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Aus der Vortragsreihe Mein liebster Freud: «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» (1914g) oder der «Wolfsmann» zwischen Ödipus und Narziss, Tummelplatz und Krieg

Der Artikel beruht auf einem Vortrag, der in der Reihe «Mein liebster Freud» am 17. April 2014 am PSZ gehalten wurde. Die These lautet, dass Freud in der Abhandlung «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» (1914g) in seinem theoretischen Bezugsrahmen an der Neurose und am Modell des Traums orientiert ist, klinisch jedoch in den Bereich der nicht-neurotischen Störungen vorstösst. Das Agieren und Wiederholen in der Übertragung wird zum Äquivalent für das Erinnern von nicht (symbolisch) repräsentierten Erfahrungen, die auf diese Weise zur Darstellung gelangen. Es ergeben sich Anknüpfungspunkte für spätere Autoren wie Winnicott, Bion und Green, die sich mit der frühen Entwicklung befasst haben. Fragen der Entstehung des psychischen Raums und der Differenzierung von Innen und Aussen und dem Zwischen- und Übergangsraum werden erörtert.


Journal für Psychoanalyse, 62, 2021, 8–25 Aus der Vortragsreihe Mein liebster Freud: «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» (1914g) oder der «Wolfsmann» zwischen Ödipus und Narziss, Tummelplatz und Krieg Uorschla Guidon (Zürich) Zusammenfassung: Der Artikel beruht auf einem Vortrag, der in der Reihe «Mein liebster Freud» am 17. April 2014 am PSZ gehalten wurde. Die These lautet, dass Freud in der Abhandlung «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» (1914g) in seinem theoretischen Bezugsrahmen an der Neurose und am Modell des Traums orientiert ist, klinisch jedoch in den Bereich der nicht-neurotischen Störungen vorstösst. Das Agieren und Wiederholen in der Übertragung wird zum Äquivalent für das Erinnern von nicht (symbolisch) repräsentierten Erfahrungen, die auf diese Weise zur Darstellung gelangen. Es ergeben sich Anknüpfungspunkte für spätere Autoren wie Winnicott, Bion und Green, die sich mit der frühen Entwicklung befasst ha ben. Fragen der Entstehung des psychischen Raums und der Differenzierung von Innen und Aussen und dem Zwischen- und Übergangsraum werden erörtert. Schlüsselwörter: Agieren, Wiederholungszwang, Grenzfälle, nicht repräsentierte Inhalte Einleitung Es gibt Sätze, die etwas so treffend auf den Punkt bringen, dass man sie nicht mehr vergisst. Bei einer Patientin, die ich seit vielen Jahren in Behandlung habe, halfen mir Freuds (1914g) Worte: «(…) der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt» (S. 129). Als die Patientin nach der x-ten Verspätung zögernd und wie schon zersetzt zur Sitzung erschien, bildete mein Gedanke, sie komme da her wie ein «geschlagener Hund» den Auftakt zu einer ersten, vorsichtigen An - näherung an ihre Geschichte, die von Schlägen, Entwertungen und Brüchen in der (( Theodor?)) © 2021, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jfp.62.2 Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 9 Kontinuität ihres Seins geprägt war. Die Patientin konnte ihre Geschichte nicht formulieren, sie trug sie gleichsam eingeprägt in ihre Körperhaltung zur Sitzung. Die Feststellung Freuds, dass Patienten wiederholen und agieren, statt sich zu erinnern, ja dass sie nur auf diese Weise erinnern können, indem sie in der Übertragung agieren, was einmal war, halte ich für eine zentrale klinische Tatsache, ja für ein Kernstück der psychoanalytischen Praxis, gerade bei nicht-neurotischen Störungen. Freud führt in der vorliegenden Arbeit den Wiederholungszwang ein. An ders als in «Jenseits des Lustprinzips» (1920g), wo er ihn mit dem Todestrieb in Verbindung bringt und von einem «dämonischen Zug» spricht (S. 20 und 36), er scheint der Wiederholungszwang hier unter der Perspektive der Aneignung von Erfahrung. Aber Freud skizziert bereits ein klinisches Bild, das ins «Jenseits» der Neurose führt, auch wenn es sich konzeptuell noch nicht um ausgearbeitete An sätze handelt. Freud ist im vorliegenden Text am ersten topischen Modell des Traums und der Neurose orientiert. Zur Einbettung von Freuds Abhandlung: Der Wolfsmann «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» ist 1914 als Teil der behand- lungstechnischen Schriften entstanden, die zwischen 1911 und 1915 publiziert wurden. Parallel dazu führte Freud die Analyse des «Wolfsmannes» durch. Über den «Wolfsmann» steht in der editorischen Einleitung der Studienausgabe zu le sen, es handle sich um die « ausführlichste und zweifellos wichtigste aller Kran ken- geschichten Freuds» (1918b [1914], S. 127), was auch die umfassende Literatur bezeugt, die es über den «Wolfsmann» gibt. Die Analyse des «Wolfsmannes» dauerte von 1910 bis 1914, eine für die damaligen Verhältnisse lange Zeit. 1919 kehrte der Patient zu Freud zurück, es folgten weitere Behandlungen bei weiteren Analytiker_ innen, das Leben des «Wolfsmannes» blieb schwierig. André Green (1999) schreibt über diesen «Grenz fall avant la lettre», er stelle «das schönste [sic!] Scheitern der Psychoanalyse» dar (S. 36; Übers. UG). Aus demselben Jahr stammt der Text «Über fausse reconnaissance» (1914a), in der Freud anhand kurzer Vignetten dem Phänomen des «déja-vu» nachgeht. Auch hier nimmt er auf den «Wolfsmann» Bezug, der erinnert, wie er als Bub mit