Das Buch «Simulating the Mind II» von Dietmar Dietrich wird bei Vielen Widerstände provozieren. Bereits der Untertitel weckt Assoziationen, die Skepsis mobilisieren könnten: «Psychoanalyse, Neurologie, Künstliche Intelligenz: ein Modell». Nicht genug, dass hier Psychoanalyse und Neurologie zusammengebracht werden, Dietrich geht weiter und fügt die Künstliche Intelligenz noch hinzu. Allein, dieses Buch ist wie eine Psychoanalyse: es lohnt die Widerstände auszuhalten und auf diese mit dem Wunsch zu verstehen zu reagieren.
Um beim Widerstand zu beginnen: der Untertitel und der Buchrückentext, in dem es heisst, dass das erklärte Ziel darin bestehe ein einheitliches Modell von Psyche und Körper auf Grundlage der Psychoanalyse, Neurologie und Computertechnik zu entwickeln, könnte in dem Einen oder der Anderen die Sorge auslösen, dass hier die Psychoanalyse Freuds vom Entwurf her verstanden und unter eine fremde Methodik gestellt werden soll. Dietrich hält den Lesern gegen über wiederholt fest, dass die fachinternen Methodiken aller beteiligten Experten, also auch der Psychoanalytikerinnen, zu respektieren sind. Mehr noch: es wird erklärt, wieso die klinische Situation der Psychoanalyse eine valide empirische Forschungsmethode für die Entwicklung metapsychologischer Modelle ist. Die Kernthese des Buches lautet, dass für die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz, die tatsächlich menschliche Fähigkeiten besitzt, es notwendig ist, dass Computertechniker, Neurologinnen und Psychoanalytiker auf Augenhöhe zusammenarbeiten müssen, um gemeinsam ein Modell des Gehirns und seines psychischen Apparats zu entwickeln. Dieses Projekt ist keine blosse Idee Dietrichs, es ist von ihm im Projekt SiMA (Simulating the Mind and Applications) bereits realisiert worden: in seinem Buch führt er die Leser in die Grundlagen und einige Ergebnisse desselben ein.
Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Motivation und philosophisch en Grundlagen und hier kommt bereits der erste Reizpunkt auf, denn es wird er klärt, dass diese Zusammenarbeit an Psychoanalytikerinnen eine entscheidende Bedingung stellt: sie müssen die metapsychologischen Theorien in einer Begrifflichkeit formulieren, damit Computertechniker diese über Simulationen experimentell testen können. Aber warum überhaupt Metapsychologie? Diese Frage wird in den folgenden Kapiteln nach und nach erläutert. Im 3. Kapitel widmet sich Dietrich der Beschreibung der Modelle, die in SiMA verwendet wurden, wozu in entscheidender Weise die freudsche Metapsychologie und dabei insbesondere das Strukturmodell zählen. Im 4. Kapitel widmet sich Dietrich den technischen Problemen, die sich dem Naturwissenschaftler stellen, wenn er sich mit der Psyche beschäftigt. Am Ende dieses Kapitels wird schliesslisch die Frage geklärt, wieso aus gerechnet der Metapsychologie eine leitende Rolle zufällt. Der Grund ist, gemäss Dietrich, dass die freudsche Metapsychologie die einzige psychologische Theorie ist, die die Anforderungen der Computertechnik erfüllt und damit experimentell testbar ist. Das darum, weil es die einzige Theorie ist, die versucht hat, ein ganzheitliches Modell der menschlichen Psyche als abstraktes Funktionssystem zu ent wickeln, was eben eine notwendige Voraussetzung ist, damit Computertechniker ein solches Modell testen können.
Um aber erklären zu können, wieso das so ist und wie die Zusammenarbeit genau aussieht, muss Dietrich ausholen und im 5. Kapitel die Leser in die Grund lagen des Chipdesigns und der Informationstechnologie und -theorie einführen. Dieses Kapitel mag der Eine oder die Andere als Länge empfinden, es lohnt sich aber, diese Passagen aufmerksam zu lesen. Allein schon als wissenschaftsgeschichtliche Einführung in die Entwicklung der Computer- und Informationstechnik ist die Lektüre interessant. Findet man darüber hinaus einen Zugang zum Inhalt dieses Kapitels, merkt man, dass die dargelegte Denkweise eine neuartige und revolutionäre exegetische Perspektive auf die Metapsychologie Freuds eröffnet. Man beginnt Freuds scheinbar widersprüchliche Aussagen zum Verhältnis zwischen psychischen Apparat und Gehirn als Ausdruck einer konsistenten Position zu verstehen – die einem nebenbei eine neue Verständnisweise für psychosomatische Symptome anbietet. Man lernt bemerkenswerter Weise durch die Perspektive eines Ingenieurs Freuds Metapsychologie nochmals neu verstehen und sieht dabei, dass sie der Theoriebereich der Psychoanalyse ist, der die Brücke zu den Naturwissenschaften bildet.
Hat man diese Ausführungen gelesen, ist das 6. Kapitel umso gewinnbringender, in dem Dietrich Stück für Stück erklärt, wie in SiMA das Modell des psychischen Apparats – in dem erste Topik und Strukturmodell vereinigt sind – entwickelt wurde. Dieses Modell ist selbstverständlich kein Endpunkt der Arbeit, es ist ein Anfangspunkt eines Forschungsprozesses, der eine «unendliche Geschichte» (Dietrich, 2021, S. 87) werden wird.
Man kann also, die anfängliche Sorge aufgreifend festhalten, dass Dietrich die Psychoanalyse nicht vom Entwurf sondern vom Abriss her versteht, in dem Freud (1940a), mit Bezug zur Metapsychologie, schreibt:
Während man in der Bewusstseins-Psychologie nie über jene lückenhaften, offenbar von anderswo abhängigen Reihen hinauskam, hat die andere Auffassung, das Psychische sei an sich unbewusst, gestattet, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten. (S. 80)
Dietrich zeigt uns, dass Freud, allen Verdrängungsversuchen der Metapsychologie zum Trotz, Recht behalten hat. Und die Widerstände, die das Buch provozieren mag, lassen sich so als Reaktionen auf die Wiederkehr des Verdrängten verstehen. Arbeitet man dieses Buch durch, kommt man zum abschliessenden 7. Kapitel, welches eine gewaltige Aufbruchsstimmung und Vorfreude vermittelt, diese unendliche Geschichte anzugehen.
Literatur
Freud, S. (1940a). Abriss der Psychoanalyse. GW XVII, S. 63–138.