Schwerpunkt

Corona – Kampf zwischen äusseren und inneren Realitäten

Im Zentrum der Betrachtung von Innen und Aussen steht hier der Begriff des Spiels, das als Ausdruck der Phantasie ein Zwischenreich, den intermediären Raum schafft, in dem innere und äussere Realität zusammenfliessen. Die Fähigkeit dazu wird (früh erworben) als entscheidend angesehen, wenn es darum geht, widerstreitende, auch extrem kontroverse Positionen und Entwicklungen individuell und gesellschaftlich auszuhalten bzw. auch in positive Bewältigung münden zu lassen. Die Corona-Pandemie dient dabei als Agens wie als Reagens, indem sich daran exemplarisch zeigt, welche Stufen von Entwicklungen und Fehlentwicklungen beim Einzelnen und in einer scheinbar saturierten Gesellschaft erreicht werden können. Das Spektrum reicht von vorübergehend solidarischem Wohlfühlen im Verzicht bis zur pathologischen Hysterie in Frustrationsintoleranz und verletzten Omnipotenzphantasien, die sich in Protest, Wut, Hass entlädt. In jedem Falle handelt es sich um den Verlust des intermediären Raums, der Fähigkeit zum Spiel.

Am 14. Dezember 2020 sorgte Maria van Kerkhove im Rahmen einer Pressekonferenz für die gute Nachricht des «C-Jahres»: Sie liess im Namen der WHO mitteilen, dass der Weihnachtsmann erstens gegen Corona immun sei und zweitens, folgerichtig, viele Regierungschefs die Reisebeschränkungen für den Weihnachtsmann aufgehoben hätten, dieser also unbeeinträchtigt durch den Luftraum ein und ausreisen könne. Sie wies allerdings auch auf die Wichtigkeit für alle Kinder hin, das Abstandsgebot zu befolgen, auf ihre Mütter und Väter zu hören und am Weihnachtsabend früh zu Bett zu gehen! Das alles sagte sie vor der imponierenden WHO-Kulisse in ernster Diktion.

Ich hatte mich über die Nachricht gefreut, jedenfalls hatte ich sofort ein Lächeln im Gesicht. Diese Art der Freude kannte ich schon aus dem Medizinstudium, als herumging, dass in dem medizinischen Wörterbuch, dem Pschyrembel, einem Ausbund an seriöser Wissenschaftlichkeit, die «Steinlaus» (Petrophagalorioti), gar mit Bild, Eingang gefunden hatte; ein sogenannter Nihil artikel. Was freut einen so daran? Mir scheint, es ist das Spiel, der Einbruch der Phantasie in die Wirklichkeit, sodass ein Zwischenreich entsteht, oder, um es mit Winnicott zu sagen: «ein intermediärer Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äusseres Leben einfliessen» (1997a, S. 11).

Bei Winnicott heisst es, das Spiel sei «in Wahrheit weder eine Sache der inneren, psychischen Realität, noch eine Sache der äusseren Realität» (1997a, S. 112). Daraus ergibt sich auch für Winnicott die Frage, wohin das Spiel denn nun gehört. Es scheint auf jeden Fall so etwas wie die Keimzelle kulturellen Erlebens zu sein, eine Art Zwischenraum oder Zwischenreich zwischen Individuum und Umwelt (1997a. S. 112), ein Übergangsphänomen. Die Fähigkeit des Erwachsenen, einen solchen Raum zu schaffen oder zu betreten, nimmt ihren Anfang in der frühen Beziehung zwischen Mutter und Kind, in der Winnicott einen «potentiellen Raum» (1997a, S. 65) verortet. Das Spiel beginnt sich zu entwickeln, wenn das Kind die Mutter als ein Objekt, als ein Nicht-Ich (1997a, S. 65) wahrzunehmen beginnt und den entstehenden Raum der Trennung mit Spiel zu füllen sucht. Das Spiel ist also ein intermediärer Raum, ein Raum dazwischen, zwischen innerer und äusserer Realität in dem sich beide Realitäten aufeinander beziehen.

Ist die Botschaft der WHO nun wahr oder nicht? Diese Frage lässt sich weder beantworten noch stellt sie sich. Die Botschaft bildet einen Übergangsraum. Für denjenigen, für den der Weihnachtsmann auf der inneren psychischen Bühne existent ist, ist auch die Botschaft der WHO wahr. Für denjenigen, aus dessen Innenwelt der Weihnachtsmann definitiv ausgezogen ist, spielt die Aussage schlicht keine Rolle. Ein kreativer Akt der WHO.

Die COVID-19-Pandemie hat uns in erheblicher Weise mit den unterschiedlichsten Realitäten und dem jeweiligen Umgang mit ihnen konfrontiert. Die Pandemie erzeugte neue, unheimliche und massive neue äussere und innere Realitäten.

Versuchen wir uns zu erinnern: Am 31. Dezember 2019 meldeten die chinesischen Behörden erste COVID-19-Fälle an die WHO, am 27. Januar 2020 gibt es den ersten Fall in Bayern (Kreis Starnberg), wo sich ein Mitarbeiter von Webasto bei einer chinesischen Kollegin angesteckt hat. Am 30. Januar erklärt die WHO eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite. Am 15. Februar wird der erste Todesfall in Europa aus Frankreich gemeldet. Am 23. Februar riegelt das schwer betroffene Italien die nördlichen Städte ab, am 27. und 28. Februar tagt der Krisenstab der Bundesrepublik das erste Mal. Am 2. März gibt es Fälle in 60 Ländern, die WHO zählt bereits 3000 Todesopfer. Am 3. März beginnen in Hamburg die Skiferien und man fährt fleissig nach Österreich und Italien. Am 11. März stuft die WHO die Lage als Pandemie ein, am 16. März kommt es in Deutschland zum sogenannten «Lockdown».

Am 31. März 2020 melden die Behörden für Deutschland 67 000 Infektionen und 680 Tote, am 3. Januar 2021 1 773 540 Infektionen und 34 480 Todesfälle! Eine schlimme, eine traurige, eine beissende Realität.

