Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und Second von Charles S. Peirce
Vera Saller
Die Peirce’schen Kategorien (First, Second, Third) bieten sich als Metatheorie für eine Theorie des Denkens und also auch für die Psychoanalyse an: Was könnte der Vorteil eines solchen Unterfangens sein?
Nach einer kurzen geistesgeschichtlichen Einordnung der Psychoanalyse und des Pragmatismus wird der Nutzen einer Metatheorie für die Psychoanalyse anhand der zeitgenössischen Diskussion um den Status des Unbewussten aufgezeigt. Darauf folgt die Darstellung, wie sich das Freud’sche, dynamische Unbewusste verändert, wenn es mit den Peirce’schen Kategorien First und Second verglichen wird. Die Hauptthese der Arbeit ist, dass der von Freud postulierte Primärprozess, dessen Prinzipien sich aus dem Funktionieren von Abwehrmechanismen herleiten lassen, weiter gefasst und als Ursprung des Denkens überhaupt angesehen werden sollte. Dass das Peirce’sche Third in dieser Arbeit verhältnismässig kurz abgehandelt wird, schuldet sich einer bemerkenswerten Übereinstimmung von Psychoanalyse und Peirce’ Philosophie: Bei beiden spielt das Lernen durch Erfahrung eine herausragende Rolle.
Debatte zum Schwerpunktthema Grundlagenartikel zur Debatte Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und Second von Charles S. Peirce Vera Saller (Zürich) Zusammenfassung: Die Peirce’schen Kategorien (First, Second, Third) bieten sich als Metatheorie für eine Theorie des Denkens und also auch für die Psychoanalyse an: Was könnte der Vorteil eines solchen Unterfangens sein? Nach einer kurzen geistesgeschichtlichen Einordnung der Psychoanalyse und des Pragmatismus wird der Nutzen einer Metatheorie für die Psychoanalyse anhand der zeitgenössischen Diskussion um den Status des Unbewussten auf- gezeigt. Darauf folgt die Darstellung, wie sich das Freud’sche, dynamische Unbewusste verändert, wenn es mit den Peirce’schen Kategorien First und Second verglichen wird. Die Hauptthese der Arbeit ist, dass der von Freud postulierte Primärprozess, dessen Prinzipien sich aus dem Funktionieren von Abwehrmechanismen herleiten lassen, weiter gefasst und als Ursprung des Denkens überhaupt angesehen werden sollte. Dass das Peirce’sche Third in dieser Arbeit verhältnismässig kurz abgehandelt wird, schuldet sich einer bemerkens- werten Übereinstimmung von Psychoanalyse und Peirce’ Philosophie: Bei beiden spielt das Lernen durch Erfahrung eine herausragende Rolle. Schlüsselwörter: Pragmatismus, habituelles Unbewusstes, Implizites, First, Second, Third Bis vor ca. 50 Jahren war das Menschenbild des philosophischen Mainstreams durch die Ratio bestimmt. Dagegen trat in den letzten Jahrzehnten vermehrt ins Bewusstsein, dass das Denken des Menschen grundsätzlich sozialer Natur ist, d. h. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 6 Vera Saller kulturell und religiös geprägt. Weiter ist seit Francisco Varela, Antonio Damasio und Gerald Edelman zum Allgemeinwissen geworden, dass der bis dahin ver - nachlässigte Körper in allen Bereichen des menschlichen Handelns und Denkens zentral mitgedacht werden sollte. Unter dem Schlagwort embodied mind ist diese Erkenntnis in alle life sciences, inklusive Philosophie und Sozialwissenschaften vorgedrungen. Mit embodied mind ist unter anderem das Selbstgefühl im Körper und damit zusammenhängend auch die emotionale, affektive und hormonelle Steuerung und Beeinflussung des Denkens durch körperliche Prozesse gemeint. Einiges was da an A-Rationalem 1 betont wird, ist von der Psychoanalyse schon seit ihrem Bestehen eingebracht worden. Die Psychoanalyse ist aber nicht die einzige Geistesströmung, die als Vorläufer der jetzigen Bewegungen gelten kann. Menschliches Handeln wurde auch vom amerikanischen Pragmatismus bereits vor mehr als 100 Jahren Rationalismus-kritisch gewürdigt. Pragmatismus, von griechisch to pragma (die Handlung, das Getane), betont, dass das menschliche Denken nur in Bezug auf das Handeln erklärt werden könne. Gemäss der prag- matischen Maxime ist jeder Begriff nur insofern sinnvoll, als er eine Änderung der Handlungsweise des Denkenden bewirkt. Für den Begründer des Pragmatismus, Charles Sanders Peirce (vgl. Artikel zur Person Peirce’ am Schluss dieser Arbeit), war der Begriff der Gewohnheit (habit) zentral und da ein grosser Teil dessen, was wir täglich gewohnheitsmässig tun, nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht, lässt sich sagen, dass es auch ein pragmatisches, habituelles Unbewusstes gibt (vgl. auch Saller, 2003, S. 123–144). Das habituelle Unbewusste enthält Prämissen, von denen wir unhinterfragt ausgehen, und Gewohnheiten, die wir automatisch ausführen. