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Weitere Beiträge zum Schwerpunktthema

Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess

Milan Scheidegger
Fassen wir Geist und Natur nicht als Dichotomie sondern im Sinne von Peirce als Kontinuität auf, dann lässt die genauere Betrachtung des Körpers semiotische Leibphänomene als Zeichen einer Sprache erkennen, deren Grammatik es – im Sinne einer «Bioarchäologie» – zu entschlüsseln gilt. Hierfür stellen die Neurowissenschaften mit modernen Visualisierungstechniken geeignete epistemische Hilfsmittel bereit: Sie machen körperliche Vorgänge des Informationsaustausches sichtbar und heben die semiotisch wenig erschlossene Ebene komplexer neuronaler Zeichentransformationen ans Licht. Um eine Integration der physiologischen und psychologischen Perspektive bemüht sich das transdisziplinäre Projekt der «Neuropsychoanalyse». Sie hebt die Relevanz natürlicher Verarbeitungsmechanismen des Körpers für die subjektiv geprägten Zeichentransformationen des mentalen Erlebens hervor und weicht eine semiotisch allzu undurchlässige Grenzziehung zwischen Psycho- und Neurodynamik etwas auf. Die Hirntätigkeit als potenziell erkenntnisleitenden Zeichenprozess zu verstehen, darf aber nicht in einer unreflektierten Bezugnahme auf neuronale Zeichensysteme münden, wenn die Neuropsychoanalyse mehr als nur eine medienwirksame Neurokarikatur psychodynamischer Konzepte erreichen will.
Weitere Beiträge zum Schwerpunktthema Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess Milan Scheidegger (Zürich) Zusammenfassung: Fassen wir Geist und Natur nicht als Dichotomie sondern im Sinne von Peirce als Kontinuität auf, dann lässt die genauere Betrachtung des Körpers semiotische Leibphänomene als Zeichen einer Sprache erkennen, deren Grammatik es – im Sinne einer «Bioarchäologie» – zu entschlüsseln gilt. Hierfür stellen die Neurowissenschaften mit modernen Visualisierungstechniken geeignete epistemische Hilfsmittel bereit: Sie machen körperliche Vorgänge des Informationsaustausches sichtbar und heben die semiotisch wenig erschlos- sene Ebene komplexer neuronaler Zeichentransformationen ans Licht. Um eine Integration der physiologischen und psychologischen Perspektive bemüht sich das transdisziplinäre Projekt der «Neuropsychoanalyse». Sie hebt die Relevanz natürlicher Verarbeitungsmechanismen des Körpers für die subjektiv geprägten Zeichentransformationen des mentalen Erlebens hervor und weicht eine semio- tisch allzu undurchlässige Grenzziehung zwischen Psycho- und Neurodynamik etwas auf. Die Hirntätigkeit als potenziell erkenntnisleitenden Zeichenprozess zu verstehen, darf aber nicht in einer unreflektierten Bezugnahme auf neuro- nale Zeichensysteme münden, wenn die Neuropsychoanalyse mehr als nur eine medienwirksame Neurokarikatur psychodynamischer Konzepte erreichen will. Schlüsselwörter: Bildgebung des Gehirns, Biosemiotik, C. S. Peirce, Kognitions­ wissenschaft, Neuropsychoanalyse Nach den urtümlichen Mythen, historischen Deutungsversuchen und nebulösen Selbstverklärungen versprechen gegenwärtig die modernen Life Sciences die Frage nach dem Menschen und seiner Existenz auf eine solide wis­ senschaftliche Grundlage zu stellen. Entsprechend wird in den Wissenschaften der Psyche die philosophische Reflexion der Stellung des Menschen im Kosmos Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 90 Milan Scheidegger zunehmend vom Diskurs über den Metabolismus des Serotonins abgelöst. Die zeitgenössische Psychiatrie zeigt sich dem Subjekt gegenüber gleichgültig, und die Tiefen des Gemüts und seine körperlichen Manifestationen lassen sich auch ohne Rücksicht auf innerpsychische Konflikte behandeln (vgl. Ehrenberg, 2008). So wird die Person zum Objekt einer Krankheit und Opfer eines Prozesses, an dem sie selber gar nicht beteiligt ist, denn sie leidet an neurochemischen Gleichgewichtsstörungen, gegen die Psychopharmaka bestens wirken: «Sie hät­ ten sich keinen besseren Augenblick in der Geschichte der Menschheit aussu­ chen können, um sich unglücklich zu fühlen», verkündet etwa der amerikanische Psychiater Mark Gold in «The good news about depression» (Gold, 1995, S. VII). Nicht zuletzt eröffnen psychische Erkrankungen wie die Depression – als Störungen im Neurotransmitterhaushalt deklariert – umsatzstarke Märkte für psychopharma­ kologische Behandlungen. Während in der Praxis therapieresistente Depressionen, Rückfälle und Chronizitäten an der Tagesordnung sind, überwiegt im gegenwär ­ tigen psychiatrischen Diskurs eine immer lauter werdende Rhetorik des neuro­ biologischen Handlungsbedarfs. Womöglich liegt die Konjunktur an reduktiven Erklärungsansätzen und die Suche nach diagnostischen und therapeutischen Biomarkern gerade in der Suggestion eines höheren semiotischen Wirkungsgrades im Hinblick auf das therapeutische Handeln begründet (Singh & Rose, 2009, S. 202– 207). Andererseits wäre man geneigt zu fragen, ob sich hinter dem Streben nach noch mehr Gehirnwissen nicht gar eine fundamentale Erkenntnislücke verbirgt? In historischer Perspektive nämlich erscheint das in reduktiven Erklärungsansätzen proklamierte Postulat eines engen Zusammenhangs zwischen Gehirn und Geist keineswegs innovativ oder gar revolutionär. Seit der Antike ist bereits eine Fülle an somatischen Bedeutungsträgern für die Psyche zu Tage gefördert worden: Das Hautkolorit