Unser Essay geht assoziativ den Fragen nach, wie der Blick der Anderen den Körper und das Geschlecht des Subjekts kreiert und wie sich das kulturell vorherrschende Blickregime auf trans Menschen auswirkt. Zentrale Funktionsweise dieses Blickregimes ist es, Unsichtbares und Unbekanntes – oder eben: Leerstellen – wegzumachen, indem man diese spekulativ ergänzt bzw. füllt. Das Blickregime erschafft und perpetuiert in der Folge die Geschlechterdifferenz und das Körperbild.
Journal für Psychoanalyse, 62, 2021, 138–153
Am Körper. Von Leerstellen und VersteckspielenEin Essay
Lisa Schmuckli und Patrick Gross (Basel)
Zusammenfassung: Unser Essay geht assoziativ den Fragen nach, wie der Blick
der Anderen den Körper und das Geschlecht des Subjekts kreiert und wie sich
das kulturell vorherrschende Blickregime auf trans Menschen auswirkt. Zentrale
Funktionsweise dieses Blickregimes ist es, Unsichtbares und Unbekanntes – oder
eben: Leerstellen – wegzumachen, indem man diese spekulativ ergänzt bzw. füllt.
Das Blickregime erschafft und perpetuiert in der Folge die Geschlechterdifferenz
und das Körperbild.
Schlüsselwörter: Trans Menschen, Körper, Geschlechterdifferenz, Blickregime
Leerstellen sind im Werk von Marion Baruch augenfällig, so störend wie
notwendig. Sie nehmen gefangen. Unser Essay beginnt mit diesem notwendigen
Umweg. Innenausseninnen überschreibt Marion Baruch ihre Retrospektive, die im
Kunstmuseum Luzern von März bis Oktober 2020 zu sehen war. Marion Baruch,
eine 92jährige europaweit tätige Künstlerin, arbeitet mit Abfall, Stoff, Formen, mit
Texturen und einem Dazwischen. Sie visualisiert, wie das, was fehlt, oftmals dem
Vorhandenen eine Kontur und damit auch eine Bedeutung verleiht. Auffallend
ist ihr Auge für den Schnitt in die Textur. Das, was herausgeschnitten worden ist,
wird durch die Umhüllung sichtbar. Innen-Aussen-Innen. Erst über das Innere –
eine Leerstelle – wird das Aussen geformt und die Kontur selbst sichtbar, ent -
steht ein Aussen ebenso wie ein Innen. Fanni Fetzer, die Kuratorin, schreibt im
Ausstellungskatalog: «Ganz allgemein kreist Marion Baruchs Werk um die Leere.
Formal betrachtet arbeitet die Künstlerin gerne mit Leerstellen, mit Durchsichten,
Transparenz, Aussparungen» (Fetzer, 2020, S. 4). Marion Baruch gibt mit ihren
textilen Kunstwerken etwas zu sehen; sie gibt zu sehen, als Zuschauende können
wir es anschauen und aufgreifen. Sie arbeitet mit Stoffabfällen, ein Material, das
uns allen bekannt ist. Sie sieht jedoch darin etwas, das uns spontan entgeht; und
sie gestaltet den Abfall, so dass wir Überraschendes erkennen können. Sie nimmt
also unseren Blick gefangen und lenkt ihn auf die Leerstellen. Ihr Spiel mit (Stoff-)
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DOI 10.18754/jfp.62.9
Am Körper. Von Leerstellen und Versteckspielen 139
Abfall und Zufall eröffnet uns damit ein Spiel mit Einfällen und Assoziationen.
Erst die Leere und ihr «Versteckspiel» (Fetzer, 2020, S. 2), um das, was sich zeigt
(passiv), was wir sehen (aktiv), was die Leere umhüllt und was wir als Innen oder
Aussen festhalten wollen, schafft das komponierte Bild. Es ist ein Spiel auch um
die unauflösliche Textur von Einschluss und Ausschluss. Kurz: Die Lücke im Stoff
strukturiert ein Gesamtbild. Hinzu kommt, dass ihre Kunstwerke flüchtig, weich, berührbar, gar zufällig
wirken. Die Leerstellen bewegen sich, sind gerade nicht in Stein gemeisselt; es
entzieht sich dem Blick, es bleibt immer auch unverfügbar und unberechenbar,
oft gar durchlässig. Diese Veränderbarkeiten bezaubern und verlangen nicht nur
Aufmerksamkeit, sondern fordern einen zweiten (selbstreflexiven) Blick. Es erscheint uns naheliegend, dass sich auch das Psychische als ein Ver -
steckspiel mit Leerstellen erweist und sich so zeigt. Wir füllen diese Leerstelle bzw.
