dass dieser Prozess wirksam sein kann. Nancy McWilliams
spricht diesbezüglich von einem erwartungsvollem Warten, das sie mit der zeitli-
chen Gerichtetheit der Quäker vergleicht: Ein Warten, das an der Möglichkeit von
Offenbarungen festhält, die eine Seinsverschiebung bewirken könnten (McWil-
liams, 2004, S. 73). Doch Offenbarungen können nicht erzwungen werden (vgl.
auch: Webster, 2016, S. 248 ff.). In gewisser Weise haben und teilen wir nichts, ausser
dieses Warten: Wir warten auf jemanden, der auf seine eigene Ankunft wartet.
((Bitte ebd.
auflösen)))
((Bitte ebd.
auflösen)))
((Bitte ebd.
auflösen)))
Das lange Warten … 119
Vielleicht geht es letzten Endes also darum, im Warten des anderen aufgehoben
zu sein. Auf die eigene Ankunft warten
Wenn wir auf unsere eigene Ankunft warten, heisst das, dass das Warten der
Existenz vorausgeht. Wer das Warten akzeptiert, akzeptiert damit einen Raum, der
ihn nicht (noch nicht, nicht mehr, niemals) als Subjekt beinhaltet: «the waiting situ-
ation [...] allows the recognition of a space which does not contain me» (Faimberg,
1989, S. 105). Und er akzeptiert damit Wünsche sowie Quellen der Befriedigung, die
noch nicht bekannt sind, sowie Gedanken, die noch nicht gedacht werden konnten
(vgl. Bion, 1992). Zugleich sind wir im Zustand existentiellen Wartens zumeist weit
davon entfernt, das Gefühl zu haben, neue Ideen oder Gedanken hervorbringen zu
können. Vielmehr fühlen wir uns in einer endlosen Wiederholungsschleife gefangen,
in der Wiederkehr des Gleichen, in schaler Alltagstristesse. Doch wie Gilles Deleuze
schreibt, macht die Wiederholung etwas mit uns: «Die Wiederholung ändert nichts
am sich wiederholenden Objekt, sie ändert aber etwas im Geist, der sie betrachtet»
(Deleuze 1992, S. 98). Als Betrachter vermögen wir es mithilfe der Vorstellungskraft,
der Wiederholung eine Differenz abzuluchsen (Deleuze, 1992, S. 106). Die therapeutische Situation stellt im besten Fall eine Chance her, Dif fe-
renzen in der Wiederholung wahrzunehmen und damit dazu beizutragen, dass
es zu einer Verschiebung des subjektiven Seins kommen kann. Deshalb kann die
Psychoanalytikerin Haydée Faimberg (1989, S. 103) schreiben, dass das Warten
auch das Unerwartete beinhaltet: Demnach warten wir in der Wiederholung auf
ein unerwartetes Ereignis: “We expect in repetition the unexpected event which
surprises us as a going beyond of what had long been expected”. Der Wartende
fällt immer wieder auf sich selbst zurück. Aber dieses auf sich selbst Zurückfallen
voll zieht sich immer wieder anders. Gerade in der Wucht des auf sich selbst
Zu rückfallens entfalten sich die infinitesimalen Differenzen, die nötig sind, um
die eigene Veränderung voranzubringen. Dies vor allem, wenn die Wiederholung
als solche erfahren wird. Die Unbestimmtheit und Nicht-Positionalität des War -
tenden führt so zur Suche nach neuen Abzweigungen, zum Abfallen vom Alten,
Immer-Gleichen, zum kreativen Phantasieren, zum Aufsteigen neuer Wünsche oder
Ängste. Der Wartende verfällt in Reverien, wird zum Träumenden. Es ist diese Kraft
der Wiederholung, die letzten Endes auch zur Eingebung führt, denn es ist gerade
der Eindruck des Immer-Gleichen, der den Blick für das schärft, was eben nicht
gleich ist, oder, wie schon Simone Weil bemerkte: «Das Warten ist die Grundlage
des geistigen Lebens» ( Weil, 2017 [1950], S. 73).
120 Nikolaus Lehner
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Anmerkung
1 In Kunderas Roman flüchtet ein politisch engagiertes Paar aus dem Ostblock in den
Westen. Die weibliche Protagonistin erlebt das Leben im Westens als unerträglich leicht,
zuvor hatte ihr Leben einen Sinn, den Widerstand, im Westen bricht das weg: das Leben
ist frei, alles kann gedacht, gesagt, gemacht werden. Sie gerät in einen unüberwindbaren
Limbus und wird zu einer paradigmatischen Wartenden (sie hat eine Grenze überwunden,
die nirgendwo hinführt und verbleibt gefangen in einem gesperrten Übergang).
Angaben zum Autor
Nikolaus Lehner ist psychoanalytisch orientierter Psychotherapeut in
Ausbildung unter Su per vision in eigener Praxis. Studium der Politikwissenschaft
und Soziologie an der Universitat Wien. 2017 Promotion im Fach Soziologie. Seit
2014 Lektor am In stitut für Soziologie in Wien sowie zwischen 2017 und 2019
am Institut für So
ziologie in Innsbruck. Veröffentlichungen zu Kulturtheorie,
Mediensoziologie und Psychoanalyse. Mail:
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