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Editorial

Laura Wolf, Marie-Luise Hermann

Die Idee eines Journal-Hefts zum Thema «Hemmung – Enthemmung» entstand 2017 unter der Sensation von 140 Zeichen1 und einem Klick: Ob es die Botschaften eines einzelnen Mannes oder vieler hunderttausender Frauen über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung waren, selten bot ein Medium wie in diesem Beispiel das Internetphänomen Twitter, die Möglichkeit sich im «virtuellen Raum» auf weltöffentlicher Bühne derart mitzuteilen, dass sich die Grenzen des Sag- und Machbaren, positiv wie negativ, nahezu in Echtzeit verschieben liessen. Heute, zwei Jahre später, wirkt dieser Eindruck abgenutzt. Die überschreitenden Nachrichten und nachrichtlichen Überschreitungen werden per Hashtag mit Schlagwörtern kategorisiert und gemäss Twitter-Jargon in «trendige Themen» eingereiht. Damit erscheinen sie als vormalige Sensationen zwar nicht mehr so gewöhnungsbedürftig, behalten in ihrer Allgegenwärtigkeit jedoch weiterhin eine Relevanz. 

Die überschrittenen Schwellen wirken abgetreten, in Teilen überrannt, und werden so in ihrer Topik verschoben. Psychisch gesehen bilden sie an anderer Wirkungsstätte neue Hemmnisse, die einen progressiven wie regressiven Akt umfassen. Als Einschränkung der Ich-Funktionen definiert (Freud, 1926d, S. 116), wird die Hemmung für Sigmund Freud zum Angriffspunkt therapeutischer Bemühungen der Psychoanalyse, «das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann» (1933a, S. 86). Das heisst, die Schwellen sollen sich verschieben, zugunsten von mehr Freiheitsgraden gegenüber dem Über-Ich, aber auch gewissem Triebverzicht: «Wo Es war, soll Ich werden» als «Kulturarbeit wie die Trockenlegung der Zuydersee» (ebd.). In der Enthemmung hingegen, die in Freuds Werk begrifflich keine Erwähnung findet, wird jene Schwelle nicht durchmessen, sondern übergangen und somit auch versetzt. Die Enthemmung verspricht einen Lustgewinn, ist aber von einer ökonomischen Überwältigung der die Triebe begrenzenden (Raum-)Struktur charakterisiert. In ihrer Totalität findet sie sich daher bei Freud im Zustand der Massenindividuen beschrieben. Wenn «alle individuellen Hemmungen entfallen» (Freud, 1921c, S. 84), treten «die Unfähigkeit zur Mäßigung und zum Aufschub, die Neigung zur Überschreitung aller Schranken in der Gefühlsäußerung und zur vollen Abfuhr derselben in Handlung» (ebd., S. 129) hervor und ergeben «ein unverkennbares Bild von Regression» (ebd.). Die Hemmung hat sich dann auf das Denken verschoben. Letzteres birgt womöglich ein Potenzial zur Subversion (siehe Pfister in diesem Heft), jedoch die viel grössere Gefahr der Konversion in ein Verhalten, das durch «Haßbereitschaft» und «Aggressivität» (Freud, 1921c, S. 111) gekennzeichnet ist. 

Dieses Verhalten scheint heute nicht nur auf der Wahrnehmungsebene mehr und mehr den Zeitgeist zu erfassen, sondern sich auch auf der Handlungsebene in ganz konkrete Worte wie Taten des Hasses und der Gewalt fortzusetzen. Radikalisierung, Populismus und Terror dominieren immer mehr die tägliche Berichterstattung und finden Eingang in die Kulturindustrie. Somit greifen wir für dieses Journal-Heft Hemmung und Enthemmung als Heuristiken auf, um jene zeitgeschichtlichen Phänomene in den Blick zu nehmen, die uns aktuell (wieder) umgeben. In diese Ausgabe leiten daher Beiträge aus psychoanalytisch orientierter Sozialforschungsperspektive zu gesellschaftlichen Hemmungs- und Enthemmungsprozessen in der politischen Rechten wie in der Mitte der Gesellschaft ein, begleitet von Reflexionen zum emanzipatorischen Potenzial der Psychoanalyse. Arbeiten zum Geschlechterdiskurs und zu Gewaltdarstellungen setzen die Auseinandersetzung kulturanalytisch fort, während theoriegelei- tete Beiträge philosophischen und psychoanalytischen Begriffsbestimmungen zu Hemmung und Enthemmung von der Antike bis zu Lacan nachgehen. Zum Abschluss wird die problematische Verschränkung von kultureller Fremdheit und Gewalt im psychotherapeutischen Verständigungsversuch reflektiert.

Zur Eröffnung führt der Blick auf «Enthemmte Männer» ins Zentrum der Frage nach der Dynamik zugrundeliegender und subjektformender Kräfte. Markus Brunner formuliert eine Kritik an in der Gesellschaft veranker ten Herrschaftsverhältnissen, die jene völkischen, antidemokratischen Massen- bewegungen erst hervorbringen. Seine Analyse der «Neuen» Rechten differenziert u. a. Abwehrprozesse der Projektion von Über-Ich- und Es-Anteilen, die zu nationalistischer und rassistischer Enthemmung sowie einer antifeministischen Kampfposition führen. Damit soll eine durch gesellschaftliche Veränderungen destabilisierte männliche Vorherrschaft verteidigt werden.