und Verhalten als Ausdruck des Gleichgewichts an Körpersäften, der Gesichtsausdruck und die Schädelkonfiguration als Indikatoren für Persönlichkeit und Charakter und schliesslich neuronale Aktivierungsmuster als materielle Spuren geistiger Prozesse stillen als epistemische Zeichen allesamt das Bedürfnis, Geistiges in der Natur dingfest zu machen. Die Zeichensysteme der Humoralpathologie, der Phrenologie oder der kognitiven Bildgebung des Geistes spiegeln gleichsam den historisch gewachsenen Möglichkeitsraum explanatorischer Suchstrategien. Ikonografie des Geistes Was seine Vermessung betrifft, wird der Mensch technisch gesehen immer transparenter: Physiognomie, Humoralpathologie, Iridologie und Phrenologie wer ­ den abgelöst durch moderne psychometrische Verfahren, funktionelle und mole­ Journal für Psychoanalyse 55 Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess 91 kulare Bildgebung, Hämodiagnostik und Genanalyse. Das Projekt der quantitativen und metrischen Ermittlung von Persönlichkeitsprofilen hat den handgreiflichen Charakter des phrenologischen Schädelabtastens verloren, an seine Stelle tre­ ten nun neue technische Möglichkeiten der Visualisierung und Vermessung des Menschen: Die Suche wird quasi direkt unterhalb der Schädeloberfläche fortgesetzt. Mit dem Einzug moderner bildgebender Verfahren in die Neurowissenschaften wird mittlerweile die epistemische Erwartung geweckt, dem «Geist bei der Arbeit» zusehen zu können (Hagner, 2008, S. 177). Mit beinahe schon voyeuristischem Enthusiasmus haben wir ein äusserst umfangreiches, ja kaum mehr zu überbli­ ckendes Bildwissen über mentale Zustände angehäuft: Das gesamte Spektrum denkbarer Gehirnaktivitäten – von betenden Franziskaner ­Nonnen bis hin zu kopu­ lierenden Liebespaaren – wurde bereits ikonografisch dokumentiert. Der Gebrauch bildgebender Verfahren als epistemischen Werkzeugen um neue Einsichten in die Natur des menschlichen Geistes zu vermitteln, wirft eine für diesen Essay zentrale, erkenntnisleitende Frage auf: Kann die bis anhin kryptisch gebliebene Hirntätigkeit mittels Neurobildgebung – im Sinne einer «Bioarchäologie» – für uns als neuronaler Zeichenprozess lesbar und verstehbar gemacht werden? Die Frage nach der neuronalen Lesbarkeit des Geistes zu stellen, bedeutet auch, sie in Resonanz zu bringen mit der Suche nach einer angemessenen Ebene der Erklärung als Fortsetzung der Geschichte der menschlichen Wissensproduktion. Seit der Entwicklung von Techniken, die es dem Menschen erlauben, in zuvor sinnes physiologisch und phänomenal unzugängliche Bereiche vorzustossen, hat diese Frage erneut an Aktualität gewonnen. Mit der Erfindung des Fernrohrs und des Mikroskops beispielsweise wurde in der Geschichte der Wissenschaft neuer Raum erschlossen, der uns mit zuvor ungeahnten explanatorischen Möglichkeiten aber auch Herausforderungen konfrontiert hat. Inzwischen sind die Techniken der Visualisierung aus den modernen Naturwissenschaften nicht mehr wegzu­ denken. Das «Sichtbarmachen von etwas, das sich nicht von sich aus zeigt, das also nicht unmittelbar evident ist und vor Augen liegt», macht nach Hans­Jörg Rheinberger sogar «den Grundriss und Grundgestus der modernen Wissenschaft überhaupt» aus (Rheinberger, 2009, S. 127). Visualisierungstechniken beinhalten aber bereits eine Form des Eingreifens: Das Darzustellende muss manipuliert, d. h. technisch handhabbar gemacht werden. Die Sinnesorgane werden zuneh­ mend durch Apparaturen ersetzt, die sogenannten «Technophänomene», d. h. Gegenstände technisch erzeugter experimenteller Erfahrung hervorbringen. Die moderne Wissenschaft mit ihren «Phänomenotechniken» erweitert mit Gaston Bachelard gesprochen also die Phänomenologie (Bachelard, 1987). Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 92 Milan Scheidegger Unter den Phänomenotechniken nehmen die bildgebenden Verfahren des Gehirns einen zentralen Stellenwert ein: Sie liefern quasi die ikonografische Evidenz für den Geist bei der Arbeit, indem unterschiedliche Oxygenierungsgrade des Hämoglobins (funktionelle Magnetresonanztomografie, fMRT ) oder Unter­ schiede im Glukosestoffwechsel bzw. in der Perfusion bestimmter Gehirnareale (Positronenemissionstomografie, PET ) während mentaler Aktivität gemessen und nach statistischem Signifikanzniveau farblich kodiert dargestellt werden. Obwohl der phänomenotechnischen Visualisierung der Hirntätigkeit ein arti­ fizieller Charakter zukommt, spielen die dabei generierten Gehirnbilder als epistemische Landmarken eine wichtige Rolle bei der Orientierung im neuro­ nalen Zeichenuniversum. Eine semiotische Orientierungsfunktion können die Gehirnbilder aber nur dann vermitteln, wenn an ihnen tatsächlich auch Informationen ablesbar werden, die in einem semiotischen Sinne erkenntnislei­ tend sind, sprich, wenn sie im Hinblick auf die Erklärung bestimmter mentaler Tatsachen nicht gleichgültig sind. Ich werde die Frage aufwerfen, inwiefern Bilder unserer Gehirntätigkeit in Anlehnung an Charles Sanders Peirce’ Zeichentheorie als erkenntnisleiten­ des Zeichensystem verstanden werden können. Daran anschliessend folgt eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen des epistemischen Rückgriffs auf dieses neuronale Zeichensystem durch die Psychoanalyse. Lassen sich psycho­ analytische Konzepte etwa durch Bezugnahme auf neuronale Zeichensysteme