Sicher erinnern Sie sich auch, wie Sie die Anfänge der Pandemie wahrgenommen haben. Die erste – fast kollektive – Reaktion war Leugnung.

Das Ganze schien doch zunächst einmal «weit weg» zu sein, sich «irgendwo in China» abzuspielen. Wuhan? Wo liegt das? Die ersten «Emojis» mit Mundschutz kursierten. Ha Ha. Viele von uns haben sich anfangs damit «getröstet», alles sei viel leicht nicht schlimmer als die übliche Influenza­-Welle. Die Einschläge kamen näher, aber so richtig beunruhigt waren viele Menschen hier noch nicht. Die Leugnung dürfte auch die Regierung ergriffen haben, denn es gab keinerlei Reisebeschränkungen, auch nicht für China und, wie wir im Nachhinein sehen konnten, auch nur äusserst rudimentäre Vorbereitungen, was dringend notwendiges Material wie Masken und Desinfektionsmittel anging.

Leugnung gehört zu den frühen Abwehrmechanismen: Dabei wird die emotionale Relevanz, die eine bestimmte reale Situation hat, gewissermassen herausgekürzt; man weiss um eine Gefahr, tut aber gleichzeitig so, als sei sie nicht vorhanden (fährt beispielsweise in Skigebiete, die bereits vom Ausbruch der Erkrankung betroffen sind).

Leugnung kann auch eine Art «gesunder Filtermechanismus» sein, der allzu Bedrohliches der äusseren Realität «wegfiltert» und diese Inhalte nicht in die innere Realität vordringen lässt. Gesund ist das, weil es uns ein Leben inmitten von Gefahren ermöglicht. Würden wir uns in jeder Sekunde der Todesgefahren bewusst sein, denen wir ausgesetzt sind, der nur minimalen Kontrolle, die wir über unser Leben haben, dann wäre das Leben womöglich kaum auszuhalten.

So kann man sich den Abwehrmechanismus des Leugnens besser als ein Kontinuum vorstellen, als gäbe es eine Art Regler, mit dem die Wahrnehmungssensitivität der äusseren Realität eingestellt werden kann, gewissermassen von der Maximaleinstellung: sehr viele Gefahren leugnen und sich ggf. überschätzen – hin zur Minimaleinstellung: sehr wenig leugnen und ggf. viel, zu viel Angst aushalten müssen.

Der Mechanismus der Leugnung bietet sich vor allem dann an, wenn man das Gefühl hat, ausgeliefert zu sein, keine Kontrolle zu haben. Eine der grossen Kränkungen durch die Pandemie ist, dass das Ausmass unseres Kontrollverlustes in der Welt sich mit grosser Macht in die äussere Realität gedrängt hat. Unsere spontane Reaktion: «Das kann doch nicht wahr sein!»

Dringt aber die äussere Realität mehr und mehr ein, dann versucht der Mensch, sein Sicherheitsgefühl zu verbessern, meistens indem er irgendwie aktiv wird, um sich seiner Selbstwirksamkeit weiterhin zu versichern. Ich kann zum Beispiel einkaufen gehen und Vorräte anlegen.

Interessanterweise wurden bereits in der letzten Februarwoche 2020 erste Absatzsteigerungen für Mehl, Seife und Nudeln (die Absatzzahlen verdoppelten sich) bemerkt, die Nachfrage für Desinfektionsmittel stieg auf das Siebenfache, eine Woche später auf das Achtfache des üblichen Wertes.

Und dann die Sache mit dem Klopapier. Es passte ja so schön, dass die zwanghaften Deutschen angeblich besonders scharf auf dieses anale Objekt waren. Tatsache ist aber wohl, dass auch in anderen Ländern Klopapier in Mengen gekauft wurde, in Skandinavien, USA, Grossbritannien und Israel. Lediglich in Ländern, die eine andere Analhygiene praktizieren, wie im Iran oder in Italien, fand man diesen Ansturm eher befremdlich. Und ja, es hätte auch so schön gepasst, dass die Franzosen Wein und Kondome hamstern, es scheinen aber eher die Baguettes gewesen zu sein, bis zu 50 Exemplare, die von einer Person gekauft worden sein sollen. Und natürlich der Wein, wie in Italien und Spanien. In Amerika sollen sich vor den Waffengeschäften lange Schlangen gebildet haben. Nun ja.

Die Leugnung der äusseren Realität ist kein absoluter Wert, sondern sie bewegt sich auf einem Kontinuum, von «ein bisschen leugnen», über «ein bisschen mehr» zu vielleicht «einen Ausschnitt der Realität ganz leugnen».

Interessant auch der Spannungszustand zwischen Verzicht und Haben wollen. Man wollte nicht so gerne auf Freiheiten verzichten, auf Reisen, auf Treffen usw., aber um der Realität auf nicht so schmerzhafte Weise Genüge zu tun, legte man sich Vorräte an.

Vorräte verweisen überdies auf eine Zukunft! Für den Fall, dass es mal – später – knapp werden sollte, dann hätte man.

Entsprechend reagierten wir bisweilen kollektiv hysterisch und gingen Mehl, Hefe und Toilettenpapier einkaufen. Dabei war die Gefahr, wir könnten verhungern eher unwahrscheinlich, nicht aber die Gefahr an einer Corona-Infektion zu versterben.

Ein Phänomen der übertriebenen Emotionalisierung. Auf diese Weise aber schafft die innere Realität – hysterische Angst – eine neue äussere Realität, beispielsweise knappe Regale oder auch erhebliche Gewinne für Supermarkt und Internethandel­-Inhaber.

Dann aber fing die Lage für viele Menschen an, etwas unheimlich zu werden. Und damit kommen wir zu einem für mein Dafürhalten wichtigen Punkt:

Für sehr viele Menschen, sagen wir mindestens für alle Jahrgänge ab 1950 war dies die erste grosse einschneidende, international wirksame geteilte äussere Krise!