das, was wir nicht fassen können, was uns umtreibt, antreibt, das, was uns erregt
oder auch aufregt mit eigenen Vorstellungen. Wir sind laufend bestrebt, spürbare,
(sprachlich) noch nicht erfasste Leerstellen oder ein Nicht-Wissen mit Phantasien,
Bildern oder Erinnerungen zu füllen und damit zu ergänzen. Wir sind bestrebt, auf
vielfältige Weise – und das heisst: vom Unbewussten mitverfasst, nahe an den eige -
nen Erfahrungen, oft auch gelenkt von Vorurteilen und kollektiven Normierungen,
auch nahe am Wissen und möglichst widerspruchsfrei – Erklärungen für die Rätsel
der Aussenwelt zusammenzusetzen, geradezu kritisch bis kunstvoll eine Erklärung
zu komponieren. Wir visualisieren das Innere mittels Einbildungskraft, wir brin-
gen es zur Sprache und setzen es in komplexen Momenten vor uns hin. Ist nun
eine solche Erklärung in die Welt hinausgesetzt, beginnt wiederum ein Prozess
der An näherung, der Befragung, der Aneignung, auch der Verinnerlichung. Ein
psychi scher Prozess von Innen nach Aussen wieder nach Innen. Innenausseninnen
also. Und zugleich entzieht es sich auch hier: das Psychische lässt sich gerade nicht
fixieren, das Rätselhafte nicht ein für alle Mal erklären. Die Leerstellen verändern
und bewegen sich; sie treiben Einbildungskraft und Erklärungswunsch voran. Sie
können niemals vollständig gefüllt werden. Wir ergänzen sie unbewusst – und
stellen sie zugleich wieder her. Von einer solchen Leerstelle berichten trans Menschen. Wie sie sich selber
in ihrem Körper erleben und wie sie wahrgenommen werden, klafft auseinan-
der. Das psychische Selbsterleben und die eigenen Erfahrungen, die Erzählungen
und Selbstauslegungen und, etwas distanzierter, die Selbstdefinitionen prallen
auf Fremdwahrnehmungen und Zuschreibungen von aussen, auf konstatierende
140 Patrick Gross und Lisa Schmuckli
Blicke von anderen. Der Körper wird in den Blick genommen, von innen und aus-
sen, und zum eigentlichen Kampffeld. Arbeit am Körper
In einer industrialisierten, von umfassender Arbeitsteilung geprägten
Ge sell schaft ist der Körper – vermittelt über diverse Techniken – an der Arbeit:
Ar bei ter*innen bedienen in Fabrikhallen die Maschinen, reparieren Autos, bedie-
nen Computer oder ernten auf dem Feld, fahren schwere Mähmaschinen oder
bau en Häuser, schichten Ziegelsteine, teeren Autobahnen oder übernehmen in
fremden Haushalten das Waschen, Kochen, die Kinderbetreuung. Die sozialen
Klassen – ob Arbeiter*in, Bäuer*in, Bürgerliche*r – zeigen sich nicht nur an Klei-
dern, Statussymbolen oder im Habitus; sie verkörpern sich radikal. Die feinen
Unterschiede zeigen sich gerade auch in der Handhabung des eigenen Körpers
und daran, ob der eigene Körper anderen (den Arbeitgebern, den Offizieren, den
Hausherren) zur Verfügung gestellt werden muss. Am Körper selber machen sich
(überschneidend) klassen- und geschlechtsspezifische Unterschiede fest. Gegenwärtig erleben wir paradigmatisch die Arbeit am Körper. «Eine Fee
gewährt einer Frau einen Wunsch. Dünne Oberschenkel, antwortet sie. Die Fee
ist empört: ‹Sieh dir an, in welchem Zustand die Welt ist – und du willst für dich
dünne Oberschenkel?› Die Frau kleinlaut: ‹Du hast recht. Bitte dünne Oberschenkel
für alle›» (Drolshagen, 1995, S. 93). Worauf es uns hier ankommt, ist einerseits der
Rückzug auf den Körper als Ort einer Einflussnahme. Wenn man schon nicht die
Welt verändern kann, dann zumindest den eigenen Körper. Die Arbeit am Körper
kann auch als Kompensationsleistung gegen die politische Ohnmacht entziffert
werden. Zugleich ist es eine Arbeit, die unmittelbar sichtbar wird, endlos sein
kann und ein Gefühl für sich selber wachhält. So entschwindet vermeintlich der
Körper bzw. das Subjekt nicht. Der Körper wird zum Austragungsort der eigenen
Selbstverwirklichung ebenso wie der Selbstdisziplin und des Erfolgs. Anderseits ist
diese Arbeit am Körper nicht nur Rückzug aus dem Politischen, denn der Körper
selbst ist zunehmend Mittelpunkt des Politischen: über die Frage der Klasse, der
Hautfarbe, des Geschlechts, der Gesundheit, der Unversehrtheit, des Alters und
des Sterbens, auch der Schönheit, der Verfügbarkeit (über den Körper als ‹Natur›)
wird der Körper zum Politikum. «Wir haben den Körper nicht entblösst: Wir haben ihn erfunden, und er ist
die Nacktheit, und es gibt keine andere, und was sie ausmacht, ist, fremder zu sein»,
schreibt Jean-Luc Nancy (2014, S. 13). Der Körper ist uns in seiner Versehrtheit
fremd geworden. Um diese fremde Nacktheit zu überwinden, eignen wir uns den
Am Körper. Von Leerstellen und Versteckspielen 141
Körper wieder an, machen wir uns den Körper gefügig und Untertan. Wir bear -
beiten ihn nach den gesellschaftlich dominanten, konventionellen Vorstellungen.
In der Gegenwart wird der Körper vor allem ästhetisiert. Der Körper wird weniger
wahrgenommen, erfahren und erhört als vielmehr beobachtet, bearbeitet, seziert
und nach dem eigenen Geschmack gestaltet. Er wird dem «ärztlichen Blick», wie es
Michel Foucault nannte (vgl. Foucault, 1976), unterworfen und unter diesem Blick
peinlichst genau kontrolliert, zielgerichtet gepflegt oder eben gemartert. So wird
der Körper zur individuellen Schöpfung, eine Kreation jedoch, die den gesellschaft-
lichen Normen ebenso unterliegt wie den eigenen unbewussten Vorstellungen.