plausibilisieren oder naturalisieren? Prominente Vertreter der neuropsychoana­ lytischen Forschungsgemeinschaft wie etwa Mark Solms oder der inzwischen verstorbene Mauro Mancia begrüssen eine solche Annäherung ausdrücklich und erwarten neue «experimentelle Daten, die es uns erlauben, grundlegende psy ­ choanalytische Konzepte zu erweitern und sie in einen anatomisch­funktionellen Zusammenhang zu stellen» (Mancia, 2008, S. 19). Gleichzeitig verweist Mancia aber auch auf grundlegende Differenzen in der Forschungslogik, die es zu berücksichti­ gen gilt: «Die Neurowissenschaften beruhen auf einer Logik des Erklärens, während die Psychoanalyse vor allem durch eine Logik des Verstehens gekennzeichnet ist» (ebd.). Eine Verknüpfung von Psychoanalyse und Neurobiologie zu einer hybri­ den Disziplin wie der «Neuropsychoanalyse» wirft folglich auch die Frage nach einem potenziell gemeinsamen Erkenntnisinteresse bzw. Erkenntnisgegenstand und der dazugehörigen Forschungspraxis auf, die genuin neuropsychoanalytisches Wissen hervorbringen würde. Inwiefern kann der biologischen Reifikation menta­ ler Prozesse, wie sie von den Neurowissenschaften vorangetrieben wird, letztlich überhaupt ein genuiner Erklärungsanspruch im Hinblick auf die menschliche Journal für Psychoanalyse 55 Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess 93 Psyche zukommen? Führt das Projekt der Neuropsychoanalyse zu einer innovati­ ven Erweiterung des epistemischen Horizonts oder handelt es sich bloss um eine medienwirksame ikonografische Trivialisierung psychodynamischer Konzepte, um eine illustrative Neurokarikatur des Mentalen? Das Zeichenuniversum als semantischer Resonanzraum Die Idee, dass alles Denken sich in Zeichen vollzieht, wurde wohl am deutlichsten von Peirce ausgearbeitet. Die ubiquitäre Konfrontation mit Zeichen verändert die Art und Weise. wie wir uns verhalten, wie wir denken oder fühlen. Sprich, ein Zeichen übermittelt uns die Nachricht von einem Unterschied, der in unserem Fühlen, Denken und Handeln einen Unterschied macht, oder man könnte auch sagen: Die Betrachtung eines Zeichens evoziert etwas in uns. Dieser evokative Charakter von Zeichen bezeugt, dass das Zeichen Teil eines semanti­ schen Gefüges ist, innerhalb dessen es semantische Referenz, d. h. Eigenschaften der Nicht­Gleichgültigkeit in Bezug auf andere Elemente dieses Gefüges zeigt. Die Bedeutung eines Zeichens lässt sich demnach nicht intrinsisch bestimmen, sondern erschliesst sich erst durch seinen Gebrauch: Die semantische Referenz muss im jeweiligen Bedeutungskontext erworben werden. Nach Peirce ist jedes Zeichen prozessual zu denken, da der Prozess der Zeicheninterpretation selbst schon als immanenter Bestandteil jeder Zeichenbeziehung angesehen wird. Zeichen drücken über ihre physische Präsenz hinaus immer auch eine Relation aus: Das Zeichen ist auf ein Objekt bezogen, was einer dyadischen Relation entspricht und was triadisch um den Interpretanten erweitert wird, der in der Position des Dritten ist und in der Semiose das Erste mit dem Zweiten verbindet. Aus der semiotischen Perspektive fasst Peirce geistige Individuen als Abschnitte in der Geschichte einer kontinu­ ierlichen Zeichentransformation auf, deren Grundlage eben diese Triade aus Zeicheneigenschaft, Objektbeziehung und Interpretant bildet. Die Fähigkeit zu erkennen, d. h. einen regelhaften Verweisungszusammenhang zu bilden, bleibt nach Peirce aber nicht nur auf die menschliche Subjektivität allein beschränkt, sondern ist eine Instanz der allgemeinen Tendenz der Natur, immer gesetzmässi­ ger zu werden, d. h. Gewohnheiten immer mehr zu verfestigen (vgl. Hampe, 2006, S. 118). Peirce’ Kosmologie liesse sich als eine Selbstorganisationstheorie inter ­ pretieren, in der die Tendenz zur Annahme von Gewohnheiten dem Naturprozess eine Einheitlichkeit, Autonomie und Reflexivität zugesteht, wie sie gewöhnlich nur selbstbewussten Subjekten zugeschrieben wird (vgl. Hampe, 2007, S. 94). Die Natur spannt im Sinne einer Peirce’schen «Pansemiotik» ein umfassendes Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 94 Milan Scheidegger Ökosystem der Bedeutung auf, zu dem neben den Naturprozessen der Physik, Chemie und Biologie auch die kulturellen Symbolwelten gehören, aus denen Moden und wissenschaftliche Paradigmen, Kunst­ und Lebensstile, Wertsysteme und Ideologien entstehen, bis hinauf zu jener Ebene, auf der wir uns in einer gewal­ tigen Gesamtevolution im Sinne eines übergreifenden kosmogonischen Prozesses wiedererkennen, mit dem wir über Zeit und Raum verbunden sind. Der Geist erscheint in diesem Universum der Zeichen als eine höherstufige Koordination materieller Selbstorganisationsprozesse und Semiosen. Zeichenförmige Objekte und Wechselwirkungen auf der Ebene der biologischen Evolution können nach dieser allgemeinen Charakterisierung von Geist bereits als «Quasi­Zeichen» ver ­ standen werden, die Teile einer übergreifenden geistigen Evolutionsgeschichte sind (vgl. Pape, 1991, S. 51). Jede Verhaltensgewohnheit, jedes Naturgesetz und jeder Konsensus einer Gemeinschaft intelligenter Wesen kann als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses aufgefasst werden, der von Zuständen grösserer Zufälligkeit ausgeht und dessen Grenze die Identität von Geist und Materie ist, denn entlang dieser Grenze orientieren sich die Regelmässigkeiten im Peirce’schen Zeichenuniversum (vgl. Pape, 1991, S. 41). Um das Zusammenspiel von Gehirn und Geist im Sinne der vorgezeichneten Peirce’schen Programmatik am Beispiel des lebendigen Organismus semiotisch zu erfassen, betrachten wir im nächsten Abschnitt mit Jakob von Uexküll die bio­ logischen Wahrnehmungsmittel von Organismen als Vermittler interpretativer Beziehungen in ihren jeweiligen Umwelten (vgl. von Uexküll, 1956). Bereits in basalen biologischen Zeichen ­ und Kommunikationsprozessen wird nämlich eine semiotische Grundstruktur ablesbar, die es empfindungsfähigen Wesen ermöglicht in einem Leben selbstkontrollierten Denkens Wissen voranzubringen. Von der Biosemiotik zur Anthroposemiotik Als Wegbereiter der Biosemiotik gilt der Zoologe Jakob von Uexküll, der die organismischen Prozesse der Semiose zum Bestandteil einer integralen bio­ logischen Sichtweise macht, die nicht an «Bedeutungsblindheit» leidet, sondern das Leben als biologischen Zeichen­ und Kommunikationsprozess versteht (von Uexküll, 1973). Die Aufgaben der Biologie sieht von Uexküll darin, die Einsichten Kants in zwei Richtungen zu erweitern: 1. Die Rolle des Körpers, besonders der Sinnesorgane und des Zentralnervensystems mitzuberücksichtigen und 2. die Beziehungen anderer Subjekte (der Tiere) zu den Gegenständen zu erforschen (von Uexküll, 1973, S. 9). Zentralen Bezugspunkt seiner Lehre bildet die Umwelt als bio­ logisch instanziierte und kausal wirksame Reihe von Subjekt­Objekt­Beziehungen, Journal für Psychoanalyse 55 Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess 95 die weder auf die Organisation des Subjekts noch auf die der Umwelt reduzierbar ist, sondern immer als das Produkt der Wechselwirkung zwischen den beiden ange­ sehen werden muss. Zwischen seiner Merkwelt, durch die ein Lebewesen äussere Reize aufnimmt, und der Wirkwelt, durch die es auf Reize reagiert, besteht eine enge Kopplung, sie werden zu Gliedern einer einzigen Kette, dem Funktionskreis des Lebewesens. Durch Eigenaktivität grenzen sich Lebewesen zunehmend gegen­ über ihrer Umwelt ab und schaffen sich einen Raum innerer Systemzustände, die jegliche fixe Kopplung zwischen Reiz und Reaktion aufhebt, d. h., ihr Verhalten wird mit ansteigender Komplexität immer weniger vorhersagbar. Zwischen den beiden organismischen Polen der Sensitivität (Merkwelt) und Responsivität ( Wirkwelt) spannt sich also ein zusätzlicher Raum relativer semiotischer Autonomie auf, in dem Wahrnehmungsobjekten je nach Bauart und Funktion des biologischen Organismus eine individuelle Bedeutung verliehen wird (vgl. von Uexküll, 1973). Dahingehend befragt auch Ernst Cassirer in seinen Reflexionen über das Symbol als Schlüssel zum Wesen des Menschen die Erkenntnisse von Uexkülls: «Lässt sich das von Uexküll entworfene Schema auch auf die Beschreibung und Bestimmung der menschlichen Welt anwenden?» (Cassirer, 2007, S. 49). Der Mensch stellt keine Ausnahme von biologischen Grundprinzipien dar, aber der menschliche Funktionskreis erscheint nicht nur quantitativ erweitert, sondern er hat sich auch qualitativ gewandelt. Cassirer stellt zwischen das «Merknetz» und das «Wirknetz» ein Drittes, das «Symbolnetz» (ebd., S. 49). Der Mensch lebt nicht mehr in einem bloss physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum, dessen Bestandteile die Sprache, der Mythos, die Kunst und Religion sind: «Die physische Realität scheint in dem Masse zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit Dingen hat es der Mensch nun gleich­ sam ständig mit sich selbst zu tun» (ebd., S. 50). Als «anima\ l symbolicum» ist der Mensch, um zusätzliche imaginative und expressive Freiheitsgrade bereichert, schliesslich zivilisationsfähig geworden (ebd., S. 51). Peirce geht an dieser Stelle sogar noch einen Schritt weiter: Für ihn ist der Mensch nicht nur ein Verwender von symbolischen Zeichen sondern als Bewusstseinsstrom selbst ein Symbol, das sich im Zuge seiner Symbolverwendung interpretiert und transformiert (vgl. Hampe, 2006, S. 62). Semiotisches Bewusstsein nach Peirce und seine Beziehung zum Nervensystem Die Beziehung von Geist und Materie ist bei Peirce nicht dualistisch zu verstehen, vielmehr ist sie als Kontinuität zu sehen. Nach Peirce wäre es daher Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 96 Milan Scheidegger ein Fehler, die psychischen und physischen Aspekte der Materie als zwei absolut verschiedene Aspekte zu begreifen: Sieht man ein Ding von aussen und betrachtet man seine Beziehungen des Einwirkens und des Reagierens auf andere Dinge, so erscheint es als Materie, sieht man es von innen und beurteilt man sein unmittelbares Kennzeichen als Empfindung, so erscheint es als Bewusstsein. (Peirce, 1991, S. 232) Im Bereich des Bewusstseins erkennt Peirce eine seiner allgemei­ nen Zeichentheorie analoge Dreiteilung: Den ersten irreduziblen Bereich des Bewusstseins bildet ein logisch postuliertes «reines Gefühl». Dieser «Primisense», der Peirce’ Kategorie der «Erstheit» entspricht, hat noch nicht Anteil an einer Relation und gleicht daher keinem psychologischen Datum, das wahrgenommen oder erinnert wird, sondern bleibt eine hypothetische Entität, wie Peirce es in einem Brief an Lady Welby anschaulich erklärt: Das Scharlachrot ihrer königlichen Livreen, die Qualität selbst, unabhängig davon, ob man sie wahrnimmt oder sich an sie erin- nert, ist ein Beispiel dafür, womit