einem Messer an einer Baumrinde herum schnitzte und meinte, sich den Finger ab geschnitten zu haben, was sich aber als Halluzination herausstellte. Freud deu- tet dies im Sinne der Kastrationsangst, die sich in einer Verschiebung vom Penis auf den Finger äussert (S. 119 ff.). Green hält dagegen fest, es handle sich um die 10 Uorschla Guidon Halluzination eines Schnittes und Mangels dort, wo gar nichts fehlt: eine Grenz- darstellung der negativen Halluzination (zit. nach Duparc, 2014). Ebenfalls im Jahr 1914 publizierte Freud «Zur Einführung des Narzissmus», in der er nach der Kontroverse mit Jung und Adler seine Gedanken zum Narzissmus ausführt. In Abgrenzung zu Jung hält Freud daran fest, den Narzissmus mit der Libidotheorie in Verbindung zu bringen und unterscheidet zwischen der narziss- tischen Ich-Libido und der Objekt-Libido. Er beschreibt den primären Narzissmus als «Urzustand» des Kindes, in dem die Ich- und Objektlibido noch ungetrennt sind (1914c, S. 167) und führt das Ich-Ideal ein, die Instanz der Selbstbeobachtung, die das Erbe des kindlichen Narzissmus antritt und die Grundlage für die Entwicklung des Über-Ichs bildet. Stellt man «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» in den Kontext die- ser Arbeiten, zeigt sich, dass Freud – es ist anzunehmen, im Zuge der Behandlung des «Wolfsmannes» – mit Fragen beschäftigt war, die dem Spektrum des frühkind- lichen Narzissmus und der frühen Störungen angehören. Obwohl sich Freud auf das Modell der Neurose konzentriert, ist diese andere Ebene enthalten und liest sich wie ein Subtext, dem ich im Weiteren nachgehen möchte. Freuds Modell des Traums und der Neurose Freud beginnt seine Abhandlung mit einem Rückblick über die Entwicklung der psychoanalytischen Methode, die aus der Hypnose und der Breuer’schen Ka thar sis entstanden ist. Nach der Hypnose wurde die « heutige» Technik ent- wickelt, so Freud, die die «Deutungskunst» verwendet, um von der psychischen Ober fläche her die Widerstände bewusst zu machen. Das Ziel bleibt unverändert: « Deskriptiv: die Ausfüllung der Lücken der Erinnerung, dynamisch: die Über - windung der Verdrängungswiderstände» (S. 127) 1. Im folgenden Abschnitt beschäftigt sich Freud mit dem Vergessen, das sich dem Erinnern entgegenstellt. Er hält fest, dass das Vergessen auf eine « Absperrung» zurückgehe, die « Verdrängungsschranke» , die zwischen bewussten und unbewuss- ten Inhalten trennt und durch Deutung aufgehoben werden könne. Es handle sich um Inhalte, die der Patient, nachträglich gesehen immer schon gewusst, nur nicht bedacht habe – also um symbolisch repräsentierte Inhalte, wie aus heutiger Perspektive gesagt werden kann, wo es Sprache, Sach- und Wortvorstellungen gibt. Auch die Kindheitsamnesie tritt als Hindernis gegen das Erinnern auf, schreibt Freud, sie werde jedoch durch die Deckerinnerungen «vollständig auf- gewogen» (S. 128). Er nimmt an, dass die Deckerinnerungen «die vergessenen Kinderjahre so zureichend (repräsentieren), wie der manifeste Trauminhalt die Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 11 Traumgedanken» (S. 128). Die Kindheitsamnesie lässt sich überwinden, indem das Material aus den Deckerinnerungen entwickelt wird. Freud bezieht sich auf den Traum als Modell. So wie die unbewussten Phantasien und Triebwünsche durch die Traumarbeit entstellt und unkenntlich gemacht werden, um die Zensur zu umgehen und in Form des manifesten Trauminhaltes ins Bewusstsein zu gelangen, so können umgekehrt der manifeste Trauminhalt mit Hilfe der Assoziationen des Träumers erschlossen und die verdrängten Triebwünsche aufgedeckt und gedeutet werden. Es ist dieses Vorgehen, das Freud in seiner Abhandlung über den «Wolfs- mann» anwendet, wo er in akribischer Arbeit den Symptomen, Träumen und Er in ne rungen nachgeht und sie minutiös entziffert. Im Einklang mit seinen An nahmen über den Ödipuskomplex deutet Freud die Symptome des Wolfsmannes als Ausdruck der Kastrationsangst und der negativ ödipalen, also homosexuellen Wünschen gegenüber dem Vater. Neben den äusseren Eindrücken und Ereignissen, die vergessen werden kön- nen, erwähnt Freud als zweites die innerpsychischen Vorgänge, wie «Phantasien, Be ziehungsvorgänge, Gefühlsregungen und Zusammenhänge», von denen er fest- hält, dass sie nicht erinnerbar sind, weil sie nie bewusst waren und deshalb auch nicht verdrängt werden können. Anstelle der Verdrängung seien Mechanismen am Werk wie sie bei der Zwangsneurose auftreten, bei der die «Auflösung von Zu sam menhängen, Verkennung von Abfolgen, Isolierung von Erinnerungen» im Zen trum stehen (S. 128 f.). Nochmals fühlt man sich an den «Wolfsmann» erinnert, den Freud als Fall von Zwangsneurose behandelt hat, und der bereits als kleiner Bub unter schweren Ängsten, Zwängen und Phobien litt. Doch die Formulierung über die «Auflösung von Zusammenhängen, Verkennung von Abfolgen, Isolierung von Erinnerungen» lässt aus heutiger Perspektive auch an Autoren wie Bion (1967) und dessen Konzept der «Angriffe auf Verbindung» oder an die Arbeit von Green (2002b) über «Die zentrale phobische Position» denken. Green beschreibt darin ein grundsätzlich phobisches Funktionieren des psychischen Apparates, das sich auf das Zerstören von Zusammenhängen ausrichtet, um einem traumatischen Zusammenbruch des Ichs zu entgehen. Es