Der Körper wird instrumentalisiert – und folglich zu unserer eigenen Skulptur
(vgl. Schmuckli, 2001). Skulptur: offenbar macht man sich eine Vorstellung (oder übernimmt sie
unbewusst), wie man sich sehen möchte, wie man sich anderen zeigen will oder
wie man sich als Teil einer Gruppe zu erkennen gibt, und beginnt, am eigenen
Körper zu arbeiten (ob im Fitnessstudio, über Mode oder mittels Chirurgie), so dass
man das eigene Wunschbild konkretisiert. Der Körper wird in jeder individuellen
Skulptur von neuem erfunden. In diesem Prozess wird geschwitzt, gelitten, bezahlt,
ver ändert, eingegriffen; es wird ein Blick von aussen auf sich selber verschärft.
Viel leicht wird Schönheit, Gestaltungswille, gar Macht ausgelebt – der Ort der
An eignung und Veränderung ist jedoch der eigene Körper. Auf spezifische Weise
tref fen Sublimierung und Gewalt bei der Formung der eigenen Skulptur zusammen
(vgl. Rath, 2019, S. 77 ff.).
Kommen trans Menschen zu uns in die Praxis mit dem Druck, sich als trans
Menschen erst Gehör verschaffen und ihre Not erst legitimieren zu müssen, erzäh-
len sie oft von einer Erfahrung, im «falschen Körper» zu leben. Sie schildern ihre
Innenwelt, ein psychisches Geschlecht, und die befremdenden Zuschreibungen
der Aussenwelt an ihren materiellen Körper.
Als transidenter Junge leidet man zweifach. Man wünscht sich
nichts sehnlicher als einen männlichen Körper, um sich mit dem
Leben eins zu fühlen, um sich ausdrücken und austoben zu kön
nen. Und dann kommt zusätzlich noch ein Rollendruck dazu. Man
wird dauernd ermahnt, sich auch wirklich wie ein Mädchen zu
verhalten, wird ins Ballett geschickt, soll in der Handarbeit Flick
socken stricken und Küchenschürzen nähen; die Haare werden zu
Zöpfen geflochten, im Schrank drohen Kleidchen und Blusen. (…)
Jahrelang lebte ich mit diesem Konflikt und merke erst jetzt Schritt
142 Patrick Gross und Lisa Schmuckli
für Schritt, dass die meisten Menschen solche Gedanken gar nicht
kennen. Ihre Innen und Aussenwahrnehmung stimmen überein.
Etwas, was mir komplett fremd ist. (Flütsch, 2014, S. 110)
Das gespürte, erlebte psychische Geschlecht und der materielle Körper stim-
men (vor der Transition) nicht überein. Der Körper ist ein falscher. Die Metapher
des «falschen Körpers» ist so produktiv wie problematisch: gibt es denn einen «rich-
tigen Körper»? Wie würde sich ein solch «richtiger Körper» anfühlen? Ist der Körper
falsch oder ist die Metapher vielmehr Hinweis einer Leerstelle, Ausdruck einer
Kluft zwischen Selbstwahrnehmung und (rollen-nahen) Fremdzuschreibungen?
Verweist die Metapher auf eine Wiederholung, nämlich auf die Hierarchisierung
zwischen Körper und Psyche, diesmal jedoch mit umgekehrten Vorzeichen?
Meine Seele hat einen neuen Resonanzkörper bekommen. In allem,
was ich tue, denke und bin, kann ich heute mein Wesen in mei
nem Körper viel besser spüren und zum Klingen bringen. Es ist
nun mal einfach so in unserer Welt, dass man als Mann oder als
Frau wahrgenommen wird. Da hilft es nicht gross, intellektuelle
oder queere* Theorien aufzustellen. Wenn ich durch die Strassen
gehe, wenn ich mit jemandem ein Gespräch anfange, wenn ich
mich um meine Patientinnen kümmere – überall wird mir klar, wie
stark ich durch meinen Körper kommuniziere. Er ist Teil meiner
Persönlichkeit, die nun endlich auch äusserlich wahrgenommen
wird. (Flütsch, 2014, S. 218)
Der Körper wird genommen, bearbeitet, angepasst. Solange trans Men-
schen das heteronormative Passing gelingt und sich damit die Zugehörigkeit
si chern lässt, er scheint auch der Körper nicht mehr als Problem (vgl. Hoenes, 2013).
Mit anderen Wor ten: Der Körper wird selbstverständlich und er verschwindet. Hat
der Körper sei ne Funktion erfüllt, nämlich Transporteur abwechslungswei se des
Geschlechts, der Psyche, von Selbstbildern, von Selbstausdruck (von Schönheit
oder Erfolg, etc.) zu sein, verschwindet er. Er hat ausschliesslich als Ort des
Unsichtbarem einen Stellenwert. Der sich entziehende, verschwindende Körper wird zu einer vieldeutigen
Leerstelle – und bleibt beharrlich Ort des Eingriffs bzw. des Einschnitts. Diese
zeitgeschichtlich bedingten Körpervorstellungen und Körperbilder müssen als
Am Körper. Von Leerstellen und Versteckspielen 143
«Narration der Kultur in anatomischer Verkleidung» (Laqueur, 1992, S. 267) ent-
ziffert werden. Sehen und Gesehen-werden
Der Körper ist mit dem Blick beschrieben und wird folglich kulturell codiert.