Die allermeisten Deutschen haben – Gott sei Dank – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine solche Krisenerfahrung machen müssen. Wir sind bisher mit keinerlei grösseren Einschränkungen (sieht man von ein paar Sonntagsfahrverboten ab) konfrontiert gewesen. Im Gegenteil: Wir leben in einer Zeit, in der die Autonomie, die Selbstentfaltung und -verwirklichung, das individuelle Interesse grösstmöglichen Raum für sich beanspruchen, häufig genug noch vor dem kollektiven Interesse, dem Interesse der Umwelt oder dem Interesse des Schwächeren. Wir leben in einer Zeit der Möglichkeiten, in einer Zeit des uneingeschränkten Konsums (wenn man denn das nötige Geld dafür hat), des möglichst uneingeschränkten Reisens, der absoluten Bewegungsfreiheit, der idealisierten Individualisierung. Und dann plötzlich das: Begrenzung, Einschränkung, Verzicht, kurz: Versagung, Frustration! Für einen gewissen Teil der Menschen: inakzeptabel. Bion schreibt:

Ein Kind, das in der Lage ist, Versagung zu ertragen, kann es sich erlauben, einen Sinn für Realität zu haben, also vom Realitätsprinzip bestimmt zu sein. Wenn seine Frustrationsintoleranz ein gewisses Mass überschreitet, werden jedoch Omnipotenzphantasien wirksam. (1997, S. 84)

Dieser Mechanismus, diese Dynamik gilt durchaus auch für das erwachsene Kind. Je grösser die Frustrationsintoleranz, das heisst auch, je grösser die Angst und die Unfähigkeit zur Regulation der Affekte, desto unerträglicher wird die Realität, der man mittels Omnipotenzvorstellungen zu entkommen versucht. Man kann sich beispielsweise vorstellen, nicht am Corona­-Virus zu erkranken, selbst wenn man sich ihm aussetzt. Oder man kann sich vorstellen, selber viel besser Bescheid zu wissen, obwohl man vielleicht kaum Wissen über Medizin oder Epidemiologie oder Virologie hat (eine Technik, die durch Dr. Google und Prof. Wikipedia gefördert wird; man muss ja nur lesen, was da steht, dann weiss man mehr als alle Experten zusammen, oder man bildet sich bei facebook). Und nicht zuletzt kann man noch versuchen, die Angst vor dem Kontrollverlust mit Hilfe von nach aussen gerichteter Aggression zu bekämpfen.

Je länger die Krise und die mit ihr verbundenen Einschränkungen anhielten, desto mehr veränderte sich die Stimmung, hin zu einer bisweilen ziemlich aggressiv gefärbten Atmosphäre.

Zunächst gefielen wir uns in unserer neu gewonnenen Phantasie der Solidarität. Man stellte sich auf die Balkone und applaudierte dem imaginierten Pflegepersonal. Man gefiel sich in der Rolle, sich einzuschränken und damit «Leben zu retten». Bisweilen hatte auch das etwas von Über-Emotionalisierung und Selbstrührung. Dementsprechend hielt es auch nicht lange an.

Nachdem der Lockdown zunächst in manchen Teilen der Bevölkerung zu einer gewissen Entlastung und Erleichterung geführt hatte (man hatte plötzlich viel weniger Termine, durfte von zu Hause aus arbeiten, musste nichts unternehmen, musste keine Besuche machen, usw.) kippte die Stimmung (besonders als die Schulkinder lang und länger zu Hause bleiben mussten). Man kann vielleicht sagen: Wir begannen zunehmend gekränkt zu reagieren, geradezu empört ob der Zumutungen, ob der Einschränkungen, die uns auferlegt wurden und unsere liebgewonnenen Gewohnheiten und Freiheiten drastisch störten. So etwas hatten wir noch nicht erlebt, wir waren in unserem Lebensgefühl des grenzenlos Machbaren, der grenzenlosen Freiheiten empfindlich getroffen. Die Störung bestand in einer Störung unsere Phantasie, unserer inneren Realität, denn das Gefühl des grenzen los Mach baren ist eben ein Gefühl, das überdies auch nicht alle Menschen teilen, es ist ein Stück innerer Realität, die wir, so gut wir irgend können, im Aussen abzubilden versuchen, um sie anschliessend zu re-introjizieren und auf diese Weise an unseren Omnipotenzgefühlen arbeiten. Wir fahren, Verzeihung, fliegen zum Shoppen «mal eben» nach Dubai, veranstalten Konzerte auf dem Gletscher und fahren mit Kreuzfahrtmonstern in die Lagunen. Können wir. Machen wir. Und jetzt kommt so ein Virus und will uns davon abhalten? In-ak-zep-ta-bel!

Nach anfänglicher Beruhigung durch die einschränkenden Massnahmen wuchsen im Laufe der Zeit – als sich die Phantasie, das alles möge vielleicht bald ein Ende haben, in der Realität als Irrtum erwies – Stress, Beunruhigung, Verunsicherung und damit die aggressive und weiterhin von Spaltung bestimmte Grundstimmung. Diese trieb teils bizarre Blüten, die einem im Alltag bis heute begegnen.

Die einen, die sich ganz und gar mit den Schutzmassnahmen identifizieren und diese bisweilen militant zu vertreten suchen. Da konnte man im Supermarkt plötzlich Zeugin werden, wie zwei Männer fast aufeinander losgehen, weil der eine für den Geschmack des anderen den notwendigen Abstand nicht gewahrt hatte. Ein typisches Verhalten übrigens unter bestimmen Wildtieren.

Oder man wurde plötzlich vor den Grenzen des Wochenmarktes, auf dem die Maskenpflicht gilt, angebrüllt, warum man seine Maske nicht aufhabe (die man an der Stelle aber noch gar nicht aufhaben musste). Auch das ist kein ganz unbekannter Mechanismus: Man unterwirft sich der (angenommenen) Macht, möglichst voll und ganz und versucht sie auf diese Weise für sich einzunehmen, sie gnädig zu stimmen. Wenn ich mich unterwerfe, wenn ich alles tue, was man von mir verlangt, dann werde ich verschont bleiben.