ich nicht meine, dass sie es nicht wahrnehmen oder sich daran erinnern, sondern dass sie das ausser acht lassen müssen, was in der Wahrnehmung oder in der Erinnerung damit verbunden sein kann, was aber nicht zu seiner Qualität gehört. (Peirce, 1977, S. 24, zit. nach Houser, 2000, S. 47) Während Erstheit so ist, wie sie ist, ohne Relation zu etwas anderem, bein­ haltet die Erscheinung von Zweitheit oder «Altersense» relativ zu etwas anderem das Empfinden einer Dualität bzw. einer Polarität, doch auch diese phänomeno­ logisch isolierte Entität bleibt hypothetisch: Sie tritt am vollsten hervor in der Schockreaktion zwischen Ego und Non-Ego. Sie ist dabei das doppelte Bewusstsein von Anstrengung und Widerstand, d. h. etwas was nicht eigentlich vorgestellt werden kann. Denn etwas vorstellen heisst, gänzlich die Hier- und Jetztheit verfehlen, die sein Wesen ist. (Peirce, CP 8.266, zit. nach Houser, 2000, S. 50) Journal für Psychoanalyse 55 Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess 97 Voll entfaltetes Selbstbewusstsein schliesst nach Peirce als «Drittheit» die ersten beiden Formen ein. Es ist im wesentlichen inferentiell und als «Medisense» der Modus des Bewusstseins der Gewohnheitsbildung. In diesem Modus werden regelgeleitete Verbindungen zwischen Erfahrungselementen erkannt: Der dritte Geisteszustand ist völlig anders als die beiden anderen. Beim zweiten gab es nur das Empfinden einer rohen Kraft; nun gibt es ein Empfinden für das Wirken einer allgemeinen Regel. In der Reaktion sind nur zwei Dinge involviert; bei der Herrschaft der Regel gibt es jedoch ein drittes Ding, das Mittel für einen Zweck ist. (Peirce, MS 404, S. 4, zit. nach Houser, 2000, S. 57) Interessanterweise glaubt Peirce, dass diese psychologische Darstellung der drei Bewusstseinsarten durch eine physiologische Darstellung dreier grundle­ gender Eigenschaften des Nervensystems klarer werden könnte: «Auf diese Weise werden die drei grundlegenden Bewusstseinsarten – einfaches Bewusstsein, duales Bewusstsein und synthetisierendes Bewusstsein – durch die drei Hauptfunktionen des Nervensystems erklärt, durch seine einfache Reizbarkeit, die Übertragung von Energie und die synthetisierende Handlung der Nerven, insbesondere die Verhaltensgewohnheit» (Peirce, MS 909, S. 55, zit. nach Houser, 2000, S. 64.). Im nächsten Abschnitt wenden wir uns Peirce’ integrativem Anspruch folgend daher der Semiotik des Leibes zu und insbesondere der Frage, ob semiotische Prozesse auf der Ebene des Nervensystems für das Verständnis der menschlichen Geistestätigkeit erkenntnisleitend sein könnten. Von semiotischen Leibphänomenen zur Neurohermeneutik des Geistes Der Lebensprozess ist durch biologische Regelmässigkeiten gekennzeich­ net, die sich in Form von Bewegungen von Molekülen, Grenzziehungen mittels Membranen, komplexen Phänomenen des Stoffaustausches sowie der Erhaltung etablierter Strukturen manifestieren. Die pansemiotische Betrachtungsweise solcher biologischer Interaktionsmuster lässt im Sinne von Peirce Prozesse der Zeichentransformation erkennen, in denen biologische Signale als mit Bedeutung aufgeladene Zeichen erscheinen. Das Leben als integralen Zeichenprozess zu ver ­ stehen, heisst, seine zeichenhaften Ausdrucksformen auf allen Stufen der bio­ logischen Hierarchie als komplexe semiotische Leibphänomene in den Blick zu nehmen: So gesehen beginnt der ganze Körper zu sprechen und produziert Zeichen einer Sprache, deren Grammatik es zu entschlüsseln gilt. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 98 Milan Scheidegger Gerade die psychoanalytischen Sichtweisen eröffnen mit ihrer Dezentrierung des Bewusstseins von «ich denke» zu «es denkt» ebenfalls neue semi­ otische Sichtweisen auf den Menschen: Rudimentäre, vor ­sprachliche psychische Repräsentationen herrschen nun über das Bewusstsein und lösen energetische Verschiebungen aus, die das gesamte Verhalten und alle leiblichen Zeichensysteme prägen (vgl. Kristeva, 2007, S. 29 ff.). Julia Kristeva sieht diese archaischen energeti­ schen Signale im psychischen Raum durch verbale und bewusste Repräsentationen übernommen, die aber oft zu wenig stabil sind, um die fluktuierenden energeti­ schen Besetzungen begrifflich einzufangen. Der Zeichencharakter emotionaler Stimmungen gleicht Kristeva zufolge eher «Inschriften», sprich einer «Modalität der Sinngebung, die an der Schwelle bioenergetischer Gleichgewichtszustände die Vorbedingungen des Imaginären und des Symbolischen gewährleistet […]. An der Grenze von Animalität und Symbolizität gelegen, stellen die Stimmungen […] die äussersten Reaktionen auf unsere Traumatisierungen dar, unsere basalen homeostatischen [sic!] Schutzmechanismen» (Kristeva, 2007, S. 30). Die psychische Aktivität integriert gewissermassen die beiden Pole des organischen und intentio­ nalen Geschehens und Krankheit erscheint als Folge eines energetischen Defizits, d. h. einer Insuffizienz der psychischen Kraft, das Organische zu kontrollieren (vgl. Ehrenberg, 2008, S. 83). Sigmund Freud hat auch dahingehende Hypothesen entworfen, über eine dynamische Wirkungsweise von Psychopharmaka, die wie Psychotherapien helfen sollen, die Energiemengen besser im «psychischen Apparat» zu verteilen, um das Ich von seinen krankhaften Regungen wieder zu befreien: Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen. Vielleicht ergeben sich