Der (imaginär-unbeschriebene) Körper erhält vorab die Funktion, das Sehen oder
das Gesehen-Werden zu symbolisieren. Nicht nur der Blick wird gespalten, auch
die kollektiv wirksame Codierung spaltet sich. So schleifen sich jene paradoxen
Zuschreibungen ein, die Intellektualität, Kraft, Führungsfähigkeit und somit das
aktive Sehen der Welt dem Mann und Leiblichkeit, Sinnlichkeit, die Pflicht zur
Schönheit und damit das passive Gesehen-Werden nur der Frau zuweisen. Die
Frau wird als Gesehene zwingend zum Bild:
Diese Funktion, in der die Frau, wie ich es nennen würde, einen
«Status als Bild» erhält, verweist auf den Zusammenhang von visu
eller Repräsentation und sexueller Differenz. (Eiblmayr, 1993, S. 92)
Das optische Schisma hat Luis Buñuel in seinem Film Le chien andalou
eindrücklich mit dem durchschnittenen Auge thematisiert. Im Film lässt sich die-
ser Schnitt auch als Teilung des Sehens in den sehenden Mann und die gesehene
Frau interpretieren. In dieser Aufspaltung wird die Frau im Status als Bild gefangen
gehalten und zum Objekt der Begierde des männlichen Blicks. In dieser Spaltung
zwischen (männlichem) Sehen und (weiblichem) Gesehen-Werden bekommt die
Ka mera eine neue Funktion: Sie wird selber zum Blick. Blick und Kamera werden
synonym – und verändern damit auch die Formen des Betrachtens. Daraus ergeben
sich zwei Konsequenzen: Erstens verfügt jetzt der Blick über alle Merkmale, die
man einst dem Original zugeschrieben hatte. Das Original ist einmalig, wird vom
In dividuum poietisch hervorgebracht und steht in enger Beziehung zu Bildern
und Worten des Unbewussten.
Eine solche Konzeption von Original, bei dem der Blick an die
Stel le des Werks rückt, konnte freilich erst entstehen, nachdem die
technischen Bilder – Photographie, Film, etc. – das traditionelle
Kon zept des einmaligen Kunstwerkes obsolet gemacht haben. (von
Braun, 1993, S. 80)
144 Patrick Gross und Lisa Schmuckli
Zweitens verlagert sich die Kamera als Blick in das Sehen selbst. Man
lernt, sich selbst mit dem Blick einer Kamera zu sehen und nimmt sich selbst
so wahr, als würde man permanent vor einer Kamera posieren. Man hat diesen
Ka merablick verinnerlicht und unterwirft nun die eigenen Wahrnehmungen die-
sem Blickregime – einem Blickregime, das paradoxerweise internalisiert ist und
aus serhalb des eigenen Blickes liegt. Gerade dass sich das Blickregime dem eige-
nen Blick entzieht, gleichsam als blinder Fleck zu einer Gewohnheit wird, bewirkt
seine Unheimlichkeit. Das Blickregime verdeutlicht, dass Sehen nicht nur eine körperliche, son-
dern auch eine visuelle Leistung in dem Sinne ist, als dass das Sehen die Technik
integriert. Man beginnt zu sehen, wie die Kamera das Sehen vorgibt. Die Technik
wird blick-bildend. Oder mit anderen Worten: Der Körper ist nicht nur der Ort des
Sehens; vielmehr ist Sehen auch eine normative Leistung des Subjekts. Wenn nun
aber das Sehen zu einer normativen Leistung wird, muss das Subjekt sehen, was
zu sehen erlaubt ist und sich mit der herkömmlichen Moral verträgt. Sehen ist
nicht nur eine Leistung des Auges bzw. der Anatomie, sondern auch des Subjekts
bzw. seiner individuellen Phantasie – und seines normativen hermeneutischen
Rahmens. Sehen ist somit eine psychische und eine visuell-sozialisierte Kategorie.
Pointiert (bis hin zum Klischee): Der Mann sieht, die Frau wird gesehen – und wird
eigentlich erst unter seinem Blick zu einer Frau, präziser: sie wird zu seinem Bild.
