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Kommentare zum Grundlagenartikel

Lernen durch Erfahrung: Anregungen für eine zeitgenössische Psychoanalyse

Wolfgang Mertens
Kein Abstract vorhanden.
Lernen durch Erfahrung: Anregungen für eine zeitgenössische Psychoanalyse Kommentar zum Artikel von Vera Saller Wolfgang Mertens (München) Ausgangslage Saller zeigt in ihrem gehaltvollen Artikel zunächst auf, dass Charles Sanders Peirce als Zeitgenosse Freuds und als Begründer eines habituellen Unbewussten, in dem Handlungsgewohnheiten gespeichert sind und in dem menschliches Denken immer auf unbewusste Gewohnheiten zurückgreift, gelten kann. Denken geht demzufolge von unbewussten Handlungen aus und lässt diese nicht unverändert. Saller ist daran gelegen, eine Verbindung zwischen dem habituellen Unbewussten der Pragmatisten mit demjenigen der Psychoanalyse herzustellen. Dazu ist es ihrer Meinung nach notwendig, die Bestimmung des Unbewussten seitens Freud, der mit seiner Konzeptualisierung des dynamischen Unbewussten trotz seiner Relativierung von Gesundheit und Krankheit doch eine klinische Engführung vorgenommen hat, in Richtung auf eine allgemeinpsychologische Theorie des Denkens zu erweitern. Eine Theoriesprache, die diese klinische Fokussierung übersteigt, erscheint ihr deshalb wünschenswert. Gleichwohl weist sie darauf hin, dass auch Peirce der Idee eines abgewehrten Unbewussten nicht abgeneigt war und es wäre ja auch bedauerlich, diesen nicht nur für das klinische Denken zentralen Bestandteil unberücksichtigt zu lassen, wie dies beispielsweise in der Kognitiven Psychologie bis zum heutigen Tag geschieht. Damit ist die Zielsetzung des Aufsatzes von Saller umrissen: Wie lässt sich das Peirce’sche, habituelle Unbewusste mit psychoanalytischen Konzepten, vor allem auch neueren, verbinden? Sie nimmt Bezug auf meinen kürzlich erschienenen Artikel (Mertens, 2013), in dem ich versucht habe, die interpersonelle Wahrnehmung als Ausgangspunkt für die nichtbewusste Registrierung von Gefühlsausdrücken, Intentionen, und Körperwahrnehmungen zu betrachten. Zwar haben viele Psychoanalytiker, die aus der kognitiven Gedächtnispsychologie stammende Unterscheidung verschiedener Gedächtnissysteme seit geraumer Zeit übernommen (z. B. Clyman, 1992; De Masi, Journal für Psychoanalyse 55 Lernen durch Erfahrung 57 2003; Fonagy, 1999; Lyons-Ruth, 1998; Sandler & Sandler, 1997), nichtbewusste Wahrnehmungs- und Lernvorgänge, die mit Gedächtnisphänomenen verbunden sind und diesen vorausgehen, sind aber nur sehr vereinzelt Thema. Das sehr pau- schale Konzept der Gegenübertragung muss zumeist dafür herhalten, die kom- plexen Vorgänge der nichtbewussten Registrierung von Sinneseindrücken in der therapeutischen Dyade abzubilden. Dabei bleibt aber unklar und unbeantwortet, ob diese Vorgänge nur gelegentlich oder permanent auftreten, ob sie lediglich reaktiv oder aktiv sind und welche Rolle sie für die Entstehung von bewussten Wahrnehmungseindrücken spielen. In einem Exkurs zum impliziten Gedächtnissystem bezieht die Autorin auch zu der Auffassung der Boston Change Process Study Group (BCPSG) Stellung, dass herkömmliche Psychoanalytiker die unbewusste Tiefe im Benennen der abgewehr - ten Konflikte und Fantasien gesucht hätten, obwohl sich diese nach Überzeugung der BCPSG in den nichtsprachlichen Ausdrucksphänomenen der im Hier und Jetzt erlebten Interaktion abspielen, also auf einer nur dem Schein nach oberflächliche\ n Ebene, wie klassische Analytiker Interaktionsphänomene in der Regel bezeichnet haben. Saller hält dieser Umwertung entgegen, «dass das, was sich implizit in der Beziehung