Ebenfalls zu beobachten: die Wiederkehr des Denunziantentums! Plötzlich fühlten sich Mitbürgerinnen und Mitbürger berufen, reale oder vermeintliche «Maskenverstösse» an das Ordnungsamt zu melden oder die Polizei zu rufen, sollten die Nachbarn möglicherweise im Garten gegen die erlaubte Versammlungszahl verstossen. Dies alles erfolgte in einer ziemlichen, mitunter zwanghaften Verbissenheit. Sich auf der «richtigen» Seite fühlend, war es auf diese Weise möglich, seine Aggressionen und Frustrationen zu entladen.

Oder aber diejenigen, die sich bewusst und absichtlich nicht mehr an die vorgegebenen Hygienemassnahmen hielten, deren Sinn sie negierten. So gab es ein um die andere Familienfeier, auf der es zu Infektionsausbrüchen kam. Ebenso wie man sich in den fleischverarbeitenden Betrieben nicht an die genannten Massnahmen gebunden fühlte, da man hier für sich andere Rechte in Anspruch nahm. Auch dieses sind Versuche zur Ableitung der aufgestauten Aggression und Frustration, die zum einen diese Pandemie-Welle mit sich gebracht hat, die aber zum anderen auch bereits vor der Pandemie bestanden und hier nun ein Vehikel zur Entladung gefunden hatten.

Eine weitere drastische Störung schloss sich an: Unsere Phantasie der Unsterblichkeit liess sich plötzlich nicht mehr so gut aufrechterhalten, angesichts der Bilder von Särge transportierenden Militärkolonnen und der täglich gemeldeten Todes zahlen, die an die Gefallenenmeldungen in einem Krieg erinnerten. Die äussere Realität machte «Nägel mit Köpfen», grauenhafter Weise waren die Nägel Sargnägel. Am Tod kann man nicht vorbei sehen, dachte man. Er gehört zu den «facts of life».

In einer Zeit, in der die Lebenserwartung in unseren Breitengraden zu steigen hat, nun plötzlich eine solche Bedrohung von Leib und Leben.

Die äussere Realität drohte unsere innere Realität niederzuwalzen und somit auch intermediäre Räume zu besetzen oder zu zerstören. Sich mit der äusseren Realität auseinandersetzen zu müssen, kann sehr schmerzhaft sein oder uns vor Glück (gefühlt) fast sprengen, was auch nicht leicht auszuhalten ist. In jedem Fall braucht es einen inneren Raum, in welchem die Gefühle reguliert werden können, je nach theoretischer Provenienz, eine Alphafunktion, welche in der Lage ist, toxische Betaelemente zu neutralisieren, die Fähigkeit zur depressiven Position, zur Symbolisierung, zur Affektregulation, zur Impulskontrolle. Es braucht also einen psychischen Innenraum, die Fähigkeit zum Containment, die Fähigkeit, Nichtwissen (K) zu ertragen. Das ist schon eine ziemlich lange Liste. Zunächst einmal muss man Glück gehabt und das Geschenk einer Entwicklung und damit Be-­Elterung erlebt haben, die «gut genug» war, um überhaupt über diese Fähigkeiten verfügen zu können, und dann braucht es auch noch die Bereitschaft zur Anstrengung, denn psychische Arbeit ist anstrengend und der Mensch ist ja doch gerne träge. Insofern wird nicht so selten eine Abkürzung gesucht, die darin besteht, dass man irgendwie versucht, sich der Affekte nach aussen zu entledigen, eine Art psychischer Durchfall, wenn man so will (s. Toilettenpapier!)

Wir suchen, wenn wir einer solchen existentiellen Gefahr und den damit verbundenen Gefühlen ausgesetzt sind, regredierend nach den Verantwortlichen. Diese sind in diesem Fall sehr klar auszumachen, es sind Unmengen von RNA-Viren, die sich rasant mit Hilfe unseres Körpers replizieren. Aber solche nur im Elektronenmikroskop sichtbaren Partikel eignen sich nicht gut als Beschwerdeadresse, also suchen wir sichtbarere Objekte, Personen, die in der Öffentlichkeit stehen und sich sehr viel besser als Prellbock für angesammelte Frustrationen und Ängste eignen. Wir suchen XXL-Container für unsere Beta-Elemente.

Zu einer Krise gehören immer ein hohes Mass an Unsicherheit und damit auch flottierende Ängste und ein gewisser Handlungsdruck. Unsicherheit, Ängste und Druck forcieren regressive Dynamiken, für die es charakteristisch ist, dass man sich an symbolische Elternfiguren hält. Diese sollen dafür sorgen, dass alles wieder gut wird. Gelingt ihnen das nicht, richtet sich die resultierende Aggression – durchaus infantil – gegen diese symbolischen Eltern.

Wir schauen also auf die Entscheidungsträger, vermeintliche oder wirkliche Autoritäten. Unser unbewusster (oder auch bewusster) Wunsch an diese Menschen ist, dass sie uns beruhigen. Dafür hatte beispielsweise der NDR – vermutlich nicht so ganz bewusst – ein hervorragendes Setting erfunden: Man brachte einen täglichen Podcast mit dem Virologen Christian Drosten, der täglich ruhig und sachlich alles rund um das Coronavirus erklärte. Er wurde zu einer symbolischen Elternfigur, die verlässlich präsent war (auch nicht krank wurde), mit einem hohen Vorrat an Geduld, die jeden Abend wie das Sandmännchen rituell auf uns einwirkte, wenn wir es denn wollten. Irgendwann wurde es dem Virologen offenbar selber unheimlich, in welch kollektive Übertragungsposition er da gerutscht war. Er veränderte das Setting, reduzierte die Frequenz (oder die Beruhigungsdosis), Podcast nicht mehr täglich, sondern nur noch alle zwei Tage usw. Christian Drosten erklärte, mahnte, informierte, appellierte also auf bewusster Ebene an unsere kognitiven und rationalen Fähigkeiten, was antiregressiv wirkt. Wir hatten etwas, mit dem wir uns beschäftigen konnten, konnten uns gut informiert fühlen und so ein Gefühl von Kontrolle zurückgewinnen.