In diesem Augen-Blick verliert sie ihre Unschuld; der Blick des Mannes erweist sich
als eine «Defloration mit den Augen» (Mattenklott, 1982, S. 237). Die hier geschil-
derte Aufteilung des Blicks auf die Geschlechter stellt zugleich die Auflösung des
Blickregimes in Frage. Können wir uns ein Sehen vorstellen, das sich den norma-
tiven Vorgaben, den kulturellen Bildproduktionen und Phantasmen entzieht? Ein
Sehen, das sich der Überschreitung von Vorgaben verpflichtet fühlt? Ein Sehen,
das auch das Unsichtbare aufzuspüren und diese Leerstelle offenzuhalten wagt? Die Funktionsweise des Auges bzw. die Vorstellung, wie das Auge funk-
tionieren könnte, diente zugleich philosophiegeschichtlich auch als grundle-
gen de Metapher für ‹philosophisches Sehen›, also für das Erkennen: Der Schnitt
im Auge bedeutet nicht nur, dass er sieht und sie gesehen wird und sich die
Ge schlechterdifferenz im Sehen selbst manifestiert. Vielmehr verweist die-
ser Schnitt auch auf zwei Möglichkeiten des Erkennens: Die erste Möglichkeit
be schreibt das Sehen als Übung der Tautologie, die zweite als Übung der Spe-
kulation. – Es gibt in der Folge im ersten Fall ein Sehen diesseits der Spaltung,
ein Sehen, das sich um die Spaltung selbst foutiert und sie aus Unkenntnis igno-
riert bzw. übersieht, so dass man ausschliesslich sieht, was der Fall ist: Man sieht,
Am Körper. Von Leerstellen und Versteckspielen 145
was man sieht. Man wiederholt das Sehen, ohne es mittels Reflexion zu erwei-
tern; auf diese Weise schont sich jener, der sieht, vor Unvorhersehbarem. Aus
der Erfahrung des Sehens wird «eine Übung der Tautologie» (Didi-Huberman,
1999, S. 22), die nichts mehr aussagt, als das Offensichtliche zu besch\
reiben. Im
zweiten Fall beginnt, wer über diese Spaltung des Sehens hinausgeht, zu sehen,
was er sich zu sehen wünscht; man beginnt zu spekulieren und das heisst: man
beginnt unter dem Einfluss der Spaltung zu sehen. «Spekulieren» beschreibt hier
ein Sehen, das «sieht», was man ins Auge nimmt, und zugleich auch, was man
sich zu sehen erhofft. «Spekulieren» erweist sich als sehend erkennen und wün-
schend sehen. Die Lücke, die das Unsichtbare oder Nicht-Sichtbare hinterlässt,
wird beim Spekulieren mit Fiktion und/oder Autobiographischem angereichert.
Die Leere wird also gefüllt. Die Phantasien entwickeln eine Kraft, das Sehen über
das Offensichtliche hinauszutreiben. Diese Erfahrung des Sehens wird zu «einer
Übung des Glaubens» (Didi-Huberman, 1999, S. 22), denn das, was man spekulativ
sieht, entwickelt eine Einsicht und Selbstüberzeugung, an die man nachträglich
mit gutem Grund glauben kann. Wir fragen uns: Was geschieht in einer psychoanalytischen Behandlung
hin sicht lich des angesprochenen Blickregimes? Suchen trans Menschen bei uns
cis Therapeut*innen den bestätigenden Blick auf ihren erschaffenen trans Kör -
per? Gewähren sie uns eine ähnliche Bestätigung vom Körperbild? Füllen wir
aus unterschiedlicher Perspektive spekulativ die Leerstelle «Geschlecht»? Wirkt
al lenfalls dieser gegenseitige, Körperbilder erschaffende Blick wie eine Plombe,
die zusammenhält, was als Komposition auseinanderfallen und infrage gestellt
werd en kann bzw. muss?
Wo Tätowierung war, soll Sprache werden
Was wir ins Auge fassen und sehen, müssen wir nachträglich verbalisieren.
Wir sprechen quasi innere oder äussere «Bilder» bzw. «Bildergeschichten» ab. Sie
schreiben sich, pointiert, auf der Netzhaut ein und wir verbalisieren sie, formen
sie zu Narrativen. Das, was ins Auge sticht, gleicht den Tätowierungen. Tätowierungen: Unter die Haut gestochen, fallen sie den anderen zwar ins
Auge, sind aber oft nicht selbsterklärend und fordern schier dazu auf, angespro-
chen und erzählt zu werden. So haben Tattoos einen Aufforderungscharakter an
die Sehenden, nämlich: nimm mich wahr! Sie fangen den Blick – und schaffen so
etwas, das nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Der Blickfang ist auch Ab len-
kungsmanöver. Tätowierungen im Sinne von psychischen Einschreibungen sind
146 Patrick Gross und Lisa Schmuckli
unsichtbar, oft unhaltbar und verlangen, Sprache zu werden und so an Schmerz
und Unheimlichem zu verlieren. Wo Tätowierung war, soll Sprache werden. Nun gehört nicht viel
theoretische Phantasie dazu zu ahnen, dass zwischen dem was ich
Tätowierung nenne, und dem, was psychologisch das Unbewusste
heisst, ein dichter Zusammenhang stehen muss. (…) Menschen
wach sen in ihre Individualität nicht anders hinein, als indem sie
sich einen Reim auf die Differenz von innen und aussen machen
lernen: sich selbst zu entgehen und für die andren ein Gegenstand
zu sein. Auch wer keine Herztätowierung zur Schau trägt, muss
die Stirn haben, seiner Unsichtbarkeit für sich selbst im Krieg der
Blicke zu behaupten. (Sloterdijk, 1988, S. 25–26)
Trans Menschen fühlen sich in diesem täglichen Kampf der (normativen)
Blicke besonders ausgesetzt und verletzlich, gleichzeitig perpetuieren auch sie
das herrschende Blickregime im Alltag. So erzählte ein trans Mann, er soll hier
Leo heissen, Folgendes: Leo wollte sich vor seinem ersten operativen Eingriff mit
einem trans Mann austauschen, um über Coming-out und Passing, über OPs- und
berufliche Erfahrungen zu reden. Er wusste, dass in seinem Betrieb andere trans
Menschen arbeiten; die Personalabteilung vermittelte ihm einen Kontakt. In der
Sitzung schildert Leo:
Beim vereinbarten Treffpunkt sei «ein Indianer mit langen Sträh
nen, Schlapphut und langem Mantel, vornüber gebeugt». Er sei
erst erschrocken. Sie seien spazieren gegangen. «Es ist denn auch
ein gutes Gespräch worden, ich habe mich beruhigt.» Leo betonte
wiederholt: «Da stand ein Indianer. Es war keine Frau. Das geht
nicht. Ich will als Mann erkannt werden.