handelt sich um den Bereich der Grenzfälle und der frü h en Störungen, wo es nicht primär um unbewusste Konflikte geht, sondern der psychische Apparat insgesamt bedroht ist und sich gegen die Gefahr eines Zu sammenbruchs organisiert. Freud fügt eine dritte Bemerkung zum Vergessen an: 12 Uorschla Guidon Für eine besondere Art von überaus wichtigen Erlebnissen, die in sehr frühe Zeiten der Kindheit fallen und seinerzeit ohne Ver ständ- nis erlebt worden sind, nachträglich aber Verständnis und Deutung gefunden haben, lässt sich eine Erinnerung meist nicht erwecken. Man gelangt durch Träume zu ihrer Kenntnis und wird durch die zwingendsten Motive aus dem Gefüge der Neurose genötigt, an sie zu glauben[.] (S. 129; Hervorh. i. O.) Freud weist hier den frühen Erfahrungen eine zentrale Bedeutung zu. Er hält fest, dass sie «ohne Verständnis» erlebt werden. Winnicott (1974) nimmt die- sen Gedanken in seiner berühmten Arbeit «Die Angst vor dem Zusammenbruch» auf, die weiter unten nochmals zur Sprache kommt. Das kleine Kind – so wäre zu ergänzen – kann sich noch nicht erinnern und vorstellen, was ihm geschieht, weil sein Ich noch nicht genügend entwickelt ist. Frühe Erfahrungen können nur erschlossen und vermutet werden und wir sind darauf angewiesen, uns anhand des Materials der Träume, der Deckerinnerungen oder eben jener «zwingendsten Motive aus dem Gefüge der Neurose» (1914g, S. 129) ein Bild zu machen. Der Traum der Wölfe Wie in der Studienausgabe des Freud-Textes jedoch als Fussnote 2 (1914g, S. 209) ausgeführt wird, hat Freud bei dieser Bemerkung über die frühen Erlebnisse den «Wolfsmann» im Auge. Im Kapitel IV seiner Abhandlung über den « Wolfs- mann» analysiert Freud einen Traum, den dieser als «drei-, vier- oder fünfjähriger Bub» geträumt hat (1918b, S. 54 ff.). Es handelt sich um den berühmten Traum der Wölfe, die vor dem Fenster auf einem Baum sitzen – auf demselben Baum übri- gens, der bei der Halluzination des abgeschnittenen Fingers eine Rolle spielt. Die Wölfe sitzen ganz ruhig da, nur das Fenster öffnet sich plötzlich, und der Träumer erwacht in grosser Angst. Es ist dieser Traum, der dem «Wolfsmann» seinen Namen gab. Freud deutet ihn als Darstellung des sexuellen Aktes der Eltern. Er vermutet, der kleine «Wolfsmann» habe als Baby im Zimmer der Eltern schlafend erlebt, wie diese sexuell miteinander verkehrten und sei darüber erwacht. Dieses nicht erinnerbare Erlebnis habe er im Traum der Wölfe nachträglich zur Darstellung ge bracht. Hinter der «eigentümlichen Ruhe» des Traumes deutet Freud, in ihr Ge gen teil verkehrt, die heftige Bewegung des sich liebenden Paares. Die Zensur ist durch die Ruhe des manifesten Traums getäuscht, wenn nur das Fenster sich nicht öffnen würde. Die Abwehr versagt, wie die Angst des Träumers anzeigt, der über die hereinbrechenden Inhalte erwacht. Ein Angsttraum also. Erstaunlich nur, Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 13 dass Freud nicht die Phantasie der Urszene deutet, sondern auf das reale Ereignis stösst – ein Konkretismus? Eine Ahnung über die fehlende Repräsentanz? Ein trau - matisches Element? Aber Freuds Formulierung: «Man (…) wird durch die zwingendsten Motive aus dem Gefüge der Neurose genötigt, an sie [die frühen Erfahrungen; UG] zu glauben» (1914g, S. 129) weist noch in eine andere Richtung. Zunächst seien Freuds Sprachkunst und analytische Präzision vermerkt: Es drängt sich uns eben auf, wir werden «genötigt», bestimmte Dinge zu denken und «zu glauben», wenn wir uns dem Fluss der Assoziationen überlassen und dem zuwenden, was vom Patienten an Gesagtem und Ungesagtem kommt. Freud bezieht sich hier auf die gleichschwe- bende Aufmerksamkeit, auf das «Hören mit dem dritten Ohr», wie Reik (1976) diese genuin psychoanalytische Haltung des (Zu-)Hörens genannt hat. Sie bildet mit der freien Assoziation ein Paar und zielt darauf, dem Unbewussten des Patienten das eigene Unbewusste als «empfangendes Organ» zur Verfügung zu stellen (Freud, 1912e, S. 381). Green (2002a) bezeichnet freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit als «dialogisches Paar» und spricht in Verbindung mit dem Setting vom «(…) Bijou, das im Schmuckkästchen (dem Rahmen) enthalten ist» (S. 55; Übers. UG). Die Entstehung des psychischen Raums In seiner Arbeit über die zentrale phobische Position skizziert Green (2002b) ein Modell der freien Assoziation. Er beschreibt das dichte Netz von Bezügen, Rückbezügen, die vor- und rückwärts gewandte Bewegung des Denkens, das der assoziativen Rede folgt. Es ist eine Rede der «rückwirkenden Rückstrahlung» und « vorausweisenden Ankündigung» , der unausgesprochenen Möglichkeiten und retrospektiven Echos (S. 418). Diese «assoziative Ausstrahlung» der Rede verweist auf eine «baumartig verzweigte Struktur des Sinns» (S. 418), der sich ergibt, wenn Analytiker und Analysand miteinander im Kontakt stehen und die Kommunikation von Unbewusst zu Unbewusst gelingt. Doch dieses Zusammenspiel ist fragil. Green beschreibt Patient_innen, de ren psychischer Apparat anti-assoziativ und im Zentrum phobisch eingerichtet ist. Dann spielen die Gedanken nicht. Das Denken wird angegriffen, das Entstehen von Bedeutung verhindert: «(…) der Sinn als Ergebnis der freien Assoziation in der Übertragungsbeziehung (wird) zum Gegenstand einer quasi