abspielt, Ausdruck der tiefer liegenden Konflikte ist» (Saller, in diesem Heft, S. 9). Nicht ganz zustimmen kann ich hingegen, wenn Saller davon ausgeht, dass die Bostoner Autoren die implizite Ebene bewusst und kontrolliert einsetzen. Gerade das spontane Auftreten von «now moments» aus dem bis dahin eher auto- matisiert ablaufenden «moving along» verweist doch auf das Nichtsteuerbare dieser Interaktionsphänomene. Selbstverständlich erschliessen sich diese Phänomene auch für die BCPSG erst nachträglich. Und beschreibt Stern tatsächlich nur «Situationen, in denen der ‹Kontakt zwischen Mutter und Kleinkind gelingt›»? Hat er nicht auch wiederholt ausge- führt, dass die fehlende Affektübereinstimmung aufgrund von mütterlichen Decodierungsschwierigkeiten der kindlichen Mimik zur Tagesordnung gehört? Hat nicht Edward Tronick – ebenfalls ein Mitarbeiter der Bostoner Gruppe – das erschütternde still-face-Exeriment beschrieben, um auf experimentelle Weise noch einmal aufzeigen zu können, wie Mütter mit einer psychischen Erkrankung auf ihre Babys und Kleinkinder reagieren und welche verheerenden Folgen dies haben kann (vgl. Mertens, 2012)? Auch der von Saller zitierte Warsitz (2007) behält mit seiner Einschätzung nur teilweise Recht, denn das Konzept des impliziten Wissens ist zwar nicht iden- tisch mit dem «dynamisch Unbewussten» der Psychoanalyse, aber ihm fehlen keineswegs dynamische Funktionen. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 58 Wolfgang Mertens Saller ist aber durchaus zuzustimmen, dass auch im ersten Lebensjahr bereits Konflikte erlebt und Angst und Abwehr erfahren werden, auch wenn es zutreffend ist, dass implizite Erinnerungen in der Regel nur unzureichend sym- bolisiert sind und zunächst überwiegend durch den Körper ausgedrückt werden (Saller, in diesem Heft, S. 11). Aber die Bostoner Gruppe nimmt tatsächlich eine starke Umgewichtung vor. Auf den ersten Blick wirkt dies so, als stelle sie die bisherige psychoanalytische Sprechkur vom Kopf auf die Füsse. Während herkömmliche Psychoanalytiker in der Interaktion eine oberflächliche und unpsychoanalytische Betrachtungsweise gesehen haben, wird nun das interaktionelle Geschehen, in dem sich in Bruchteilen von Sekunden implizite Beziehungsphänomene abspielen, zur tiefsten Ebene des analytischen Verstehens. Das Achten auf das Sprechen über Gefühle mittels der freien Assoziation oder des freien Erzählens wird demgegenüber eher zu einem Überbau. Entsprechend diesem Verständnis entstehen Konflikte und Abwehrvorgänge in der affektbasierten Interaktion bereits ab dem Kleinkindalter. Der Erwerb des impliziten Beziehungswissens ist natürlich nicht mit dem Kindesalter abgeschlos- sen, sondern entwickelt sich kontinuierlich weiter, bewahrt aber selbstverständlich Spuren entsprechender Konflikte, die in der frühen Mutter-Kind-Interaktion bereits entstanden sind. Herkömmlich wurde davon ausgegangen, dass Konflikte erst dann ent- stehen können, wenn symbolische Repräsentanzen gebildet worden sind. Kleinkindforscher konnten aber nachweisen, dass bereits wenige Tage alte Säuglinge eine «Gestalt» der Fütterungssequenz als Gedächtnisspur erworben haben. Denn sie reagieren auf eine künstlich veränderte Abfolge der Fütterung mit deutlicher Irritation. Die Bostoner Gruppe betrachtet derartige Gedächtnisspuren als Vorläufer oder als frühe Formen des impliziten Beziehungswissens und lässt keinen Zweifel daran, diese als eine Repräsentation zu betrachten und zu bezeich- nen. Das Beziehungswissen ist zwar nicht sprachbasiert, aber es stellt eine mit allen Sinnen erlebte und bereits im impliziten Gedächtnis gespeicherte Form einer