Die Begegnung mit einer trans Frau hat Leo mit einer Angst konfrontiert,
die ihn längst quälte. Er fürchtete sich, nach der eigenen Transition nicht ein-
deu tig als Mann erkannt zu werden, sprich: vom Blick des Anderen* nicht zum
Mann «ge macht» und darin bestätigt zu werden, die Zugehörigkeit zum Geschlecht
«Mann» nicht zu erreichen. Gleichzeitig wird Leo mit seinem Blick auch zum
«Schöp fer» der Frau («es war keine Frau») und er erschrickt. Es ist ein Changieren
zwi schen aktivem Erkennen, im Erkennen auch Herstellen und passivem Erkannt-
Am Körper. Von Leerstellen und Versteckspielen 147
wer
den. Leo fürchtet sich im Weiteren, ausgelacht bzw. der Lächerlichkeit preisge-
geben zu werden. Schliesslich hat er Angst, als Unerkannter herauszufallen und
ausgegrenzt zu werden. Und Leo fürchtete sich, ein Fremder zu werden. Nicht
mehr eine Frau, noch nicht ein trans Mann – da droht ein Zwischen-Raum oder
gar ein «Absturz» in eine (bedrohliche) Uneindeutigkeit, die Leo mit «Indianer»
bezeichnet: unheimlich. Das, was Leo ins Auge gestochen ist – einer Tätowierung
gleich – ist nun unter seiner Haut. Was sich bei Leo eingeschrieben hat, ist einerseits das Bild eines von allen
erkennbaren Mannes und anderseits die Vorstellung, dass man auf irgendeine
Weise das Mann-sein verpassen und spezifisch herausfallen kann. Der Schreck,
statt als Mann als Indianer erkannt zu werden, verweist auf einen komplexen Pro-
zess einer «Veranderung» (Maihofer, 2014): Affekte, soziale Unterschiede, Fremd-
heitserfahrungen, Anpassungsleistungen verdichten sich zu einer subjektiven und
kulturellen Momentaufnahme, die sich wiederum (soziologisch und psycho-)ana -
lysieren lässt, um dem Unbewussten auf die Spur zu kommen. Leo verdeutlicht
seinen Wunsch, seine Zugehörigkeit zu den Angepassten, den Einheimischen bzw.
Weissen zu bewahren; vielleicht geht es auch um eine Angst, gewisse Privilegien als
noch cis Frau zu verlieren und/oder als trans Mann nicht zugesprochen zu erhal ten.
Der Wunsch der Zugehörigkeit versteckt auch die Angst, zwischendurch zu fallen,
nämlich weder Mann zu werden noch Frau bleiben zu können, sondern an einem
Nicht-Ort zu stranden. ( Wie dies der Indianer darstellt: Er ist als Indianer nicht in
seinem Land, sondern am Bahnhof; er wird als Mann verkannt und nicht als Frau
erkannt; er signalisiert eher eine verlorene Heimat als eine ersehnte Verwurzelung.)
Leos spontane Schilderung schafft eine Distanz zu sich selber, kreiert eine wohl
grösstmögliche Fremdheit, so, als wäre die Figur des Indianers ansteckend und
als würde sie ihn verandern. Gleichzeitig schafft seine Schilderung ein Bild von
sich als akzeptabler Mann. Leo schafft in der anlehnenden Abgrenzung auch sich
als Subjekt «Mann». Indem er vom Indianer spricht, lässt sich seine Angst ebenso
wie sein Hass (auf die Unausweichlichkeit seiner eigenen Situation) benennen. Leo grenzt sich vom Indianer ab und setzt sich damit eindeutig als Mann,
bzw. er äussert seinen dringenden Wunsch, eindeutig als Mann von anderen
wahr genommen zu werden. Er will in seiner Geschlechtlichkeit eine eindeuti ge
Identifizierung. Die postulierte Eindeutigkeit bedingt jedoch wiederum die Zwei-
geschlechtlichkeit bzw. die Geschlechterdifferenz. Leo verschweigt und bringt zugleich zur Sprache. Er verbalisiert eine Er fah-
rung, indem er etwas visuell Unbewusstes ausdrückt und, gleichsam, vor sich
hin stellt und als Mitteilung in der therapeutischen Beziehung besprechbar macht.
148 Patrick Gross und Lisa Schmuckli
Das, was er verschweigt und anspricht, ist sein Selbstbild als Mann. Was heisst es
denn, als Mann eindeutig identifiziert zu werden? Und verweist diese Frage nicht
implizit auf den Blick der Psychoanalytiker*in, nämlich: was machst du mit mir?