systematischen Störung und Erstickung», schreibt Green (S. 422; Hervorh. i. O.). Diese phobische Position der Assoziationsvermeidung entspricht Bions Konzept der Angriffe auf 14 Uorschla Guidon Verbindung und hat mit der Verwerfung zu tun. Wieder erscheint das «Jenseits» der Neurose. Auch Roussillon knüpft im Artikel « La pulsion et l’intersubjectivité : vers l’en tre-je(u) » (2004) hier an. Das gelingende Zusammenspiel des analytischen Paa res, das ebenso ein entre-je, ein «Zwischen-zwei-Ich» wie ein entre-jeu, ein Zusammen-Spiel oder Zwischen-Spiel ist, beruht darauf, dass sich zwei Subjekte be - gegnen, die ganz und getrennt sind und über einen psychischen Vorstellungsraum ver fügen, der durch den Prozess der Subjektivierung entstanden ist, in dem sich die Trie be im Austausch mit dem Objekt haben binden und aneignen lassen und sich das Subjekt entlang der Formel Freuds: «Wo Es war, soll Ich werden» entwickeln konnte (1933a, S. 86). «Innen Zwischen Aussen»: Wie sich Innen, Aussen, Subjekt und Objekt aus dem entre-je(u), dem Zwischen- und Zusammenspiel differenzieren Freuds Überlegungen zum Vergessen und Erinnern bzw. Nicht-Erinnern- Können weisen also auf die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen für die Aneignung von Erfahrung hin. Es geht um die Entstehung des psychischen Raums, um die Entstehung von Vorstellungen und Repräsentanzen und um die Integration der Triebe. Wieder zeigt sich eine Schnittstelle, die über die Neurose hinausweist. Denn die Neurose beruht auf einem Modell, das den psychischen Apparat und seine Funktionen voraussetzt. Im ersten topischen Modell geht Freud davon aus, dass die Triebwünsche und Phantasien im Unbewussten repräsentiert sind und durch das Lust-/Unlustprinzip organisiert werden. Die Triebwünsche können zwar ver drängt, verschoben und verdichtet werden, aber sie bleiben im Unbewussten er halten und können im Sinne des Lustprinzips und der halluzinatorischen Wunsch erfüllung erfüllt werden. Nach Freud haben sich verschiedene Autor_innen mit der frühen Ent wick- lung befasst: Melanie Klein als zentrale, frühe Pionierin, Winnicott und Bion, die von ihr ausgehend weitere entscheidende Anstösse gegeben haben, letzterer mit dem Modell des container-contained und den Alpha- und Beta-Elementen. Die Funktion des Primärobjekts wird von Bion so verstanden, dass die Mutter die rohen Erfahrungen und Äusserungsformen des Babys, die Beta-Elemente, aufnimmt und durch ihr eigenes psychisches Funktionieren so verarbeitet, dass sie sie dem Kind auf verdaute und psychisierte, mit Bedeutung verbundene Weise zurückgeben kann (Alpha-Element). Zum Beispiel indem die Mutter das Baby, wenn es schreit, auf den Arm nimmt, es wiegt, mit ihm spricht oder eine Melodie singt, bis es sich Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 15 beruhigt und so die Erfahrung macht, dass es auch psychisch «gestillt» wird und seine Angst aufgenommen und verstanden – das heisst mit Sinn versehen wird. Green (1966/67) beschreibt die Entwicklung des psychischen Raums im Zusammenhang mit der Trennung vom Primärobjekt. Mit Freud geht er davon aus, dass sich das Objekt in der Abwesenheit konstituiert. In der Abwesenheit beginnt sich das Kind die Mutter über die halluzinatorische Wunscherfüllung vorzustellen und mit Hilfe der inneren Gedächtnisspur die Repräsentanz der Mutter bzw. der Brust als erstem Partialobjekt und Symbol für die Mutter zu bilden. Bion (1962) hat dies im berühmten Satz gefasst: «Wenn da kein ‹Ding› ist, ist ‹kein Ding› [no thing/nothing] ein Gedanke » (S. 81 f.). Die genügend gute Anwesenheit der Mutter, das Gehalten-, Versorgt-, Besetzt- und Gespiegelt-Werden bildet die Grundlage für diesen Prozess. Green nimmt an, dass die Mutter bei der Trennung durch die negative Hal- luzination ausgelöscht und gleichzeitig als structure encadrante, als rahmenge- bende Struktur innerlich eingesetzt wird, sodass sich an ihrer Stelle der Raum bil det, der für die Verankerung der Vorstellungen zur Verfügung steht. An Stelle der Verschmelzung und Einheit mit der Mutter entstehen auf diese Weise das (ge trennte) Subjekt und der Raum für die Vorstellungen und die Besetzung neuer Ob jekte. Green (1966/67) schreibt: Die Mutter wird in den leeren Rahmen der negativen Halluzination hi n eingenommen und wird so zur rahmengebenden Struktur für das Subjekt selbst. Das Subjekt errichtet sich dort, wo der Ein setz ung des Objekts der Vorrang vor dessen Besetzung eingeräumt wur de. (S. 134) Green geht davon aus, dass die negative Halluzination der Mutter in dem Moment erfolgt, in dem das Kind die Mutter erstmals als ganzes Objekt wahrnimmt. Des halb wird mit der negativen Halluzination gleichzeitig auch die Trennung von Ich und Nicht-Ich bzw. Ich und äusserem Objekt begründet. Wenn der «glatte Ablauf» versagt Damit komme ich zum zentralen Thema der Abhandlung von Freud, näm- lich jener Gruppe von Patient_innen, bei denen der «glatte Ablauf» der freien As so- ziation, der Erinnerung und Deutung des Verdrängten nicht gelingt, weil – wie auf Grund des Gesagten angenommen werden kann – die Voraussetzungen für die Bildung dieses psychischen Innenraums, in dem die Erfahrungen repräsentiert 16 Uorschla Guidon sind, nicht gegeben sind. Stattdessen bilden sich «fueros»: abgetrennte psychische Bereiche, wie