Beziehung dar, wie mit einer anderen Person, zum Beispiel der Mutter, umge- gangen wird. Und dieses Beziehungswissen kann in der Regel sehr vielgestaltig und nuanciert sein. Wenn später das Kind oder der Heranwachsende versucht, dieses Beziehungserleben in Worten auszudrücken, hat er zumeist erhebliche Schwierigkeiten, die Differenziertheit des implizit gelernten und gespeicherten Wissens zu verwörtern. Journal für Psychoanalyse 55 Lernen durch Erfahrung 59 Mittlerweile haben Videoaufnahmen von Mutter-Kind-Interaktionen deutlich machen können, wie Mütter aufgrund ihres eigenen impliziten Beziehungsverhaltens auf die diversen affektiven Kommunikationen ihres klei- nen Kindes reagieren. Wenn man diese Beispiele zur Kenntnis nimmt, wird man nicht mehr daran zweifeln, dass das kleine Kind, lange bevor eine sprachliche Symbolisierung ein- setzt, bereits Konflikte zwischen seinen Zuwendungs- und Bindungsbedürfnissen und seiner Angst, die Aufmerksamkeit und Liebe seiner Mutter zu verlieren, erlebt und einen Kompromiss ausarbeitet. Wenn man das Konzept der Psychodynamik nicht nur auf triebtheoretische Vorgänge im engeren Sinn beschränken will, sondern auch die so genannten Selbsterhaltungstriebe darunter fasst, spricht nichts dagegen, Konflikt und Abwehr bereits auf einem prä- bzw. subsymboli- schen Niveau beginnen zu lassen. Die Bostoner Gruppe macht auch klar, dass das implizite Beziehungswissen nicht auf einfache sensomotorische oder prozedurale Erfahrungen beschränkt ist, sondern bereits hoch komplexe affektive Reaktionen, Erwartungen und Gedanken enthält. Kurzum: Die Bostoner Gruppe ( The Boston Change Process Study Group, 2007, 2010) vertritt mit Nachdruck die Auffassung, dass Konfliktabwehr und unbewusste Fantasien bereits im impliziten Wissen gelebter Interaktionen ihren Ursprung haben. Diese impliziten Interaktionen sind die fundamentalste Ebene der Psychodynamik und Analytiker, die lediglich auf das «Explizite», auf die seman- tischen Inhalte fokussieren, hätten bislang diese grundlegende Ebene tatsächlich noch nicht ausreichend berücksichtigt oder überhaupt nicht thematisiert. Es kann auch keinen Zweifel daran geben, dass das implizite Beziehungswissen viel umfassender als das sprachlich vermittelte Wissen über Beziehungsmuster ist. Und deshalb verwundert es auch nicht, dass es allen Formen der Übertragung und der Gegenübertragung zugrunde liegt oder vielleicht noch präziser ausgedrückt, dass die Kommunikation zwischen Patient und Analytiker kontinuierlich vom impliziten Beziehungswissen der beiden Beteiligten getragen und bestimmt wird. Allerdings gibt es seit geraumer Zeit erhebliche Einwände (s. Rovee-Collier & Cuevas, 2009) gegen die populäre Unterscheidung zweier Gedächtnissysteme, die sogar zur Postulierung zweier Behandlungstechniken geführt hat (z. B. Ermann, 2005). Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 60 Wolfgang Mertens Der Einfluss triebhafter Fantasien auf das implizite Beziehungswissen Des Weiteren taucht die für die Argumentation von Saller zentrale Frage auf, inwieweit die kindlichen Erwartungen über das Ausmass der liebevollen Bezogenheit und Zuwendung einer Mutter zusätzlich auch noch von triebhaften Fantasien bestimmt werden. Das Problem, das sich hierbei zunächst ergibt, ist, dass innerhalb der Psychoanalyse verschiedene Auffassungen über das Entstehen trieb- haften Erlebens und entsprechender Fantasien existieren, auf die aus Platzgründen leider nicht ausführlich eingegangen werden kann (s. hierzu z. B. Erreich, 2003). Vielleicht nur so viel: Die in der Kindheit aufgrund von Beziehungserfahrungen verinnerlichten «Objektbeziehungen», die