noch ungeahnte andere Möglichkeiten der Therapie; vorläufig steht uns nichts besser zu Gebote als die psychoanalytische Technik und darum sollte man sie trotz ihrer Beschränkungen nicht verachten. (Freud, 1940, S. 108) Inzwischen hat die psychiatrische Nosografie mit physiologischen und pharmakologischen Therapiemethoden bereits verlässliche Zeugen gefunden: Die Reaktion eines Patienten auf eine Behandlung ist zu einer Methode geworden, um die Richtigkeit einer Diagnose zu prüfen und ursächliche Mechanismen psychischer Störungen zu erforschen. Das aufkommende Verständnis für die Wirkungsweisen Journal für Psychoanalyse 55 Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess 99 verschiedener Psychopharmaka im zentralen Nervensystem zwingt die Psychiater, von nun an physiologisch zu denken und psychische Störungen als einen dynami­ schen Prozess zu begreifen, der nicht durch eine Veränderung an einem bestimm­ ten Ort des Gehirns hervorgerufen wird, sondern ein übergreifendes somatisches Netzwerk betrifft. Pharmakologische und physiologische Behandlungsmethoden werden darüber hinaus zum Mittel, um empirisch zu beweisen, dass das psychi­ sche Leben aus einer Verbindung von biologisch verankertem Affekt und geisti­ ger Repräsentation resultiert. Gerade die Debatten über das Wesen psychischer Krankheiten führen uns damit wieder zur grundlegenden philosophischen Frage zurück: Was geschieht eigentlich zwischen Affekt und Denken, zwischen Körper und Geist? Wenn wir im Sinne von Peirce den Körper ­Geist­Dualismus aufheben, indem wir die Hirntätigkeit als semiotisch wirksamen Teilprozess eines übergreifenden kosmogonischen Zeichenprozesses identifizieren, dann erzählt eine Sequenz an Nervenimpulsen metaphorisch gesprochen eine Geschichte von Nachrichten bzw. relevanten Unterscheidungen, die als energetische Verschiebungen inner ­ halb neuronaler Systeme übertragen und rezipiert werden (vgl. Bateson, 1985, S. 619). Semiotische Relevanz erreichen die primär zufallsgesteuerten neurona­ len Prozesse allerdings erst dann, wenn sie zum Bestandteil geistiger Semiosen werden, die ihrerseits wieder als strukturierende Bedingung auf den neuronalen Prozess zurückwirken. Die vom experimentellen Kontext abhängige Variabilität funktioneller Gehirnsignale deutet zwar auf eine Einbettung in ein bioseman­ tisches Gefüge, nur verfügen wir innerhalb unserer Lebenswelt über kein epi­ stemisches Nachschlagewerk, anhand dessen sich die Bedeutung dieser biolo­ gischen Reagibilität entschlüsseln liesse. Bioarchäologisch gesprochen stellen phänomenotechnisch erzeugte Gehirnbilder also eine Art «Hieroglyphen» dar, denen wir eine Bedeutung unterstellen, die uns vorerst allerdings verschlossen bleibt, da wir keine Zuordnung zu bereits bekannten Zeichensystemen vornehmen können. Selbst wenn man also die neuronalen Prozesse vollständig kartografie­ ren könnte, die für Geistiges konstitutiv bzw. indikativ wären, dann müsste sich aus dieser Abfolge neuronaler Bildsymbole noch lange kein für uns lesbarer Text ergeben. Obwohl die Bildsyntax für die Bildsemantik durchaus konstitutiv bzw. indikativ sein kann, reicht die Kenntnis der Syntax allein oftmals nicht aus, um die Semantik hinreichend zu bestimmen. Wir können uns also höchstens an die Kunst der Entzifferung heranwagen, dem bis anhin unverständlich gebliebenen neuronalen Geheimtext ohne Kenntnis des Schlüssels eine Nachricht zu entrin­ gen. Die autoepistemische Limitation, dass unsere Erkenntnismittel nicht primär Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 100 Milan Scheidegger auf das semiotische Erfassen subpersonaler Prozesse angelegt sind, schränkt die Erfolgsaussichten dieses Projekts erheblich ein. Die Experimentalisierung psychoanalytischer Konzepte Die Auffassung, dass das psychoanalytische Unbewusste auch neurodyna­ misch realisiert sein muss, liegt insbesondere deshalb nahe, weil das Unbewusste erlebens­ und verhaltensrelevant ist und somit einen prozessualen Ort in der Kette der sensomotorischen Integrationsleistung eines Organismus haben muss. Aber wenn das Unbewusste auch der Wahrscheinlichkeit nach Spuren im neurodyna­ mischen Substrat hinterlässt, bedeutet dies noch lange nicht, dass diese Spuren in einer experimentellen Situation tatsächlich auch messbar sind. Gerade in der expe­ rimentellen Humanforschung überschreitet die Anzahl möglicher Bedingungen und Einflussfaktoren, die ein empirisches Ergebnis beeinflussen, bei weitem den Möglichkeitsrahmen dessen, was man als Experimentator kontrollieren kann. Und je mehr Kontrolle man ausübt, umso stärker schränkt man die natürliche Autonomie des Subjekts im Experiment ein, mit der Gefahr, nur noch triviale Antworten zu erhalten, wenn die Verhaltensmöglichkeiten der Person zu stark eingeschränkt und damit antizipierbar werden. In klassisch kognitionswissenschaftlichen Experimenten werden messbare Parameter wie z. B. die Reaktionszeit oder die Performanz in bestimmten Aufgaben herangezogen, um die Funktionsweise und Validität psychologischer Konzepte in verschiedenen Kontexten zu untersuchen. Entsprechend laufen die in bildge­ benden Untersuchungen angewandten experimentellen Designs oft nach einem rigiden Muster ab: Um genug statistisches Signal aus dem neuronalen Rauschen herauszumitteln, müssen Versuchspersonen im Scanner in der Regel bestimmte psychologische Vorgänge