sie Freud (1896) in seinem berühmten Brief an Fliess genannt hat. Freud (1914g) stellt fest: So dürfen wir sagen, der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er repro- duziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt. (S. 129 f.) Zum Beispiel: Der Analysierte erzählt nicht, er erinnere sich, dass er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er be nimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt. (…) Er erinnert nicht, dass er sich gewisser Sexualbetätigungen intensiv geschämt und ihre Entdeckung gefürchtet hat, sondern er zeigt, dass er sich der Behandlung schämt, der er sich jetzt unterzogen hat, und er sucht diese vor allen geheim zu halten. (S. 129) Und Freud kommt zum Fazit: «Solange (der Kranke) in Behandlung ver - bleibt, wird er von diesem Zwange zur Wiederholung nicht mehr frei; man versteht end lich, das ist seine Art zu erinnern» (S. 130). Freud führt hier den Wiederholungs- zwang als Äquivalent für die Erinnerung ein. Durch den Wiederholungszwang gelangt das Material in die Übertragung und wird dadurch erstmals zugänglich. Wiederholen und Agieren dienen also der Darstellung und Kommunikation – wie bei der Pa tien tin, die durch ihre Körperhaltung ein Stück ihrer verlorenen, nicht- repräsentierten Geschichte zum Ausdruck gebracht hatte. Übertragung, Wiederholung, Widerstand und Agieren Freud untersucht nun das Verhältnis von Wiederholungszwang, Über tra- gung und Widerstand und hält fest, dass «die Übertragung selbst nur ein Stück Wiederholung und die Wiederholung Übertragung der vergessenen Vergangen- heit» ist – wobei die Übertragung «nicht nur auf den Arzt, sondern auch auf alle an dern Ge biete der gegenwärtigen Situation» falle (S. 130). Freud schreibt: «Je grös- ser der Widerstand ist, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren ( Wiederholen) ersetzt» (S. 130). Insbesondere, wenn im Verlauf der Behandlung Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 17 die Übertragung feindselig und negativ wird, tritt das Erinnern dem Agieren den Platz ab. Freud: Von da an bestimmen dann die Widerstände die Reihenfolge des zu Wiederholenden. Der Kranke holt aus dem Arsenal der Vergan- genheit die Waffen hervor, mit denen er sich der Fortsetzung der Kur erwehrt und die wir ihm Stück für Stück entwinden müssen. (S. 131) Welch’ kriegerische Metaphern! Zu diesem Kampf um die Entwaffnung lässt sich freilich fragen, ob Freud nicht einer Verführung erlegen ist. Mit Morgen tha ler (1978) könnte so argumentiert werden, der dieses «psychische Seilziehen» zwi schen Ana lytiker und Analysand als Agieren der Gegenübertragung und technischen Fehler des Analytikers bezeichnet. Und mit Blick auf den «Wolfsmann» erinnern wir uns an das Zitat über das «schönste Scheitern der Psychoanalyse» (Green, 1999, S. 36), das möglicherweise daraus resultierte. In Freuds Sprache äussern sich aber auch die Schwierigkeiten, die sich in der Arbeit ergeben und wir erfahren, mit welcher Dynamik wir zu rechnen haben, gerade bei frühen Störungen. Wer kennt nicht das Ringen mit der Gegenübertragung, wenn nach vielen Jahren die Patientin immer noch hartnäckig schweigt und Worte nur gegen schwere Hindernisse abzu- ringen sind? Kommt die Krankheit in die Übertragung, wiederholt sich «Alles»: «Symp- tome, Hemmungen, unbrauchbare Einstellungen, pathologische Charakterzüge» (S. 131). Die Krankheit wird zu einem aktuellen Geschehen zwischen Arzt und Patient, wie Freud schreibt: Wir machen uns klar, (…), dass wir (die) Krankheit nicht als histo- rische Angelegenheit, sondern als eine aktuelle Macht zu behandeln ha ben. Stück für Stück dieses Krankseins wird nun in den Horizont und in den Wirkungsbereich der Kur gerückt, und während der Kranke es als etwas Reales und Aktuelles erlebt, haben wir daran die therapeutische Arbeit zu leisten, die zum grössten Teil in der Zurückführung auf die Vergangenheit besteht. (S. 131) Die Schwierigkeiten wiederholen sich also im Hier und Jetzt der Über - tra gung und sollen in Verbindung mit der Geschichte gedeutet werden. Freud stellt je doch fest, dass das Heraufbeschwören «dieses Stücks realen Lebens» nicht 18 Uorschla Guidon harm los sei. Er kommt auf die negative therapeutische Reaktion zu sprechen, das «Problem der oft unausweichlichen ‹Verschlimmerung während der Kur›» (S. 132 f.). Aber nur wenige Zeilen später plädiert Freud wieder versöhnlich: Der Kranke muss den Mut erwerben, seine Aufmerksamkeit mit den Er scheinungen seiner Krankheit zu beschäftigen. Die Krankheit selbst darf ihm nichts Verächtliches mehr sein, vielmehr ein wür - diger Gegner werden, ein Stück seines Wesens, das sich auf gute Mo tive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu ho len gilt. (…) (Es geht um die) Versöhnung mit dem Verdrängten, wel ches sich in den Symptomen äussert (und um eine) Toleranz fürs Kranksein. (S. 132) Wieder zeigt sich Freud schwankend: Voller Zuversicht empfiehlt er, man könne die Patienten «leicht (…) trösten, dass dies (…) vorübergehende Ver schlech- terungen sind und dass man keinen Feind umbringen kann, der abwesend oder nicht nahe genug ist» – wie er dies fast wörtlich auch in der Abhandlung «Zur Dy namik der Übertragung» (1912b) tut –, um umso deutlicher von den Schwie rig- keiten zu sprechen, wenn im Verlauf der Behandlung «neue, tieferliegende Trieb - re gungen (…) zur Wiederholung gelangen» (1914g, S. 132). Diese Wiederholungen tre ten auch ausserhalb der Übertragung auf und können «vorübergehende Le bens- schä digungen» oder gar eine dauerhafte Beeinträchtigung der Gesundheit mit sich brin gen (S. 132 f.). Erneut verlässt Freud mit seinen Hinweisen das Feld der Neurose. Die Über - tra gung wird negativ, das Agieren nimmt eine destruktivere Dimension an und sprengt den Behandlungsrahmen, es kommt zu einer Gefährdung von Gesundheit und Leben. Dass Freud gerade hier vom «Kampf» mit dem Patienten spricht, er staunt deshalb nicht (Freud 1914g): (Der Arzt) richtet sich auf einen beständigen Kampf mit dem Pa - tien ten ein, um alle Impulse auf psychischem Gebiete zurück zu halten, welche dieser aufs Motorische lenken möchte, und fei ert es als Triumph der Kur, wenn es gelingt, etwas durch die Er in ne rungs- arbeit zu erledigen, was der Patient durch eine Aktion ab führen möchte. (S. 133) Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 19 Von der Bändigung und Bindung durch die Übertragung Freud widmet sich im Weiteren der Frage, was gegen den Wieder ho lungs- zwang zu tun sei. Seine Empfehlung: die «Bindung durch die Übertragung»: Das Hauptmittel aber, den Wiederholungszwang des Patienten zu bändigen und ihn zu einem Motiv fürs Erinnern umzuschaf- fen, liegt in der Handhabung der Übertragung. (…) Wir eröffnen ihm die Übertragung als den Tummelplatz, auf dem ihm gestattet wird, sich in fast völliger Freiheit zu entfalten, und auferlegt ist, uns alles vorzuführen, was sich an pathogenen Trieben im See- len l e ben des Analysierten verborgen hat. Wenn der Patient nur so - viel Entgegenkommen zeigt, dass er die Existenzbedingungen der Be handlung respektiert, gelingt es uns regelmässig, allen Sym p to- men der Krankheit eine neue Übertragungsbedeutung zu ge ben, sei ne gemeine Neurose durch eine Übertragungsneurose zu er setzen, von der er durch die therapeutische Arbeit geheilt werden kann. Die Über tragung schafft so ein Zwischenreich zwischen der Krank heit und dem Leben, durch welches sich der Übergang von der ersteren zum letzteren vollzieht. (S. 134 f.) Bemerkenswerterweise siedelt Freud die Übertragung in einem «Zwi schen- reich» und «Übergang» an, was an Winnicotts Konzepte des Übergangsraums und der Übergangsphänomene denken lässt. Auch der «Tummelplatz», dieses Bild des Spiels, das durchaus wild sein kann, sich aber in einem sicheren Rahmen bewegt, erinnert an Winnicott. Aber es sind auch die Prozesse der Bindung und Entbindung angesprochen, die Green (2001) im Zusammenhang mit der Objektalisierungs- und Desobjektalisierungsfunktion und dem Lebens- und Todestrieb beschrieben hat. Das Freud’sche Diktum der «Bindung durch die Übertragung» erscheint in diesem Kontext als Arbeit an der Bindung oder der Ve r bindung – z. B. wenn wir mit dem Durchbruch aggressiver oder selbstverletzenden Impulsen konfrontiert sind, die sich im Übertragungsgeschehen über die Jahre langsam verstehen und mit Vorstellungen verbinden lassen. Wir arbeiten dann an der Psychisierung und Darstellung von Unrepräsentiertem und damit an Prozessen, die Freud vorausge- setzt hat, als er auf die Deutung ödipaler Konflikte zielte. Bei der Neurose ist der innere Rahmen im Sinne der structure encadrante etabliert. Es gibt einen «Tum- melplatz», ein Übergangs- und Zwischenraum, in dem sich spielen lässt. Bei frühen Störung ist das nicht der Fall. 20 Uorschla Guidon Gelingt es, den Wiederholungszwang in der Übertragung zu halten, so for - mu liert Freud zuversichtlich: «Von den Wiederholungsreaktionen, die sich in der Übertragung zeigen, führen dann die bekannten Wege zur Erweckung der Er in- nerungen, die sich nach Überwindung der Widerstände wie mühelos einstellen» (1914g, S. 135). Dennoch mag Freud seinem «Wundermittel» der Übertragung nicht ganz trauen und baut zusätzlich auf handfeste Absprachen: Die Patient_innen werden verpflichtet, während der Kur keine lebenswichtigen Entscheidungen zu treffen, sondern das Ende der Behandlung abzuwarten. Man muss sich vergegenwärti- gen, dass zu Freuds Zeit die Behandlungsdauer wesentlich kürzer und ein sol- cher Aufschub weniger einschneidend war. Aber wieder sind wir darauf hingewie- sen, mit welchen Kräften wir zu tun bekommen und wie schwierig es ist, ihnen einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, der das Agieren in Grenzen zu halten vermag. Freud räumt denn auch ein, dass es Fälle gibt, in denen «der Patient in einer Wiederholungsaktion das Band zerreisst» oder die Zeit fehlt, «den wilden Trieben die Zügel der Übertragung anzulegen», wie bei dieser älteren Dame, die in Dämmerzuständen Mann und Haus verlässt und mit einer «gut ausgebildeten, zärtlichen Übertragung» zu Freud kommt, diese jedoch «in unheimlich rascher Weise» steigert, so dass sie auch ihn in kürzester Zeit verlassen hat, noch bevor er etwas hätte unternehmen können, um diese Wiederholung zu stoppen (S. 134). Das Agieren nimmt also auch hier eine Form an, die in Sinne des containment nicht zu halten ist. Soweit zu Freuds Text. In Bezug auf meine Hypothese lässt sich zusammen - fassen, dass Freud eine Gruppe von Patient_innen beschreibt, bei denen der «glatte Ablauf» der freien Assoziation, der Erinnerung und Deutung des