Selbstverständlich war nicht nur Christian Drosten in dieser Position, sondern auch andere Virologen, Ärzte, Mediengrössen. Es folgte die Zeit der «Speziale» und «Brennpunkte» im Fernsehen. Jeden Tag, meistens zur gleichen Zeit die Zusammenfassungen des Tages, die irgendwann kaum noch neue Erkenntnisse brachten, aber beruhigen sollten. Die Nation, die sich sonst über Netflix, DAZN, Amazon, Sky, Öffentlich-­Rechtliche und andere verteilt, fand sich nun zu den «Brennpunkten» oder «Spezialen» zusammen, wie zum sonntäglichen «Tatort». Und dann natürlich die Politiker, allen voran die Kanzlerin: Wann wird sie eine Regierungserklärung abgeben? Welche Massnahmen werden ergriffen? usw.

Als die Zahl der sterbenden Menschen anstieg und die schrecklichen Bilder aus Italien zu uns kamen, hatte die Angst auch bei uns offenbar viele Menschen erreicht, die Unsicherheit stieg. Die Regierung stand krisengemäss unter Handlungsdruck, die Menschen wollten sehen, dass etwas getan wird, weil tun heisst, dass man Kontrolle hat oder sie zumindest wieder erlangen wird.

Es kam der sogenannte Lockdown, der hier in Deutschland gar keiner war, weil es hier keine absolute Ausgangssperre gab. Die Menschen schienen sich zu fügen und damit zunächst ganz zufrieden zu sein, so zufrieden, dass sich wiederum kritische Töne mehrten, wie es denn sein könne, dass die Deutschen so bereitwillig auf Grundrechte verzichteten.

Dass solche Massnahmen so unterschiedlich eingeschätzt werden, liegt u a. an der unterschiedlichen Verteilung der Ängste, an deren Ausmass, dem Umgang mit ihnen und der Fähigkeit zur Leugnung. So wie Menschen mit der Nachricht, unheilbar erkrankt zu sein, sehr unterschiedlich umgehen, gehen sie auch in einem solchen Fall sehr individuell mit ihren Gefühlen um.

Christian Drosten hatte einen grossen «Fehler»: Er konnte die Ausbreitung des Virus nicht verhindern, auch nicht den Lockdown! Das ist häufig eine Crux mit solchen Elternfiguren: Je grösser die Ängste und die Unsicherheiten, wobei diese nicht zwingend bewusst sein müssen, desto grösser die Erwartungen an Elternimagines, die ins Magische gleiten können: Eltern sollen machen, dass alles wieder gut wird!

Und wenn ihnen das nicht gelingt, dann kann die Stimmung kippen und wir beginnen munter zu spalten: die anfängliche Idealisierung schlägt in Entwertung um. Zunächst traf es Christian Drosten, der in einem Interview mit dem Guardian davon berichtet, Morddrohungen zu bekommen, die er an die Polizei weiterleite. Es würden ihm auch Menschen schreiben, dass sie drei Kinder und Angst vor der Zukunft hätten. Er stellt in diesem Interview fest: «Es ist nicht mein Fehler», aber solche Mails würden ihn nachts wachhalten.

Wie kommt man dazu, einem solchen Mann und Wissenschaftler Morddrohungen zu schicken? Indem man sämtliche Hassgefühle auf ihn projiziert, ihm für die eigene und die gesamte Situation die Verantwortung zuschreibt. Zugleich fühlten sich viele Menschen offenbar von ihm bedroht, einem Menschen, den sie in ihrer Phantasie mit einer unermesslichen Macht ausgestattet hatten. Wenn diese Macht ihnen nicht helfen oder diese sich, gefühlt, gar gegen sie richten konnte, dann setzte der Prozess der Entwertung ein, eine Entwertung, die bis zur phantasierten Destruktion, zur Auslöschung des Objektes ging. Für viele Menschen ist offenbar an der Stelle ein intermediärer Raum zusammengebrochen (wenn er denn vor her existiert hat). Innere und äussere Realität interagieren nicht, es gibt auch kaum noch die Möglichkeit zwischen innerer und äusserer Realität zu unterscheiden, vielleicht nicht einmal ein Bewusstsein, dass es sich dabei um zwei verschiedene Entitäten handeln könnte, sondern die innere Realität wird für die äussere gehalten. Die Protagonisten sind im sogenannten Äquivalenzmodus. In diesem Fall finden dann die entsprechenden Menschen, dass Christian Drosten wirklich schuld ist.

Gleiches traf auch Politiker, Regierungsmitglieder oder die Polizei. Sämtliche Objekte, die man in der Phantasie und mittels der Übertragungen mit viel Macht ausstatten konnte, wurden, nachdem die Pandemie nicht einfach aufhörte, als Bedrohung ausgemacht. Sie waren es plötzlich, die an allem schuld waren. Man begann ihnen Fehler vorzuhalten, die sie zweifelsohne gemacht hatten. Aber die Heftigkeit, mit der man den Verantwortlichen diese Fehler vorwarf, beruht eben auf dem zugrunde liegenden Allmachtanspruch, auf der zugrunde liegenden Idealisierung, dass «sie», die Elternfiguren, es richten müssen, und zwar fehler frei! Das ist selbstredend ein nicht einzulösender, infantiler Anspruch, wie ein Kind in einem bestimmten Alter nicht bereit ist, den Eltern einen nachgewiesenen Fehler durchgehen zu lassen. Denn wo soll so etwas hinführen, wenn Eltern Fehler machen? Dann kommt die kindliche Welt ins Rutschen.