mit Selbst- und Objektrepräsentanzen sowie mit Affekten verbunden sind, unterscheiden sich in ihrer Konzeptualisierung je nach Autor und psychoanalytischer Richtung darin, inwieweit sie mehr die realis- tischen Aspekte des elterlichen Einflusses auf die entstehende Repräsentanzenwelt betonen oder mehr den Einfluss kindlich aggressiver und psychosexueller Fantasien bei der Wahrnehmung elterlicher Handlungen, wie beispielsweise in Kernbergs (2002) Synthese von Ich- und Objektbeziehungstheorie. Es wäre also konzeptuell und empirisch sehr genau zu klären, inwieweit vom Säugling und Kleinkind eine Veridikalität der sensorischen Wahrnehmung von mütterlichen Interaktionsangeboten annäherungsweise erreicht werden kann – die Befunde der Kleinkind- und Bindungsforschung weisen darauf hin – und inwieweit diese bei Hinzunahme einer triebtheoretischen Sichtweise von einer Tendenz zur Wunscherfüllung beeinflusst wird, inwieweit also die eher realitätsadäquate sekun- därprozesshafte Wahrnehmung der sächlichen und interpersonellen Welt von der eher primärprozesshaft organisierten Tendenz beeinträchtigt wird, einen früheren, lustvoll erlebten Sinneseindruck wiederzufinden. Denn das bei diesem komplexen Vorgang entstehende Wahrnehmungsprodukt stellt immer eine Konstruktion aus tatsächlich Registriertem und den vielfältigen Erinnerungsbruchstücken dar, die von Spuren einer unbewussten inneren Wirklichkeit ausgehen, die fantasmatisch entstanden ist. Das Szenario von Fantasievorstellungen unterliegt dabei einer diachronen Überarbeitung, die psychoanalytisch als Nachträglichkeit imponiert (Kirchhoff, 2009). Somit lässt sich die Wahrnehmung der äusseren Wirklichkeit nicht ohne den Beitrag und die Modellierung seitens der unbewussten inneren Wirklichkeit konzeptualisieren (vgl. Ansermet & Magistretti, 2005). Das gegenwärtig so häufig zitierte Embodiment ist somit ohne die Einbeziehung lustvoller Fantasien tatsächlich nicht zu haben. Journal für Psychoanalyse 55 Lernen durch Erfahrung 61 Ist ein Vergleich des habituellen Unbewussten von Peirce mit dem prozeduralen Gedächtnis sinnvoll? Die eigentliche Frage, die Saller beantwortet wissen möchte, ist nun aber, ob das von ihr in Anlehnung an Peirce als «habituell» bezeichnete Unbewusste mit dem impliziten Gedächtnis, beziehungsweise mit dem prozeduralen Gedächtnis verglichen werden kann, das sich in der Kognitionspsychologie überwiegend auf motorische Fertigkeiten, wie beispielsweise Schnürsenkel zubinden oder Rad fahren können, bezieht und/oder mit dem «impliziten Beziehungswissen» i. S. v. Lyons-Ruth, einer Mitarbeiterin der Bostoner Gruppe, die damit die affekt- basierten intuitiven Regeln des Miteinanderseins von Mutter und Kind bezeichnet. Zunächst pflichte ich Saller selbstverständlich darin bei, dass es sich hierbei um Lernprozesse handelt. Psychoanalytiker haben lange Zeit einen weiten Bogen um Lernkonzepte gemacht, zum einen, weil die anfänglichen Lerntheorien in einer behavioristischen Tradition standen, für die psychoanalytisches Denken Anathema war. Zum anderen, weil die triebtheoretischen Fantasienbildungen als eigendynamische Prozesse angenommen wurden, die sich keiner Konditionierung, Nachahmung und auch keinem Einsichtslernen zu verdanken schienen. Mittlerweile hat sich aber das Konzept des klassischen Konditionierens aufgrund der «kognitiven Wende» deutlich verändert (s. Rescorla, 1988), was auch von Psychoanalytikern vereinzelt zur Kenntnis genommen worden ist (z. B. Gillett, 1996; Davis, 2001; Talvitie & Ihanus, 2002). Zwar muss man sich das kindliche Fantasieren als mit einer hohen Eigendynamik ausgestattet