Verdrängten schei- tert. Das Agieren und Wiederholen von nicht-repräsentierten Erfahrungen steht im Vordergrund und sprengt den Behandlungsrahmen. Die destruktiven Kräfte lassen sich in der Übertragung nicht binden, es kommt zu Abbrüchen und existentieller Gefährdung, wie wir das von Grenzfällen und frühen Störungen kennen. «Jenseits des Lustprinzips»: Die Grenzfälle Green (2012) schreibt, dass Freud mit der Einführung des Wieder ho lungs- zwangs ein Prinzip des psychischen Funktionierens entwickelt hat, das für die nicht-neurotischen Störungen paradigmatisch sei. Der psychische Apparat ist nicht wie bei der Neurose um die Wunscherfüllung und das Primat von Lust und Un lust organisiert, sondern im Zentrum stehen die Wiederholung, das Agieren und die Triebabfuhr, welche auf die Entleerung, Evakuierung oder Exkorporation Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 21 von psychischen Inhalten zielt. Es geht um traumatische Inhalte, die in Form von ungebundenen Impulsen und Erregungen durchbrechen. Sie bleiben dem Pri - märprozess unterworfen, die Verbindung mit der Vorstellung gelingt wegen des traumatischen Gehaltes nicht. Die Prozesse der Vorstellung und Symbolisierung werden durch das Agieren kurzgeschlossen und die gefährlichen Inhalte evakuiert. Mit Donnet hat Green im Buch L’enfant de ça (1973) das Konzept der «weis- sen Psychose» entwickelt, die er als «Keim der Psychose» bezeichnet. Sie äussert sich vor allem in einem Angriff auf den Denkapparat, ohne dass es zu einer mani- festen Psychose kommt. Das Buch beruht auf der Analyse eines Erstgespräches mit einem jungen Mann, der von sich sagte, er sei l’enfant de ça, womit er den Inzest seiner Mutter mit ihrem Cousin meint, aus dem er gezeugt wurde – wissend/nicht- wissend, dass er damit auf das Es (le ça) abzielte. Die Merkmale der weissen Psychose lassen sich nach Duparc (2014) wie folgt zusammenfassen: 1. Ein schlecht strukturierter Ödipus mit Merkmalen einer Bi-Triangulierung (Green), in dem Mutter und Vater schlecht differenziert und entlang einer Spaltung organisiert sind, so dass sie jeweils das Negativ des Andern dar - stellen, ohne dass es einen wirklichen Dritten gibt. 2. Eine Störung des Narzissmus und der Grenzen zwischen Subjekt und Ob - jekt, so dass das Subjekt gefangen ist zwischen der Angst vor der Intrusion des übermässig anwesenden Objekts und der Angst vor dem Verlassen- Wer den durch das übermässig abwesende Objekt. Zwischen Intrusion und Tren nungs angst, zwischen Übererregung und Leere. 3. Der Triumph des Todestriebes, welcher sich auf das Denken und die Vor - stellungen der Objekte und des eigenen Körpers auswirkt, so dass das Agie- ren und Entleeren oder Evakuieren oder Exkorporieren von psychischen Prozessen im Vordergrund steht. Green und Donnet erläutern Merkmale einer Borderline-Störung. Die Ängs te, die da bei eine Rolle spielen, sind mit der Kastrationsangst, die Freud beim «Wolfs mann» gedeutet hat, nicht vergleichbar. Es geht um archaische Ängste, wie Me la nie Klein, Winnicott, Bion und andere sie beschrieben haben: namenlose Angst, Ver nich tungsangst, katastrophische Angst. Winnicott (1990 [1974]) geht im bereits erwähnten Artikel «Die Angst vor dem Zusammenbruch» davon aus, dass die «undenkbaren Seelenqualen» in der Übertragung als Angst vor einem Zusammenbruch imponieren. Er nimmt an, dass es sich dabei um die Wiederholung eines Zusammenbruches handelt, der in der 22 Uorschla Guidon Vergangenheit bereits stattgefunden hat und zwar als Folge eines Versagens der primären Umgebung. Dieser Zusammenbruch wurde erlitten, aber nicht erlebt, weil das Ich nicht genügend reif war, um das Geschehen als eigene Erfahrung unter Kontrolle zu bringen (S. 1120 f.) – wie das in Freuds oben markierter Formulierung angeklungen ist. Winnicott schreibt: Der Patient muss sich daran «erinnern», aber es ist unmöglich, sich an etwas zu erinnern, das noch nicht geschehen ist, und die- ses vergangene Geschehen ist noch nicht passiert, weil der Patient noch nicht (wirklich) da war (…). In diesem Fall ist der einzige Weg für den Patienten, sich zu «erinnern», der, das Vergangene erst- mals in der Gegenwart, d. h. in der Übertragung, zu erleben. Das Vergangene und Zukünftige wird so zu einem Gegenstand des Hier und Jetzt und zum ersten Mal vom Patienten erlebt. Ein Äquivalent zur Erinnerung, und im Resultat ein Äquivalent zur Aufhebung der Verdrängung, wie wir es aus der Analyse psychoneurotischer Patienten (…) kennen. (S. 1122) Winnicott bezieht sich unverkennbar auf Freuds Text. Er betont jedoch ei nen Aspekt der Wiederholung, der eine Zwischenstellung einnimmt. Zwar han- delt es sich um traumatische Ängste, aber die Wiederholung in der Übertragung er möglicht ein Erleben im Dienste des Ichs. Zum Schluss möchte ich deshalb noch ei nen anderen Bogen schlagen. Freud beschreibt in «Jenseits des Lustprinzips» (1920g) im Abschnitt über das Fadenspulenspiel seinen kleinen Enkel. Dieser spielt mit einer Fadenspule, die er von sich wegwirft, was er stimmlich mit einem langgezogenen «o-o-o-o» begleitet, um sie dann wieder zu sich zurückzuziehen und mit freudigem «Da» zu begrüssen (S. 12 f.). Freuds Deutung dieses Spiels: Der kleine Enkel wiederholt die Erfahrung mit seiner Mutter, die ihn verlässt und wieder zurückkehrt. Unter Wendung