Was machst du aus mir? Und wieder: Geschlechterdifferenz
Trans Menschen stellen die Geschlechterdifferenz an ihrem eigenen Körper
wieder her. Indem sie das psychische Geschlecht verkörpern wollen, überschreiten
sie das körperliche Geschlecht. Trans ist eine Angleichung des Körpers an das psy -
chische Geschlecht; verkörpert wird aber auch nach der Transition ein Geschlecht. Die Geschlechterdifferenz war und ist vor dem einzelnen Subjekt – ob Mann
oder Frau – da und prägt zwingend das eigene Leben. So schreibt Luisa Muraro
(2015):
Die «Zwei» der Geschlechterdifferenz dient – wie die «Drei» der
Dreieinigkeit – ja nicht zum Zählen. Es gilt zu verstehen, dass die
Differenz jedes Einzelwesen durchzieht und es daran hindert, voll
ständig zu sein und sich somit selber zu genügen. (…) Es bedeu
tet zu verstehen, dass sowohl die Beziehung zu sich selbst – zum
Beispiel zu den eigenen Wünschen – als auch die Beziehung zu
den anderen sich niemals in befriedigender Weise auf vorgefertigte
Formen stürzen kann. (S. 9)
Jedes Subjekt muss für sich eine Antwort auf die Geschlechterdifferenz
fin den, gar erfinden. Welche Erfahrungen mache ich als Frau? Was wird mir zuge-
schrieben, unterstellt? Wie gestalte ich mein Frau-Sein? Wo erlebe ich beispiels-
weise soziale Ausgrenzungen und politischen Einschluss? Wie selbst-verständ-
lich ist mir mein Körper? Wie antworte ich mir selber zur Tatsache, gebären zu
können? Welche Visionen habe ich als Frau hinsichtlich einer Welt nach meinen
Vorstellungen? Wie will ich als Frau mit anderen Frauen und Männern zusam -
menleben (können)? Wie antworte ich mir selber auf meine Unvollständigkeit und
Abhängigkeiten? Wie gehe ich mit mir in meinen Selbstfremdheiten um? Wie halte
ich es mit meinen Aggressionen und meiner Gewaltbereitschaft? Welche kollektiv
geforderten Normen, die an eine Frau quasi automatisch gerichtet sind, erfülle
ich, welche nicht? Wie ernst nehme ich meine Erfahrungen? Mit wem tausche ich
mich über meine Erfahrungen aus und denke darüber nach, so dass ich mich, die
Welt, die Zusammenhänge auch erkennen kann? Wie wende ich mich der Welt,
Am Körper. Von Leerstellen und Versteckspielen 149
der Gegenwart zu? Welche Ideen und Vorstellungen beispielsweise zu Freiheit,
Ge rech tigkeit, zu Macht und Politik vertrete ich? Welche eigenen poli tischen The-
men akzentuiere ich? Wie gehe ich mit der Unerfüllbarkeit von Wünschen um?
Wie erlebe ich Beziehungen, die offenbar zwingend die Form verpassen und daher
unbefriedigt bleiben müssen, also einen Mangel offenlegen? etc. Muraro treibt
diese (aus Frauen-Sicht formulierten) Fragen weit über die traditionelle Selbst-
erfahrung hinaus, und zwar in Richtung eines Politikum:
Damals [in den 70er Jahren – PG & LS] entdeckten wir nicht nur,
dass es ein NichtGesagtes gab, was die patriarchale Herrschaft
betraf, und ein Nicht Gewusstes, was die Beziehung zur Mutter
betraf, sondern wir haben das zutage gefördert und ihm Bedeutung
verliehen, mit einer Praxis des Sprechens und der Beziehung unter
uns, und das hat eine Transformation bewirkt. (Muraro, 2015, S. 31)
Die Transformation bezieht sich auf das Bewusstsein der Ge schlech ter-
differenz und die damit einhergehenden sozialen Zuschreibungen, psychischen
Begrenzungen, körperlichen Codierungen und der symbolischen Ordnung. Anders herum heisst dies auch Folgendes: Wir nehmen uns selber, unsere
Welt, die sozialen Räume, in denen wir uns bewegen, immer auch im eigenen
Körper, vom eigenen Geschlecht her wahr. Bevor wir der Sprache, des eigenstän-
digen Denkens und Handelns fähig sind, sind wir in einem (geschlechterdiffe-
renten) Körper, fühlen wir durch unsere körperlichen Sinne und denken wir mit
dem Körper. Auf diesen Körper reagieren in frühen Jahren Bezugspersonen, mit
und in diesem Körper wachsen wir heran … bis wir uns subjektiv in ein Verhältnis
zu unserem ei genen Körper und damit auch zu unserem eigenen Geschlecht set-
zen können, also selbst-reflexiv über uns nachdenken können. Wir wollen damit
hervorstreichen, dass das Geschlecht dem Denken vorausgeht, dass die Differenz
der Ge schlechter in jedem von uns ist und unsere subjektive Entwicklungsge-
schich te eben so prägt wie die eigene Sozialisation. Konstruiert Gender das Soziale
Ge schlecht vor allem als Interaktion zwischen den Menschen und als Wirkung das
Subjekt, so ist die Geschlechterdifferenz jedoch in jedem von uns. Wir sind der
Ge schlechterdifferenz unterworfen und müssen diese als Teil der Befreiungspraxis
ane ignen. Dazu noch einmal Luisa Muraro:
Die sexuelle Differenz ist nicht zwischen, sie ist in: Sie ist in mir,
sie wohnt meiner Existenz inne; so fasse ich sie auf, so erlebe ich