mehrfach in stereotyper Weise wiederholen. Es ist fraglich, ob ein solchermassen experimentell isoliertes Gehirn überhaupt noch semiotischer Bedeutungsträger für irgendetwas sein kann, was in ökologischen Kontexten relevant bzw. an sie anschlussfähig ist. Denn die Gehirnzustände per se haben noch keinen Gehalt, sie enthalten keine abstrakten, intrinsisch entzifferba­ ren Strukturbeschreibungen, sondern werden erst in Bezug auf den situationalen Gebrauchskontext einer Person individuierbar. Wie von Uexküll beschreibt, kommt der Aktivität des Organismus eine kon­ stitutive Rolle bei der Wahrnehmung und Kognition zu: Wir erzeugen unsere sinn­ erfüllte Welt, indem wir handelnd in sie eingreifen. Wahrnehmung wird in diesem handlungsbezogenen Wahrnehmungsbegriff als situative Festlegung relevanter Unterscheidungen in einem offenen, nicht präfigurierten Wahrnehmungsfeld Journal für Psychoanalyse 55 Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess 101 aufgefasst. Die Untersuchung neuronaler Antworten müsste demnach weniger als Funktion isolierter Reize, sondern als Funktion von Situationen erfolgen, die auch eine Theorie der Kontexte einschliesst, in die das betreffende neuronale System eingebettet ist: «Ohne eine Beschreibungsebene, auf der die Handlungen des Gesamtsystems thematisch werden, [würde] die kognitionswissenschaftliche Theorie schlicht ihre Explananda aus den Augen verlieren […]» (Engel & König, 1998, S. 191). In dieser kritischen Perspektive gliche der Versuch, ein Gehirn im Tomografen zu untersuchen vielleicht dem hoffnungslosen Unterfangen, mit einem Mikrofon das Geräusch nur einer klatschenden Hand registrieren zu wollen. Wie Peirce verdeutlicht, braucht es ja immer zwei Entitäten oder Ereignisse und etwas Drittes, das sich zwischen ihnen im Sinne einer Relation abspielt, damit so etwas wie wechselseitige Relevanz oder Bedeutung zustande kommt. Natürlich reagiert der Mensch im kognitionswissenschaftlichen Experiment auch auf Reize, nur stellt sich die Frage, ob hier wirklich noch «echte» Intentionalität im Spiel ist, im Sinne eines relevanten Bezugs auf Handlungsdimensionen in der wirklichen Welt, oder ob es sich nicht einfach nur um eine artifizielle Symbolmanipulation handelt, die eher einem Spiel nach zuvor festgesetzten Regeln gleicht. Das einzige, was in einer solchen experimentell präparierten Situationen vielleicht erklärt und vorausgesagt werden könnte, wäre demnach intrinsisches, nicht­relationales und nicht­intentionales Verhalten: Die Bewegung des Körpers und nicht die Bedeutung einer Handlung, die auf den Einflüssen der Natur und Kultur beruht (vgl. Bolton, 2003, S. 87). Eine geeignete experimentelle Situation für die partikulären Manifestations­ formen des Unbewussten, wie sie in der psychoanalytische Situation typisch sind, scheint nach diesen kritischen Ausführungen nur schwer vorstellbar. Die psychoanalytische Situation ist aus strukturellen Gründen im Sinne der Neurowissenschaften nicht experimentalisierbar: Die über eine Stunde hinweg auf­ gezeichnete Gehirnaktivität während einer psychoanalytischen Sitzung beispiels­ weise ist im neurowissenschaftlichen Sinne nur schon aus statistischen Gründen nicht verwertbar. Als prominenter Vertreter der Neuropsychoanalyse versucht Mark Solms seine Hypothesen entsprechend weniger durch Interpretation funktioneller Gehirnbilder zu untermauern, sondern durch psychoanalytische Beobachtungen und klinisch­anatomischen Korrelationen an Patienten mit fokalen Gehirnläsionen (vgl. Kaplan­Solms & Solms, 2002). Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 102 Milan Scheidegger Synopsis Unter dem Eindruck neurowissenschaftlicher Evidenzen wurde die Rolle der psychischen Subjektivität weitgehend durch biologistisch­deterministische Sichtweisen verdrängt: Die Rede vom «Seelischen» dient dem Neurowissenschaftler allenfalls als Indikator für zugrundeliegende biologisch determinierte Prozesse (vgl. Tschacher et al., 2000, S. 51–77). Doch gerade im kognitionswissenschaftlichen Experiment erweisen sich, wie vom Psychoanalytiker André Green bemerkt, die «Phänomene des Sinns» nach wie vor als unausweichlich, denn die Vorauswahl neurophysiologischer Signale macht die Unterscheidung erforderlich, welche neu ­ ronalen Prozesse als Zeichen begriffen werden können und welche nicht, und diese semiotische Unterscheidungsfähigkeit ist das Vorrecht des gesamten Menschen (vgl. Ehrenberg, 2008, S. 117). Unweigerlich droht bei einem neurowissenschaft­ lichen Übergriff auf psychologische und soziale Indikatoren eine babylonische Sprachenverwirrung, die aus der Überblendung begrifflicher Kategoriesysteme resultiert, die ihre Bedeutung erst in bestimmten epistemischen Zugängen erlan­ gen. Zu Recht hat Jaspers daher vor dem vereinheitlichenden Drang des Denkens gewarnt, das überall dort in ein Durcheinander führe, wo der partikulare Charakter von Erkenntnis übersehen und die Prägnanz klarer Begriffsunterscheidungen auf­ gegeben wird ( Jaspers, 1948, S. 33). Um sich vom Dualismus von Geist und Materie zu befreien, bedürfte es wohl einer Sprache, in der man diese Begriffe nicht länger als konkurrierende oder widersprüchliche Unterscheidungskriterien verwenden muss. Eine integrative Theorie menschlicher Erkenntnis, die inklusiv und nicht exklusiv operiert, sprich, die funktionierende Begrifflichkeiten respektiert und