von passiv in aktiv bringt er ein Ereignis unter seine Kontrolle, dem er ausgeliefert war und stellt es im Spiel symbolisch dar. In Bezug auf den referierten Freud-Text liesse sich formulieren: Der kleine Enkel erinnert und wiederholt, was er erlitten hat und kann diese Erfahrung in seinem Spiel durcharbeiten, immer wieder, um sie unter seine Kontrolle zu bringen, sich ihrer zu bemächtigen und sie sich anzueignen. In dieser von Winnicott ausgehenden Perspektive erscheint «Erinnern, Wie der holen und Durcharbeiten» als Prinzip der Aneignung und Integration von Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 23 Er fahrung, das der Subjektwerdung dient. Die Wiederholung steht im Dienste des Ichs und hat eine konstruktive, der Bewältigung dienende Funktion. Im Ge gen- satz dazu kann die Wiederholung mit den destruktiven Kräften in Verbin dung ste hen, die das Ich bedrohen und zum Zusammenbruch führen. Gelingt es, die Wie derholung im Rahmen der analytischen oder therapeutischen Situation mit dem Patienten zu halten und zu binden, ohne dass wir zerstört werden, kann sich die nicht repräsentierte Erfahrung transformieren und erträglicher werden. Aber wie schon Freud wusste: Es braucht Zeit und gelingt nicht immer. Anmerkungen 1 Sämtliche Zitate stammen, wo nicht anders vermerkt, aus dem referierten Freud-Text von 1914. 2 Die Fussnote lautet: «Der Hinweis [über die frühen Kindheitserinnerungen; UG] bezieht sich auf den ‹Wolfsmann› und seinen Traum aus dem fünften Lebensjahr. Freud hatte diese Analyse gerade abgeschlossen und war möglicherweise dabei, etwa gleichzeitig mit der vorliegenden Arbeit, die Krankengeschichte niederzuschreiben, obgleich diese dann erst vier Jahre später veröffentlicht wurde (1918b) (…).» (S. 209 der Studienausgabe zu Freud, 1914g). Literatur André, J. (1999). Les états limites. PUF. Bion, W. R. (2013 [1967]). Frühe Vorträge und Schriften mit einem kritischen Kom- mentar: «Second thoughts». Brandes & Apsel. Bion, W. R. (1992 [1962]). Lernen durch Erfahrung. Suhrkamp. Donnet, J.-L. & Green, A. (1973). L’enfant de ça. Psychanalyse d’un entretien: La psychose blanche. Les éditions de minuit. Duparc, F. (2014). De l’hallucination négative à la psychose blanche. Vortrag am Freud-Institut Zürich, Schweiz. Freud, S. (1896). Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fliess. Fischer. Freud, S. (1912b). Zur Dynamik der Übertragung. GW VIII, 364–374. Freud, S. (1912e). Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. GW VIII, 376–387. Freud, S. (1914a). Über fausse reconnaissance («déjà-racconté») während der psy - choanalytischen Arbeit. GW X, 116–123. Freud, S. (1914c). Zur Einführung des Narzissmus. GW X, 137–170. Freud, S. (1914g). Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: II. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. GW X, 126–136. 24 Uorschla Guidon Freud, S. (1918b [1914]). Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (Der «Wolfs- mann»). GW XII, 27–157. Freud, S. (1920g). Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, 1–69. Freud, S. (1933a). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XV, 62–86. Green, A. (2012). La Clinique psychanalytique contemporaine. Ithaque. Green, A. (2002a). Idées directrices. Pour une psychanalyse contemporaire. PUF. Green, A. (2002b [2000]). Die zentrale phobische Position – mit einem Modell der freien Assoziation, Psyche, 56(5), 409–441. Green, A. (2001). Todestrieb, negativer Narzißmus, Desobjektalisierungsfunktion. Psyche, 55(09–10), 869–877. Green, A. (1976). Einer, Anderer, Neutrum: Wertskalen desselben. In ders. (2004), Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todes- narzissmus. (S. 31–86). Psychosozial-Verlag. Green, A. (1966/1967). Primärer Narzissmus: Struktur oder Zustand. In ders. (2004), Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todes- narzissmus. (S. 87–140. Psychosozial-Verlag. Morgenthaler, F. (1986). Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis. Syn di kat Pirlot, G. & Cupa, D. (2012). André Green. Les grands concepts psychanalytiques. PUF. Reik, Th. (1976). Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psycho- analytikers. Hoffmann & Campe. Roussillon, R. (2004). La pulsion et l’intersubjectivité: vers l’entre-je(u). In ders. (2008), Le jeu et l’entre-je(u). (S. 1–22). PUF. Winnicott, D. W. (1974). Die Angst vor dem Zusammenbruch. Psyche, 45(12), 1116–1126. Angaben zur Autorin Uorschla Guidon ist 1967 in Scuol geboren. Sie studierte an der Universität Zürich Psychologie, Psychopathologie und Sozialpädagogik und bildete sich am PSZ zur Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin aus. Sie arbeitete von 2000–2001 am Psychiatrischen Ambulatorium in Luzern, von 2001–2010 als Einzeltherapeutin und Leiterin Psychotherapie im Therapieheim Sonnenblick in Kastanienbaum, einem Heim für weibliche Jugendliche mit schweren Entwicklungskrisen. Von 2010–2018 war Uorschla Guidon in der Seminarleitung, in der Weiterbildungskommission und in der Akkreditierungsgruppe des PSZ engagiert. Sie ist Dozentin für die Aus der Vortragsreihe «Mein liebster Freud» (…) 25 Weiterbildung, lebt in Zürich und arbeitet in einer Praxisgemeinschaft als Psy - chotherapeutin, Psychoanalytikerin und Supervisorin.
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