150 Patrick Gross und Lisa Schmuckli
sie: als etwas, von dem ich nicht abstrahieren kann, selbst wenn
ich es wollte. (Muraro, 2015, S. 137)
Wir wollen damit verdeutlichen, dass die aus der Geschlechterdifferenz
abgeleiteten Geschlechterverhältnisse grundlegend und, wenn auch mühselig, ver -
änderbar sind. Es ist eine Geschlechterordnung, die von Hierarchien, Dualitäten,
Herrschaft und Unterwerfung, von Zugehörigkeit und Ausschluss geprägt ist und
historisch-politisch gewachsen, also auch veränderbar ist. Eine erste Schlussfolgerung dieses besonderen Ausgangspunktes Ge
schlech terdifferenz ist, dass das Geschlecht das Individuum prägt, dass das Ge -
schlecht eben im Subjekt ist und dieses strukturiert. Und dass das Geschlecht auf
Un vollständigkeit und Mangel verweist. Die Soziologin und Gender-Forscherin
Barbara Rendtorff formuliert dies folgendermassen:
Daraus müssen wir auch den Schluss ziehen, dass die Aus ei nan der
setzung mit Geschlecht und Geschlechterordnung erstens für je des
Individuum eine elementare strukturierende Bedeutung ha ben,
und dass es zweitens immer eine Geschlechterordnung geben wird,
die die Aufgabe hat, den Umgang mit diesen Beunruhigungen für
das Ganze der Gesellschaft zu regeln. (Rendtorff, 2013, S. 76)
Die Geschlechterdifferenz ist im Subjekt; niemand kann von ihr abstrahie-
ren. Sie geht der eigentlichen Subjekt-Werdung voraus und prägt den Prozess der
Individuation und der Sozialisation. Und: Sie beunruhigt radikal! Das bedeutet
auch, dass ich als Subjekt unvollständig und grundlegend verunsichert bin, also
zwingend auf andere Frauen und Männer, auf Auseinandersetzungen angewiesen
bin, um mich selber (und selbstsicherer) zu werden und um politisch aktiv sein
zu können. Eine zweite Schlussfolgerung verweist auf eine grundlegende Abhängig-
keit und Unvollständigkeit aufgrund der Geschlechterdifferenz. Die Tatsache,
nur ein Geschlecht verkörpern zu können (und niemals gleichzeitig beide
Ge schlechter), konfrontiert uns damit, dass der «sexuelle Körper (…) mit sei-
nen Geschlechtszeichen immer auf die verlorene andere Möglichkeit verweist»
(Rendtorff, 2013, S. 75). Wir sind geschlechtlich wie sexuell unvollständig, eine
Leerstelle, die begehrlich vorantreibt, ein Mangel, etwas Nichtidentisches oder
Nicht-Ich, das uns zur Anderen bzw. zum Anderen treibt.
Am Körper. Von Leerstellen und Versteckspielen 151
Eine dritte Schlussfolgerung ist, dass die Geschlechterdifferenz nicht nichts
ist. Vielmehr ist sie die grundlegende Strukturierung unserer gesellschaftlichen
und symbolischen Ordnung. Das, was diese Differenz ausmacht, ist eine beunru-
higende Leerstelle. Was das Geschlecht ist, lässt sich am Körper, am Verhalten, an
Vorstellungen, an heteronormativen Geboten und Verboten ablesen; aber all dies
ist nicht Geschlecht. Man kann das Geschlecht weder loswerden noch kann man
ihm entgehen (vgl. Rendtorff, 2013, S. 82) – es ist da und zeigt sich im Versteckspiel.
Es setzt das Begehren in Gang.
Innen Aussen Innen
Immer wieder bleibt von neuem offen, rätselhaft und noch nicht be ant-
wortet: Wie eignen wir uns subjektiv unseren eigenen Körper und unser Ge -
schlecht, das (nicht) eins ist, an? Wie organisiert sich die Gesellschaft um die
Ge schlechterdifferenz? Wir möchten mit Luce Irigaray (1991) antworten und zugleich neu infrage
stellen:
Die sexuelle Differenz stellt eine der Fragen oder die Frage dar,
die in unserer Epoche zu denken ist. Jede Epoche hat – Heidegger
zufolge – eine Sache zu «bedenken». Nur eine. Die sexuelle Differenz
ist wahrscheinlich diejenige unserer Zeit. Diejenige, die uns, wäre
sie gedacht, die «Rettung» bringen würde? (S. 11)
Und sie fährt fort, die Radikalität ihrer Frage herausstreichend: «Damit diese
Differenz gedacht und gelebt werden kann, muss die ganze Problematik von Raum
und Zeit neu betrachtet werden» (Irigaray, 1991, S. 13).
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Angaben zum Autor und zur Autorin
Patrick Gross ist Psychoanalytiker in Basel, Leiter der Sprechstunde für
Transidentität und Geschlechterfragen an der Psychiatrie Baselland (PBL), Dozent
am Ausbildungszentrum für Psychoanalytische Psychotherapie (AZPP) in Basel.
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Lisa Schmuckli arbeitet als Psychoanalytikerin in Luzern und beschäftigt
sich seit langem auch als Philosophin mit Themen der Geschlechterdifferenz. Sie
ist Mitglied des PSL. www.lisaschmuckli.ch.
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. Beide arbeiten mit trans Menschen. Sie organisieren seit 2014 theoretisch
fundierte trans Seminare am PSL Luzern.