Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Dr. Hans Hopf aus Mundelsheim bei Stuttgart hat schon viele wichtige Fachbücher als Orientierungshilfe für die Praxis und für den Lehrbetrieb in Ausbildungsinstitutionen her ausgegeben. U. a. in Zusammenarbeit mit Arne Burchartz die Reihe beim Kohlhammerverlag «Psychodynamische Therapien mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen». Burchartz und Hopf bereicherten in den letzten Jahren unsere Freitagszyklen am PSZ, Hopf u. a. als Experte für die Arbeit mit Kinderträumen.
Im Sommer 2020 nun hat er die Leserschaft mit einem Einblick in die «Ab gründe» des Erlebens eines sehr engagierten Psychotherapeuten konfrontiert.
In seiner einzigartigen Art lässt uns Hans Hopf teilnehmen an seinen auf- regenden Erlebnissen, die ihm als Psychotherapeut widerfahren. Bei seinem wunderbaren Erzählstil kommt einem Hopf so vor wie ein deutscher Irvin D. Yalom.
Wir Leserinnen und Leser werden dazu gebracht, uns mit herausfordern- den, intensiven Gefühlen angesichts des Todes und der Schicksale von in grosse Not geratenen Menschen auseinanderzusetzen.
Zum Beispiel das Leben nach dem Verlassen seines Heimatlandes in einer anderen Kultur.
Was das für eine Familie mit ihren adoleszenten Kindern bedeuten kann, welche Auseinandersetzungen Eltern und ihre jugendlichen Töchter auch überfordern können, wird uns spannend erzählt im Kapitel «Meine Praxis wird umlagert».
Mit viel Zivilcourage versucht der Psychotherapeut einem türkischen Mädchen zu helfen, die indizierte Therapie zu bekommen. Hopf bleibt respektvoll gegen über den Werten der anderen Erziehungskultur und verteidigt die Entwicklungsbedürfnisse der Jugendlichen.
Aber es wird auch aufgezeigt, wie wir trotz grossem Engagement und guter Vernetzungsarbeit mit zuständigen Institutionen manchmal schmerzhafte Begrenzungen unserer Möglichkeiten erleben und eine gute Verarbeitung dieser Erfahrung brauchen.
Hopf schreibt in einer seltenen Kombination aus Verständlichkeit, Klarheit und Differenziertheit und bringt uns auf ganz besonders lebendige Art psychische Erkrankungen nahe.
Der Leser kommt sich so vor, als ob er von Hopf dazu eingeladen würde, ihn als Praxisassistent bei seinen Versuchen zu begleiten, diverse Entwicklungsprobleme und heftige Symptome von Kindern und Jugendlichen zu ergründen und nachvollziehbar zu behandeln.
So geht es einem z. B. im Kapitel 16 mit dem Titel «Gestank und Ekel», in dem von der stationären Behandlung der 12-jährigen Friederike im psychotherapeutisch-heilpädagogisch geführten Kinderheim Osterhof im Südschwarzwald erzählt wird. Friederike litt schon viele Jahre lang unter dem sehr provokativen Symptom des Einkotens und wurde vorher erfolglos verhaltenstherapeutisch in ambulanten Kinderpsychiatrischen Ambulanzen behandelt. Bevor auch klare erzieherische Forderungen an das Mädchen gestellt wurden, wie regelmässige Toilettengänge und das selbstständige Reinigen der verschmutzten Wäsche und ihres Körpers, konnte Hans Hopf mit seinem psychoanalytischen Wissen im ganzen Team ein tiefergehendes Verständnis für Friederikes Symptom entwickeln. Die Schamlosigkeit des in die Präadoleszenz gekommenen Mädchens wurde konstruktiv behandelt. Ohne positive Schamgefühle können Kinder und Jugendliche nicht zu reifen, autonomen Menschen heranwachsen und ihre Intimität nicht schützen.
Konsequent sucht der psychoanalytische Psychotherapeut Hopf neben dem innerseelischen Erleben des Kindes die familiendynamischen Faktoren zu verstehen, die zu einer Entwicklungsblockade führen können, so wie bei Julia im Kapitel «Ein Mädchen zwischen Vater und Therapeut». Wunderschön lebendig und offen schildert der Psychotherapeut die heftige Verliebtheit des kleinen Mädchens und wie er durch das starke Werben seiner Patientin in Verlegenheit gebracht werden kann. Diese eine Geschichte über die sechsjährige Julia und dem erwachsenen Psychotherapeuten Hans macht andere, rationalisierende Beschreibungen von möglicher Verliebtheit in therapeutischen Behandlungen überflüssig. Hier in dieser Erzählung können wir alles von dem, was das sogenannte ödipale Geschehen ausmacht, emotional und kognitiv begreifen. Toll ist es, wie der Autor uns sein eigenes Erstaunen über die Möglichkeit solch einer starken Übertragungsliebe fast körperlich spürbar vermittelt und gerade jungen Kollegen sehr hilfreich aufzeigt, wie kreativ mit diesen starken, verwirrenden Gefühlen umgegangen werden kann.
Hans Hopf hat sich in therapeutischen und pädagogischen Fachkreisen (siehe das Fachbuch «Die Psychoanalyse des Jungen») klar als Kenner der männlichen Psyche erwiesen.
Im Kapitel «Gewalt und Aggression» zeigt er auf, wie geschlagene Buben, die körperliche Gewalt und emotionale Deprivation erlebt haben, in der Schule gescheitert, beleidigt und entwertet werden, schliesslich doch zu narzisstischer Bestätigung in einer Rocker-Clique kommen. Sie wird zur «Heimat der seelisch Heimatlosen.» Die Clique lässt einen traumatisierten jungen Mann glauben, er könne nun etwas von dem wiedergutmachen, was er an Gewalt, Lieblosigkeit durch den Vater und an Schwäche bei der Mutter erfahren hat, die ihn und seine Brüder nicht vor dem gewalttätigen Vater schützen konnte. Der harte Kern solch einer Rocker-Clique besteht aus «vaterlosen», traumatisierten, schwer narzisstisch verletzten jungen Männern, die sehr wohl anziehend wirken können auf in ihrer Adoleszenz vorübergehend verunsicherte junge Männer.
Ein richtiges, lebendiges Erbe hinterlässt uns Hans Hopf mit diesem Buch, dessen Titel «Abgründe» mich nicht ganz zufrieden stellt. Auch wenn der Untertitel – «Spektakuläre Fälle aus dem Leben eines Psychotherapeuten» – klarer werden lässt, worum es geht, so ist diesem Buch doch noch ein anderer Titel zu wünschen, der die starke emotionale Kraft, den Mut und die Fähigkeit, psychoanalytisches Wissen zu nutzen, betont. Ein Titel, der die Arbeit des wunderbaren Menschen und Psychoanalytikers Hans Hopf angesichts der möglichen Abgründe in der Existenz des Menschen deutlich werden lassen.