Wissenschaftlern wurde vorgeworfen, dass sie ihre Ansichten geändert hätten. Doch es ist an sich eine Qualität, ja geradezu eine existentielle Substanz von Wissenschaft, dass sie dazulernen kann und bereit ist, sich selbst zu widerlegen. Natürlich erleichtern die narzisstischen Konflikte untereinander in solchen Gemengelagen die Orientierung nicht gerade. Sowohl unter den Wissenschaftlern als auch unter den Politikern ging es immer wieder auch um Reputation, darum, Plätze in der «oberen Etage» zu besetzen, sich besonders verantwortlich, besonders umsichtig, besonders klug zu zeigen.

Auf der anderen Seite diejenigen, die sich von den Infektionsschutzmassnahmen in unzulässiger und demokratiegefährdender Weise eingeschränkt sahen. Sie begannen sich mehr und mehr zu organisieren und ihrer Kritik am Staat, den sie für global schuldig halten, massiv Ausdruck zu verleihen. Sie haben verschiedene Theorien: Die ganze Pandemie ist eine reine Erfindung, um …

Ja, um das Bargeld abzuschaffen oder x irgendeine Form der Weltherrschaft y zu ermöglichen und irgendwas war noch mit Bill Ga tes. Die Theorien können kaum absurd genug sein, es finden sich immer wieder Anhänger.

Es gab Demonstrationen, ohne Schutzvorkehrungen, ohne Abstand, ohne Masken, die wiederum eine neue Realität schufen (niemand weiss ja, inwieweit diese Veranstaltungen für eine weitere Verbreitung des Virus gesorgt haben).

Wie kann man das nun verstehen?

Was könnte das Ziel dieser Menschen sein, wenn man mal von dem Versuch, die politische Ordnung zu destabilisieren, oder immensen narzisstischen Bedürfnissen (endlich mal Bedeutung haben und ins Fernsehen kommen) absieht?

«Keine Brust – ein Gedanke», so heisst die Kurzformel, die Bion zugeschrieben wird (die ich in der Form noch nirgendwo gefunden habe.) Gefunden habe ich aber folgende Stelle bei Bion:

Ist ein «Gedanke» dasselbe wie die Abwesenheit eines Dings? Wenn da kein «Ding» ist, ist «kein Ding» ein Gedanke [no thing/nothing]). Und liegt es an der Tatsache, daß da «kein Ding» ist, daß man erkennt, daß «es» Gedanke/gedacht sein muß? (1997, S. 81 f.)

Demnach sorgt die Abwesenheit von etwas, und zwar von etwas Lustvollem – unter bestimmten Umständen – für einen Gedanken. Aber wenn man den Gedanken nicht will?

Gedanken sind lästig», zitiert Bion eine seiner Patientinnen, «ich will sie nicht» (1997, S. 81). Gedanken sind anstrengend und oft sind dann auch Gefühle nicht fern.

Man kann also diese Aufmärsche, Brüllereien, die peinlichen Vergleiche mit Widerstandskämpferinnen und -kämpfern, die mir fast Ekel erzeugen den Vergleiche mit Anne Frank auch als manische Abwehr verstehen, als manische Abwehr von Gedanken und damit gerade als Abwehr des intermediären Raumes, des Übergangsraumes, des Spiels. Der Übergangsraum lässt Gedanken nicht nur zu, er fördert sie geradezu. So sind doch beispielsweise die Gedanken: «Werden Grundrechte zu sehr eingeschränkt? Sind die Einschränkungen angemessen? Wie viel Freiheit wird für wie viel Sicherheit geopfert?» elementar wichtige Gedanken, die einen Raum brauchen, in dem über sie gedacht werden kann. Niederbrüllen hilft nicht beim Denken.

So kann ich übrigens allerlei Theorien von Melanie Klein so gar nicht folgen, finde aber ihre Konzepte der schizoiden und der depressiven Position sehr hilf reich. Auch Bion kann ich bei Weitem nicht immer folgen, oder dem, wie er bisweilen ausgelegt wird, aber seine Ideen zum Containment, zur Reverie, zur Alpha- und Betafunktion helfen mir bei manchen Menschen und bei manchen Phänomenen. Ich kann mit ihnen spielen.

Mir will es scheinen, dass das Ziel der sogenannten «Verschwörungstheorien» der fast krampfhafte Versuch ist, die äussere Realität, die als so bedrohlich und zudem extrem kränkend erlebt wird, durch eine externalisierte innere Realität zurückzudrängen. Das Ganze konnten wir auch in Reinform bei Donald Trump beobachten. Trump hat die Wahl verloren, eine objektive Realität (wir wollen uns hier jetzt nicht mit der Frage befassen, ob es eine objektive Realität überhaupt gibt, also ob der Baum vielleicht gar nicht «wirklich» da ist, sondern nur mittels unserer Wahrnehmung existiert). Eine objektive Realität, die der subjektiven Realität Trumps diametral entgegensteht. Er hat gewonnen, es wissen nur nicht alle. Zudem sind ja überhaupt die Stimmen ungültig, die gegen ihn ausgefallen sind. Gültige Stimmen können nur solche sein, die für ihn zählen.

Nun hat der Mann eine gewisse Macht, die es ihm ermöglicht hat, sehr lange seine innere Realität zu externalisieren, sodass es auch für andere Menschen den Anschein haben konnte, Trumps innere Realität sei die objektive Realität. Er hat zum Beispiel einfach so getan, als habe er die Wahl nicht verloren, und schafft dadurch tatsächlich eine neue äussere Realität (dass Biden die Amtsgeschäfte nicht angemessen übernehmen kann, beispielsweise). Jetzt gerade, am 6. Januar mussten wir mitansehen, wie Trump es geschafft hat, seine innere Realität in die äussere hineinzupressen. Eine innere Welt kann leider, wie Winnicott richtig bemerkt, im Kriegszustand sein (1997b, S. 302). Trumps Aufruf zum Sturm des Capitols führte zu Toten, zu Zerstörung, Verstörung und Angst, zum Chaos. Manch einer hatte sich ja geweigert, Trump eine psychische Störung zu bescheinigen, weil man dies nur tun dürfe, wenn man ein diagnostisches Gespräch geführt habe. Dazu ist zu sagen, dass die Medizin durchaus das Prinzip der «Blickdiagnose» kennt. Ich möchte vermuten, dass die Machtfülle, mit der das amerikanische Präsidentenamt ausgestattet ist, bei manchen auch die diagnostischen Kriterien verzerrt. Das Ausmass von Trumps psychischen Beeinträchtigungen zeigt sich wie bei anderen narzisstischen Persönlichkeiten insbesondere dann, wenn die Kompensationsmöglichkeiten wie Geld, Erfolg oder Macht zusammenschrumpfen.