in der Pluralität epistemischer Perspektiven bzw. in zirkulärer Wechselbeziehung nach neuen Phänomenen und explanatorisch verwertbaren Zeichen Ausschau hält, könnte der im Anschluss an Peirce vorgeschlagenen Abduktionslogik fol­ gend die Gültigkeit bestehender Begrifflichkeiten erweitern, bestätigen oder revidieren, ohne dabei auf einer vollständigen wechselseitigen Übersetzbarkeit zu beharren. Entsprechend darf die Neurowissenschaft weder am Ein­ bzw. Nichteinhalten ihrer rhetorischen Versprechungen gemessen, noch mit historisch analogisierendem Verweis auf gescheiterte pseudowissenschaftliche Projekte wie der Humoralpathologie, der Physiognomik oder der Phrenologie a priori als dem Untergang geweiht klassifiziert werden, sondern ihre prozessuale Rolle muss in der dynamischen Formung und nachhaltigen Entwicklung explanatorischer Zeichensysteme und dem zugehörigen kreativen Erkenntnispotenzial gewür ­ digt werden. Entsprechend soll auch weiterhin neurowissenschaftlich geforscht werden, freilich ohne den Anspruch, dass es sich dabei um eine privilegiertere Journal für Psychoanalyse 55 Neuropsychoanalyse: Hirntätigkeit als Zeichenprozess 103 Perspektive im Hinblick auf die Erklärung menschlichen Tuns handelt. Es wird sich zeigen, ob die Generalisierung neurowissenschaftlicher Ergebnisse in den ökologi­ schen Kontext zu gültigen Vorhersagen führt und wie weit naturwissenschaftliche Erklärungen auch für Phänomene aus der lebensweltlichen Perspektive explana­ torischen Wert haben. Diese Begrenzung betrifft insbesondere diejenigen Aspekte menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns, die nur als kulturelle und gesell­ schaftliche Prozesse komplexer Zeichentransformationen angemessen zu erfassen sind: Die Rolle der Gemeinschaft bei der Konstitution von Zeichen mit einem überzeitlichen objektiven Sinn könnte die subjektiv erlebte Bedeutung «äusse­ rer» Zeichen als primär gegenüber den natürlichen Verarbeitungsmechanismen herausstellen, die im Organismus drin ablaufen (vgl. Gold & Engel, 1998, S. 39). Die Verdinglichung psychischer Entitäten und ihre ausschliessliche Erfassung mittels extrinsischer Bezugsgrössen würde die intrinsisch­evolutiven, kreativen und selbstbestimmenden Dimensionen menschlicher Subjektivierungsprozesse verfehlen (vgl. Guattari, 2012, S. 24). Menschliche Subjektivität auszuschliessen, hiesse nämlich auch, sich einer strukturierenden geistigen Bedingung zu berauben, die der Lebensprozess als Emergenzform hervorgebracht hat, bzw. die nach Peirce’ objektivem Idealismus dem Prozess immanent ist. Die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit einer wissenschaftlichen Verknüpfung von Psychoanalyse und Neurowissenschaft hängt mit dem eben angesprochenen Problem der Gehirn­Geist­Relation zusammen und insbeson­ dere mit der Möglichkeit, eine explanatorisch saliente Korrespondenzbeziehung zwischen geistigen Prozessen und der Dynamik der Gehirntätigkeit herzustellen. Neuropsychoanalytisch können neuronale «Hieroglyphen» im Sinne verhaltensre­ levanter Konfigurationen gedeutet werden, die wir empirisch messen und mit dem subjektiven Erleben in einem iterativen heuristischen Prozess in Zusammenhang bringen können. Mittels komplexer neurobiologischer Modellierung kann in neuropsychoanalytischer Perspektive allenfalls die Dynamik in körperlichen Bedingungsfeldern freigelegt werden, die als Teil eines umfassenderen homöo­ statischen Geschehens die Dynamik des mentalen Erlebens mitgestaltet. Natürlich besteht die Gefahr, dass wir, anstatt die Erkenntnislücke zu füllen, ähnlich wie historische Vorgänger, z. B. die Phrenologie, in die Grube einer Pseudowissenschaft fallen. Es bleibt der Zweifel im Raum, ob eine Lesbarkeit psychodynamischer Phänomene in «neuronalen Texten» – abgesehen von einer naturalistischen Fundierung psychoanalytischer Begrifflichkeiten – tatsächlich auch einen ech­ ten epistemischen Fortschritt für die Psychoanalyse im Sinne einer Vertiefung des phänomenal­einfühlenden Verstehens ihres Erkenntnisgegenstandes darstellt. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 104 Milan Scheidegger Vielleicht ist der Anspruch der Neuropsychoanalyse aber auch bescheidener, und sie versucht lediglich innerhalb des wissenschaftlichen Mainstreams der Reduktion des Mentalen auf das Physische die subjektive Perspektive zu retten. Und auch wenn ihr dies nicht gelänge, bliebe angesichts der ikonografisch vermittelten Selbstbeschauung des Geistes mit Griesinger gesprochen allen naturalistisch­ reduktiven Erklärungsansätzen zum Trotz ein mystisches Momentum beschei­ denen Staunens übrig: Wüssten wir auch Alles, was im Gehirn bei seiner Thätigkeit vor - geht, könnten wir alle chemischen, elektrischen etc. Processe bis in ihr letztes Detail durchschauen – was nützte es? Alle Schwingungen und Vibrationen, alles Electrische und Mechanische ist doch immer noch kein Seelenzustand, kein Vorstellen. Wie es zu diesem werden kann – dies Räthsel wird wohl ungelöst bleiben bis ans Ende der Zeiten. (Griesinger, 1861, S. 6) Danksagung: Für anregende Diskussionen und inhaltlich hilfreiche Bemerkungen zum Manuskript danke ich Georg Schönbächler. Literatur Bachelard, G. (1987). Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes: Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bateson, G. 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