vorstellen, doch können im Kontext des Erwartungslernens auch Vorgänge der Verdichtung und Verschiebung, der Metaphorisierung und Metonymisierung abgebildet werden. Was heisst dies konkret? Auch als Babys bildeten wir bereits Erwartungen darüber aus, wie unsere Mütter auf unsere Affektäusserungen und die darin zum Ausdruck kommenden Wünsche und Absichten reagierten. Wenn sie sich zum Beispiel angesichts unseres stürmischen Liebesverlangens genervt abwende- ten, signalisierte dies höchste Gefahr und wir versuchten, einen Kompromiss zu finden, bei dem uns die Zuwendung zwar erhalten blieb, die Heftigkeit unseres Verlangens aber auch eine deutliche Dämpfung erfuhr. Diese frühen Regulierungs- und Abwehrvorgänge sowie die fantasierten Ersatzhandlungen und Kompromissbildungen lassen sich einerseits der Tradition des psychody - namischen Denkens zuordnen, andererseits spielen hierbei aber auch Vorgänge des Erwartungslernens eine zentrale Rolle. Und selbst Urvater Freud wäre dieser Argumentation nicht abgeneigt gewesen, denn in seinem Werk finden sich an ver - schiedenen Stellen immer wieder Hinweise darauf, wie nichtbewusste Denk- und Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 62 Wolfgang Mertens Entscheidungsprozesse, die sich gelernten Erwartungs- und Erfahrungsmustern verdanken, für psychische Vorgänge entscheidend wichtig sind. Frühere Versuche, Brücken zwischen den beiden Lagern zu schlagen, sind allerdings wegen der damals noch bestehenden methodologischen Differenzen vom psychoanalyti- schen Mainstream nicht angenommen worden. Mittlerweile aber ist die Zeit für ein integratives Denken gekommen, ja sogar überfällig. Im Folgenden soll noch ein wenig der Frage von Saller nachgegan- gen werden, ob Peirce, «für das Unternehmen einer solchen Annäherung eine Brückenfunktion einnehmen könnte» (Saller, in diesem Heft, S. 11). Peirce’ Konzepte erlauben eine differenziertere Auflösung Saller schätzt an Peirce vor allem, dass dieser die kommunikative und intersubjektive Entstehung und Zusammensetzung eines Zeichens erkannt hat, sowie – und dies im deutlichen Unterschied zu Ferdinand de Saussure und Jacques Lacan – prä- und nonverbale Phänomene als Zeichen anerkennt. Damit lässt sich auch eine deutliche Verbindung zu Freud herstellen, dessen Konzept einer anfäng- lichen Sachvorstellung, zu der erst eine Wortvorstellung hinzutreten muss, um eine Repräsentierbarkeit zu schaffen, eine Vereinbarkeit mit der Zeichentheorie von Peirce möglich macht. Seine Unterscheidung der verschiedenen Zeichen ermög- licht aber ein sehr viel genaueres Verständnis einer semiotischen Progression. So hat zum Beispiel Salomonsson (2007) in einer wegweisenden Arbeit die Konzepte von Peirce für die Betrachtung von Mutter-Kleinkind-Interaktionen und Kleinkind-Therapeut-Interaktionen fruchtbar zu machen versucht. Stimmliche, visuelle und taktile, ikonische und indexikale Zeichen einer Mutter werden vom Baby mit sprachlichen Äusserungen in Übereinstimmung zu bringen versucht. Hierbei können zahlreiche «Übersetzungsprobleme» und Dekodierungsfehler auf- treten, wenn Mütter ausgehend von eigenen unbewussten Fantasien ikonischen und indexikalen Zeichen ihres Kindes nicht zutreffende symbolische Bedeutungen zuschreiben (s. auch Böhme-Bloem, 2008). Die Verwendung von ikonischen und indexikalen Zeichen ermöglicht hierbei einen differenzierteren Zugang zu den Konzepten einer «semiotischen Progression» und «Affektmentalisierung», als wenn – wie bislang – nur sehr global von Symbolisierung oder von Sach- und Wortrepräsentanzen gesprochen wird. Und ebenso lassen sich diese Konzepte auch im therapeutischen Kontext