Zum Zeitpunkt des Verfassens war noch offen, ob er aus dem Weissen Haus auszieht oder weiter darin wohnen bleibt. Dass Trump sehr wohl an einer psychischen Beeinträchtigung leidet, können wir daran erkennen, dass er in dem Moment, in dem die äussere Realität quasi an ihm vorbei Fakten schafft (Gerichte seinen Klagen nicht folgen, der Senat sein Veto überstimmt usw.) mehr und mehr dekompensiert.

Trump wird (wie die Corona­-Leugner auch) von der äusseren Realität überholt.

Winnicott stellt fest, dass zu unserem Zwischenreich des Erlebens sowohl die innere Realität als auch das äussere Leben beitragen (1997b, S. 302). Dieses Zwischenreich kann, wenn es gut geht, ein «Ruheplatz» für das Individuum sein, das «mit der lebenslangen menschlichen Aufgabe beschäftigt ist, die innere und die äussere Realität getrennt und doch miteinander verknüpft zu halten» (1997b, S. 302). Ein Musterbeispiel eines dialektischen Gedankens! Aber Dialektik erfordert psychische Arbeit und die Abkehr von Extremen.

Der Intermediärraum, die Befruchtung zwischen innerer und äusserer Realität steht Menschen wie Trump oder vielen Corona­-Leugnern offenbar nicht zur Verfügung. Es geht nur das eine oder das andere.

Wir kennen diese Bewegung auch von Patienten, die sich in einer dauerhaften malignen Regression befinden und beispielsweise daran festhalten, dass ihre (zu Unrecht) unerfüllten kindlichen Wünsche im späteren Leben von anderen (Elternfiguren) erfüllt werden müssten. Sie bleiben psychisch «klein» und abhängig, in der Weise, dass sie das Gefühl haben, die Welt sei ihnen etwas schuldig geblieben (was stimmt) und sie hätten einen Anspruch an die Welt, dass die Schuld ausgeglichen werde (was nicht stimmt). Das Tragische daran ist, dass die einzigen, die ihnen etwas wiedergeben könnten, die etwas wiedergutmachen könnten, sie selber sind, sie aber gewissermassen lebenslang an der falschen Tür warten.

Als im Dezember die Fall- und Todeszahlen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stiegen, hiess es plötzlich, die «Querdenker» würden auf die geplanten Demonstrationen verzichten, nur um im Frühjahr verstärkt zurückzukommen. Ah ja! Nein, sie sind nur leider (!) von der äusseren Realität eingeholt worden. Auch diese soziale Bewegung scheint wenig Möglichkeiten eines intermediären Raumes zu haben. Die Verschwörungstheorien sind ja Phantasien und man könnte sie versuchsweise als Ausdruck eines intermediären Raumes, als Ausdruck von Phantasie und Spiel ansehen. Dann wären sie ein kreativer Akt. Aber genau das sind sie nicht, und zwar deswegen nicht, weil sie keine Vermischung von äusserer und innerer Realität zulassen; es wird hier nur eine einzige Realität postuliert: die von mehreren Menschen geteilte innere Realität. Widersprechende Realitäten werden ausgeschlossen, unter Umständen auch mit aggressiven Mitteln. Bei Freud heisst es:

Die Neurose ist dadurch charakterisiert, dass sie die psychische Realität über die faktische setzt, auf Gedanken ebenso ernsthaft reagiert wie die Normalen nur auf Wirklichkeiten. (Freud, 1912/13a, S. 192)

Das Phänomen der sogenannten Verschwörungstheorien ist im Übrigen nicht neu, man könnte fast sagen, es ist eine Begleiterscheinung von Natur und anderen Katastrophen. Als im 14. Jahrhundert die Pest in Europa so schrecklich wütete, kam es zu Pogromen, weil man sich der Phantasie hingab, jüdische Menschen hätten Brunnen und Quellen vergiftet, eine Verschwörungstheorie, die man schon zu Leprazeiten nutzte. Oder man sah die Seuche allgemein als Gottesstrafe, zog als Flagellanten durch die Strassen. Hier richtete sich die Enttäuschung der Menschen auf die Kirche, die Antworten schuldig blieb und nur selten für die Menschen da war. Papst Clemens VI. soll seine Zeit zwischen zwei Tag und Nacht brennenden Feuern verbracht und dennoch seinen verschwenderischen Lebensstil gepflegt haben. In Oberammergau feiert man bekanntermassen seit 1634 noch heute die Passionsspiele als Einlösung eines Versprechens, weil man von der Pest verschont geblieben war.

Vielleicht kann man sagen, dass die psychischen Reaktionen auf die jetzige – nach Jahrzehnten – erste grosse kollektive Krise von Anfang an unterschätzt worden sind, insbesondere die älterer Menschen, die man zu grossen Teilen in Alten- und Pflegeheimen isoliert hat. Aber die gehen nicht auf die Strasse!

Auch alle anderen Menschen standen und stehen vor grossen Belastungen: Angst, zu erkranken, stigmatisiert zu werden, allein zu sein, den Arbeitsplatz zu verlieren, existentiell bedroht zu sein.

Zugleich ist ein Grossteil der «Zerstreuungsindustrie» und «Eventkultur», bis hin zum Fussball, weggefallen, was die Menschen noch stärker auf sich selbst zurückgeworfen und in kollektive Regressionsphänomene geführt hat.

