Buchbesprechungen

Thomas von Salis (2019): Das Lernen und die Gruppe. Arbeiten zum Thema der operativen Gruppe

Das Buch von Thomas von Salis vereint eine Reihe von Aufsätzen, die seine langjährige Auseinandersetzung mit der Operativen Gruppe dokumentieren. Auch Weggefährt*innen kommen zu Wort: Elisabeth von Salis, Erich O. Graf, Franziska Grob, Peter Keimer und Willi Amherd. Der Reader erscheint als 2. Band in der Reihe «Beiträge zur Analyse von Gruppen und Institutionen», die von Thomas von Salis herausgegeben wird. Das Buch eignet sich nicht als Einführung ins Thema der Operativen Gruppe, weil die einzelnen Beiträge eine Vertrautheit mit den operativen Konzepten voraussetzen. Deshalb seien dieser Rezension zwei Zitate vorangestellt, um Theorie und Methode der Operativen Gruppe zu kontextualisieren: «Bauleo sprach stets von ‹einer psychoanalytischen Sozialpsychologie›, deren methodisch-praktisches ‹Werkzeug› die operative Gruppe sei» (S. 55). Psychoanalytische Sozialpsychologie wiederum heisst nach Fromm «die Triebstruktur, die libidinöse, zum grossen Teil unbewusste Haltung einer Gruppe aus ihrer sozial-ökonomischen Struktur heraus zu verstehen» (S. 58). Die Operative Gruppe ist demnach ein Mittel, die Latenz einer Gruppe im Zusammenhang mit ihrem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext zu verstehen, was zu einer Erweiterung der gruppalen Handlungsmöglichkeiten führen soll.

Für Leser, die sich mit operativen oder anderen Gruppen auskennen, bringt die Aufsatzsammlung grosses Lesevergnügen, denn hier haben Autor*innen zur Feder gegriffen, die sich vertieft mit den operativen Konzepten auseinandergesetzt haben. Die berichteten Erfahrungen aus der Praxis mit Arbeitsgruppen sind assoziativ, lebendig und überraschen immer wieder durch geistreiche Reflexionen. Mehrmals erlebte ich beim Lesen ein «Aha», entweder weil mir persönliche Erfahrungen in den Texten begegneten – am eindrücklichsten im Aufsatz von Elisabeth von Salis «Die Ängste des Gruppenleiters» (S. 219–223) – oder weil ich für vage Intuitionen plötzlich Worte fand im Buch. Die bildende Wirkung entfaltet der Reader auch deshalb, weil Thomas von Salis häufig Verbindungen zwischen analytischer Sozialpsychologie und klinischer Psychoanalyse macht, sodass die Verwandtschaft der beiden tiefenpsychologischen Anwendungen deutlich wird. Die Geschichte der Operativen Gruppe in der Schweiz, wie sie von Thomas von Salis in einem Interview mit Peter Keimer (S. 23–39) detailreich erzählt wird, ist für das Selbstverständnis operativer Gruppenkoordinator*innen von grosser Bedeutung, gibt sie doch nicht nur Aufschluss über die Ursprünge des Konzepts, sondern auch Orientierung bzgl. theoretischer Verwandtschaften und sozialer Netzwerke. Thomas von Salis hat den Gründervater des Operativen Konzepts persönlich erlebt, als Armando Bauleo 1980 in Zürich eine Ausbildungsgruppe koordinierte. Er erzählt von seiner besonderen Ausstrahlung, die oft dazu beigetragen habe, dass die unvermeidlichen Widerstände gegen Neues überwunden werden konnten (S. 57).

Diese Didaktik der Verführung ist durchaus auch der Publikation von Thomas von Salis eigen. In einigen Aufsätzen kann man die konzeptionellen Werkzeuge der Operativen Gruppe gleichsam “at work” beobachten, so z. B. im Rahmen einer Familientherapie, wo das auffällige Verhalten des fünfjährigen Töchterchens verschwindet, sobald sich deren Eltern um ihre Paarprobleme kümmern (S. 44 f. und S. 108). Thomas von Salis gewährt Einblicke in seine Arbeit als Supervisor auf einer psychosomatischen Station eines Spitals, wo er den Exorzismus eines Pflegers mit einer anorektischen Patientin als Emergent deutet, «dass in dieser Klinik über die Therapiemethoden wenig Klarheit herrschte und vielerlei […] gemacht wurde ohne genügende wissenschaftliche Fundierung» (S. 133). Von einer anderen Anwendung der Operativen Gruppe berichtet Willi Amherd, der während 28 Jahren Operative Gruppen mit Alkoholkranken und anderen Abhängigen organisiert. Mit Rücksicht auf diese Klientengruppe nimmt er verschiedene Modifikationen des Rahmens vor, damit die «massiven Ängste vor Angriff und Verlust in der Indiskriminierungsphase neutralisiert und der Assoziationsfluss erleichtert werden» konnte (S. 94). Solch kreative und erfahrungsgesättigte Anpassung Operativer Gruppentechnik übte schon früher grosse Faszination auf mich aus, unvergesslich beispielsweise die Erfahrungen Maria Mögels mit der Operativen Gruppe im Wartezimmer einer Mütterberatungsstelle (2003).