anwenden. Denn mit der immer stärkeren Erkenntnis, dass die analytische Dyade nicht nur eine bewusste, sondern vor allem eine unbewusste interaktive und kom- munikative Beziehung darstellt, in der beide Teilnehmer für sie selbst unerkenn- Journal für Psychoanalyse 55 Lernen durch Erfahrung 63 bare und unbewusste Botschaften verbaler und nonverbaler Art aussenden, dass somit jeder der beiden mit seiner Subjektivität auf die Subjektivität des jeweiligen Anderen reagiert und sich dadurch ein intersubjektives Feld auftut, muss auch das Konzept einer neutralen Erkenntnishaltung einer erneuten Überprüfung unterzo- gen werden. Denn trotz kompetenter Ausbildung und jahrelanger Berufserfahrung kann es nicht ausbleiben, dass Analytiker gegenüber ihren Patienten auch durch ihre eigene nichtbewusst reflektierte Subjektivität agieren und eben nicht nur reflektiert mit ihren Interventionen reagieren. So bleibt es zwar richtig, dass ein Analytiker wie ein Container im Bion’schen Sinne affektregulierend reagieren sollte; aber diese Metapher darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der analytische Container keineswegs leer ist, sondern stän- dig unterschwellige, aber durchaus auch bewusst wahrnehmbare Botschaften affektiver Art aussendet. Nur ein Teil dieser affektiv getönten Botschaften kann vom Analytiker allerdings bewusst reflektiert werden und als epistemische Möglichkeit einer exterritorialen Position genutzt werden. Wenn wir heute davon ausgehen, dass Patienten auf dem Wege einer projektiven Identifizierung ungeliebte Selbstanteile in ihrem Analytiker unterzubringen versuchen und wir immer wieder die Erfahrung machen, dass wir diesen Externalisierungen nur zum Teil derart begegnen können, dass wir sie erfolgreich transformieren, dann ergeben sich durchaus ernst zu neh- mende Fragen: Wie erfolgreich ist das Containment tatsächlich? Was geschieht, wenn ein Patient Zeichen unseres Ärgers oder Enttäuschtseins in uns wahrnimmt, obwohl wir vorgeben, von diesen Emotionen nicht übermässig beeinflusst worden zu sein (vgl. Steyn, 2013)? Wenn diese beschriebenen Prozesse Vorgänge darstellen, bei denen bereits symbolische Netzwerke für körperliche Affektzustände ikonischer und indexikaler Art entstanden sind und bei denen nun eine Gefühlsverleugnung und eine regressive Desymbolisierung oder eine semiotische Regression auf Seiten des Therapeuten erfolgt sind, können diese Phänomene mittels Selbstreflexion durchaus entdeckt werden. Problematischer ist es aber, wenn die Stufe der Symbolisierung oder der symbolischen Repräsentation noch gar nicht oder für verschiedene Affekte nur sehr unzulänglich erreicht worden ist. Dann bleibt die körperliche Spannung der nicht - symbolisierten Affekte – wie beispielsweise Angst, Wut, Neid, Hass, Rachsucht – ungemein drängend und sucht sich überwiegend somatische Ausdruckskanäle, die sich wiederum als bildhafte und indexikale Zeichen bei beiden Beteiligten manifestieren können. Das gestörte Affektattunement macht sich dann als ein körperliches Spannungsgefühl des Nicht-Zueinanderpassens und mittels soma- tischer Angstäquivalente bemerkbar. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 64 Wolfgang Mertens Literatur Ansermet, F. & Magistretti, P. (2005). Die Individualität des Gehirns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Böhme-Bloem, C. (2008). Gedanken zur semiotischen Ebene. Der Mensch – animal symbolicum et diabolicum. Niedecken, D. (Hrsg.), Szene und Containment. Wilfred Bion und Alfred Lorenzer: Ein fiktiver Dialog (S. 103–135). Marburg: Tectum. Clyman, R. (1992). 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