Ausgehend von seiner langjährigen Tätigkeit als Co-Leiter der Studien zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschlands «Mitte» haben wir ein Interview mit Oliver Decker geführt und ihn zu seinen empirischen Ergebnissen einer enthemmten deutschen Gesellschaft auf der Flucht ins Autoritäre befragt. Dabei berichtet er auch von der Rezeption der Forschung seiner Arbeitsgruppe und zeigt, wie sich gesellschaftliche Phänomene durch die Verbindung von psychoanalytischer Theorie und empirischer Sozialforschung verstehen lassen. Auf dieser Basis wird auch ein prognostischer Blick gewagt angesichts der subjektiven Bedürfnisse, die Massenphänomene zu befriedigen versuchen. 

Daran anknüpfend erinnert Helmut Dahmer in seinem Beitrag an die Eigenschaften der Psychoanalyse als Kritische Theorie, was durchaus als Intervention gegenüber der «loyalen Denkhemmung» auch innerhalb der psychoanalytischen Community verstanden werden kann. Ebenso geht Danielle Bazzi der Frage einer «Emanzipatorische[n] Psychoanalyse» nach und setzt sich mit Paul Parins kritischer Glosse «Warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen. Eine ethnologische Betrachtung» von 1978 aus- einander. Darin befasst sie sich auch mit der Funktion einer psychoanalytischen Institution und richtet den Blick auf den Subtext von Parins Glosse, die Erfahrung der Abspaltung des PSZ, die sich bekanntlich an einer Türschwelle in Szene setzte.
Michael Pfister bettet die Ableitungen zu Hemmung und Enthemmung aus Freuds Arbeiten sowie die seiner Schüler Gross und Reich philosophisch ein und spürt dem subversiven Element der Enthemmung beim Kyniker Diogenes und bei Marquis de Sade nach. Mit Michel Foucaults «Selbstsorge» und Robert Pfallers «weisse[r] Lüge» weist er zudem auf Konzepte hin, die einen möglichen Umgang mit jenen Schwellensituationen anbieten.

Philosophisch zustimmend seien Andreas Spohn zufolge auch Lacans Ansätze aufgegriffen worden. So entwickelt und erläutert er «(Ent-)Hemmung bei Lacan» und führt die Lesenden mit Walter Mischels berühmtem Marshmallow- Experiment durch Lacans Werk. Andreas Spohn haben wir zudem für die Inspiration und Umsetzung des Titelbildes durch Christina Schumann zu danken.
Tamara Lewin und Fabian Ludwig diskutierten im Dezember 2018 «Die sexuelle Befreiung und das Problem mit der Lust» am Psychoanalytischen Seminar Luzern und erörtern in ihrem verschriftlichten Dialog die Debatte um Consent. Sie enden mit dem Verweis auf die Parallelen zur klinisch psychoanalytischen Arbeit, woran sich die Diskussion um die Hemmungen beseitigende Aufgabe der Psychoanalyse weiterführen lässt.

Merve Winter, Timo Storck und Jelka Berger nahmen sich der Fernsehserie an, die als Massenphänomen in einer Weise mit Sehgewohnheiten vor allem zu Gewalt brach, dass sich «Überlegungen zu Hemmung und Enthemmung» nahezu aufdrängten. Die Rede ist von Game of Thrones, welches nach neun Jahren 2019 nun ausgespielt wurde. Die AutorInnen nutzen dabei abermals Freuds Überlegungen, um die Rezeption von TV-Serien und Game of Thrones im Besonderen nachzuvollziehen und führen ausgewählte Episoden einer psychoanalytisch orientierten Untersuchung mit interessantem Ergebnis zu.
Dass Gewalterfahrungen auch Eingang in die therapeutische Arbeit und dabei nachvollziehbare hemmende Einflüsse haben, zeichnen Elizabeth Högger Klaus, Sophie Schneider und Michael Niebler in ihrem Beitrag zu «Fremd im Eigenen» nach. Kulturelles wie klinisches Material dient ihnen dazu, die in der Gegenübertragung zu spürenden Hemmungen im Kontakt mit gewalterfahrenen Menschen auch unter interkulturellen Gesichtspunkten zu beleuchten und variiert Freuds proklamierte Kulturarbeit in der gegenwärtigen Praxis.

In eigener Sache möchten wir an dieser Stelle unseren Kollegen Claudio Raveane und Eric Winkler ausserordentlich danken, die sich nach 17 und 6 Jahren mit unermüdlichem Einsatz aus der Reaktionsgruppe des Journals zurückziehen. Beide haben sich bei zahlreichen Heften eingebracht, deren Herausgabe ohne ihr Mitwirken undenkbar gewesen wäre. Stellvertretend für das PSZ dankt die Journalgruppe ganz besonders Claudio Raveane, der in den 2000er Jahren mithalf, das Journal vor seiner Einstellung zu bewahren und es bis zu seiner Überführung ins digitale Zeitalter engagiert begleitet hat.

Laura Wolf und Marie-Luise Hermann

Literatur
Freud, S. (1921c). Massenpsychologie und Ich-Analyse. GW XIII, S. 73–161.
Freud, S. (1926d). Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV, S. 111–205.
Freud, S. (1933a). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 31. Vorlesung: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. GW XV, S. 62–86.

Anmerkungen
1 Ende 2017 vergrösserte Twitter erstmals nach dem Start seines Dienstes 2006 die zur Verfügung stehende Zeichenzahl auf 280 Zeichen.