Neben den Fallvignetten enthält der Reader aber auch «Anwendungen», die sich auf Sachbücher, Literatur oder Poesie beziehen. Am besten gefallen hat mir das Nachdenken von Franziska Grob über das Lied Hanns Eislers «Lob der dritten Sache» (1931). Nach Bertold Brecht, von dem der Text stammt, erlaubt die «dritte Sache» eine Überwindung der Mutter-Kind-Dyade, die nicht das Ende der Familiengruppe bedeutet, sondern eine neue Form von Verbundenheit ermög- licht. «Man könnte sagen, dass es [im Lied] auch um die Bedeutung und Lösung der Aufgabe in einem gruppalen Setting geht» (S. 87). Franziska Grob attestiert Brecht ein Verständnis der Familie als operative Gruppe. Als letzte Anwendung der Operativen Gruppe berichtet Erich O. Graf über seine Erfahrungen in einer Forschungsgruppe.

In einer seit einigen Jahren andauernden Forschungspraxis mit einer Gruppe von Menschen mit sogenannten psychischen und/ oder kognitiven Schwierigkeiten und/oder Einschränkungen habe ich von zwei Männern mit Down-Syndrom, die in dieser Gruppe seit deren Bestehen mitarbeiten, gelernt wie diese Prozesse des Wechselns von «innen» nach «aussen» und von «aussen» nach «innen» moduliert durch die Idiosynkrasie einer jeden Persönlichkeit ablaufen. (S. 216)

Gemeint ist das Zusammentreffen sogenannter vertikaler und horizontaler Elemente, d. h. die Kreuzungspunkte individueller Geschichte (innen/vertikal) mit dem aktuellen Gruppengeschehen (aussen/horizontal). Aus eigener Erfahrung weiss ich, wie dieses Hin-und-Herpendeln zwischen eigenem Denkstil und kollektivem Denkprozess Momente bestürzender Selbsterkenntnis enthält, wenn die Grenzen des eigenen Denkens im Spiegel des sich in operativen Gruppen ausbildenden Referenzschemas erfahren werden.

Es sind die Erfahrungen in dieser Forschungsgruppe gewesen, die mich meine eigenen Implikationen mit dem eigenen Denken von Separation und Rassismus in oft erschreckendem Ausmass, weit jenseits dessen, was ich manifester Weise zu denken in der Lage gewesen bin, haben erleben lassen. (S. 216)

Die Erfahrung von Erich O. Graf verweist auf das gegeninstitutionelle Moment des Lernens, welches der Operativen Gruppe inhärent ist, in den Worten von Franziska Grob: «Es geht darum, wie Ideologien, denen wir täglich ausgesetzt sind und welche wir internalisiert haben, zu erkennen sind – und herauszufinden, wie da denken möglich ist» (S. 87).

Es ist das Verdienst von Thomas von Salis, diese erhellenden und anregenden Erfahrungen in Gruppen zusammengetragen und publiziert zu haben. Sein kluger Entscheid, für die Einleitung zum Buch den Gruppenanalytiker Robi Friedman (SGAZ) anzufragen, schafft Brücken zu anderen Gruppentheorien. Es wäre wünschenswert, dass auf Band 2 bald ein dritter folgen wird, der die Vielfalt möglicher Anwendungen der Operativen Gruppe noch erweitert.

Literatur

Mögel, M. (2003). Die Gruppe im Wartezimmer – über die Anwendung des operativen Gruppenkonzepts in einer offenen Beratungssituation. In E. O. Graf & E. von Salis (Hrsg.), Erfahrungen mit Gruppen. Theorie, Technik und Anwendungen der operativen Gruppe (S. 91–98). Seismo.

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