Vielleicht kann man aber auch sagen, dass die unserer Gesellschaft innewohnende Gewaltbereitschaft und Aggression unterschätzt worden sind, für welche das Corona-­Virus lediglich das Vehikel ist, das es ermöglicht, einen Teil davon, im wahrsten Sinne des Wortes, auf die Strasse zu bringen. So wie vielleicht auch das Ausmass der gesellschaftlichen Entgrenzung unterschätzt worden ist, der Drang, sich zu nehmen, was man haben will, und die resultierende destruktive Wut, wenn man es nicht bekommt. Auf einer politischen Ebene darf man wohl an nehmen, dass nicht alle am wachsenden Wohlstand und den damit verbundenen grösseren individuellen Freiheiten teilhaben durften, an der möglichst ungestörten Selbstverwirklichung und der Erfüllung eigener individueller Interessen. Es gibt eine grosse Zahl von Menschen, die sich als benachteiligt, übervorteilt, ausgenutzt oder vergessen sieht und damit womöglich auch oft richtig liegt. Die vielzitierte «Schere, die auseinandergeht», die äussere gesellschaftliche Spaltung leistet der inneren Spaltung Vorschub: «Wir» und «die». «Die» sind dann die Projektionsfläche für eigene innere intolerable Affekte, für Aggressionen und Wünsche, anderen et was wegzunehmen, über andere zu bestimmen, Macht auszuüben usw.

Es ist nicht leicht, sich in der zum Teil überhitzten, zugespitzten Atmosphäre nicht auf die Seite der Aggression zu schlagen, sondern vielleicht stattdessen das vorläufig Verlorene zu bedauern, zu betrauern und auf das zurückzugreifen, was man hat und hatte. Die Psychoanalytikerin Melanie Klein spricht von zwei unter schiedlichen psychischen Positionen: der depressiven Position und der paranoid-schizoiden Position, ursprüngliche psychische Zustände, die sie der Psyche des Kleinkindes zuordnet, zwischen denen wir aber auch im Erwachsenenalter immer wieder hin und her pendeln.

In der paranoid-schizoiden Position hat der Mechanismus der Spaltung die Vorherrschaft. Die eigenen destruktiven Impulse werden im anderen verortet, sodass man sich folgerichtig von diesem bedroht und verfolgt fühlt. Dieser andere kann Christian Drosten sein oder «die Regierung» oder der Nachbar.

In der depressiven Position können Ängste, Sorge um das Objekt und Schuldgefühle in einem gewissen Umfang zugelassen werden, ohne dass statt ihrer sofort destruktive Wut oder existentielle Verzweiflung Regie führen. Wenn man so will, ist man auf dieser Position in der Lage, psychischen Schmerz zu fühlen und eine Zeitlang auszuhalten, ohne ihn sofort manisch abwehren zu müssen (indem man zum Beispiel shoppen geht, Beleidigungen herausbrüllt, etwas zerstört, sich betrinkt oder andere denunziert). Man beginnt zu ahnen, dass ein und dasselbe Objekt gut und böse sein kann, dass man gar selber etwas dazu beigetragen hat, einem Objekt zu schaden (das kann auch das eigene Ich sein.)

Wenn man so will, findet sich die Bewegung zwischen paranoid-schizoider und depressiver Position auch in unserem Umgang mit Mutter Erde, von der wir alles unbegrenzt haben wollen, die wir nach Herzenslust ausrauben, schädigen, zerstören, von der wir alles haben wollen, ohne ihr etwas zurückgeben zu müssen. Wir leugnen dabei unsere Zerstörung, rationalisieren sie, wehren manisch ab, in dem wir uns zerstreuen, um nicht über die Folgen unseres Tuns nachdenken zu müssen. Dann aber treten wir (oder eben ein Teil der Gruppe) in die depressive Position ein, in der wir spüren und wahrhaben, was wir tun, wie sehr wir unserer Umwelt schaden, an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Wir spüren Schuldgefühle, so spenden wir vielleicht etwas oder trennen Müll, geleitet von dem Wunsch nach Wiedergutmachung. «Schlägt» Mutter Erde zurück, in Form von Naturkatastrophen, zum Beispiel auch in Form von Pandemien, dann geraten wir schnell wieder in die paranoid-schizoide Position, nicht zuletzt weil wir uns in unseren Omnipotenzgefühlen und Allmachtphantasien angegriffen und gefährdet sehen.

Die Corona-Pandemie in der depressiven Position durchzuarbeiten, hiesse einzusehen, dass wir gefährdet sind, im wahrsten Sinne des Wortes auf schmelzendem Eis leben, nicht allmächtig und unzerstörbar, sondern dass wir selbst es sind, die die Pandemie zur Pandemie machen.

Anmerkung

 Die Rechtschreibung wurde an die in der Schweiz geltenden Rechtschreibregeln angepasst.

Literatur

  • Bion, W. R. (1997). Lernen durch Erfahrung. Suhrkamp.
  • Freud, S. (1912/13a). Totem und Tabu. GW IX, S. 1–194.
  • Klein, M. (1962). Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psy choanalyse. Klett-Cotta.
  • Spinney, L. 26. 04. 2020. Germany’s Covid-19 expert Christian Drosten: “For many, I am the evil guy crippling the economy”. The Guar dian, https://www.theguardian.com/world/2020/apr/26/ virologist-christian-drosten-germany-coronavirus-expert-interview.
  • Winnicott, D. W. (1997a). Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta.
  • Winnicott, D. W. (1997b). Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Fischer.

Angaben zur Autorin

Diana Pflichthofer, Dr. med., Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytikerin (DPG, DGPT, IPV) und Gruppenanalytikerin (D3G), niedergelassen in eigener Praxis in Soltau. Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (ÄKH, ÄKN, D3G).

Arbeitsschwerpunkte: Behandlungstechnik, Methodenreflexion, Traumatheorien und Ästhetik.

Letzte Buchpublikationen: Trennungen. Giessen 2017 (Psychosozial-Verlag); Mit Neurosen unterwegs. Kleiner psychoanalytischer Reiseführer durch unseren Alltag. Göttingen 2021 (Vandenhoeck; Ruprecht) http://www.dr-diana-pflichthofer.de

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