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich damit, wie dieses habituelle Unbewusste der Pragmatisten mit demjenigen der Psychoanalytiker in Verbindung gebracht werden kann. Mein diesbezüglicher Ehrgeiz und mein Interesse haben unter anderem damit zu tun, dass ich von der Ethnologie herkommend versuchte, die Psychoanalyse auch als Gesellschaftstheorie zu verstehen. Wie Alfred Tauber (2010) in einer äusserst spannenden und lesenswerten Studie kürzlich gezeigt hat, war auch Freuds eigenes Interesse ursprünglich ein philosophisches. Er auferlegte sich aber die Orientierung an der Empirie und liess seiner spekulativen Neigung erst in späteren Jahren Raum, vor allem in seinen Kulturschriften. Für mich liegt da, wo Freud die Psychoanalyse als allgemeine Theorie des Denkens versteht, indessen ein Problem. Obwohl es eines der Verdienste Freuds war, dass er die scharfe Trennlinie, die Gesunde von Kranken scheidet, relativiert hat, lässt sich die therapeutische Herkunft der Psychoanalyse – einer Theorie, die auf dem Gegensatz Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 7 von Gesund und Krank basiert – nicht verleugnen. Meiner Ansicht nach ist deshalb eine Umformulierung des psychoanalytischen Wissens in eine Theoriesprache, die auf einer Erklärung des Denkens und Erkennens beruht, interessant. Wenn wir, umgekehrt, von Peirce ausgehen, stellt sich die Frage, ob er ein dynamisches Unbewusstes im Sinne von abgewehrten Inhalten hätte akzep- tieren können. Diese Frage hat Vincent Colapietro in zwei Studien (1989; 1995) untersucht und unmissverständlich mit einem Ja beantwortet. Die zweite Frage betrifft die Gestaltung des Freud’schen dynamischen Unbewussten mit Peirce’scher Terminologie. Da mein Problem mit der Psychoanalyse als allgemeiner Theorie des Denkens gerade darin liegt, dass in der Beurteilung gesellschaftlicher oder kulturel- ler Phänomene zu viel vom Gegensatz krank versus gesund hineinspielt, ist für mich klar, dass das Peirce’sche, habituelle Unbewusste umfassender gedacht sein sollte als das dynamische. Aber wie das eine im anderen abgrenzen, wie Verbindungen schaffen? Während ich in meinen bisherigen Arbeiten Wilfred R. Bion und Peirce (2003, S. 97–127; S. 455–469; 2005), resp. Freud und Peirce (2014) verglichen habe, möchte ich in dieser Arbeit auch neuere Entwicklungen der Psychoanalyse berücksichtigen. Dabei kommt mir entgegen, dass die Zeitschrift Psyche eben eine Sondernummer dem Thema «Das Unbewusste, Metamorphosen eines Kernkonzeptes» gewidmet hat. In der Einleitung unterscheidet Werner Bohleber folgende Modifizierungen, die von je verschiedenen Richtungen der Psychoanalyse vertreten werden: Beginnend mit dem Freud’schen Modell erwähnt er, dass es einen hermeneutischen Aspekt sowie auch einen naturwissenschaftlichen gebe, bei Letzterem werde das Unbewusste als kausale Kraft aufgefasst. Weiter stellt Bohleber fest, dass nach Freud das Unbewusste aus Triebrepräsentanzen gebildet sei, die sich dann zu Fantasien und bildhaften Darstellungen des Wunsches ausprägen. Das primärprozesshafte Denken, das durch die Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung gekennzeichnet sei, sei das ursprüngliche Denken, aus dem später das sekundärprozesshafte Denken hervorgehe (Bohleber, 2013, S. 809). Das klei- nianische Modell sieht er als «stärker horizontal aufgespannten metaphorischen Raum» (S 807); er erwähnt auch die Laplanche’sche Fassung, wo das Unbewusste zum Ort der rätselhaften Botschaften des Anderen wird; und schliesslich verweist er auf das Modell der neueren, intersubjektiven Theorien, bei denen das Unbewusste in impliziter Form in der Beziehung selbst gelebt werde (ebd.). Als weitere Entwicklungen nennt Bohleber das kreative Unbewusste nach Bion und James Grotstein, bei dem nicht mehr das Verdrängte im Vordergrund stehe, sondern das Unbewusste zu einer Quelle des seelischen Wachstums werde. Diese letzte Ausformulierung passt gut zu meinem Verständnis, das ich aus der Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 8 Vera Saller Analyse der Peirce’schen Kategorie des Firsts erschliessen werde, und gemäss des- sen das Unbewusste als Ort der Entstehung des Denkens gesehen wird. Bohleber charakterisiert abschliessend die Autorenartikel des Heftes: Begriffe wie Zwei- Personen-Unbewusstes, Rhythmen und Resonanz, szenische, nicht-sprachliche Elemente, kinästhetische Dimension, neurowissenschaftliche Forschung, kollek- tive Fantasmen und gesellschaftliches Unbewusstes setzen Akzente. Ich werde nun auf Wolfgang Mertens Artikel «Das Zwei-Personen- Unbewusste» fokussieren, denn er bezieht sich auf die Diskussion um den Status des Unbewussten, die ich oben angekündigt habe. Sein Thema ist das interper - sonale Unbewusste. Er zeigt auf, dass die Werkzeuge des Analytikers, «Abstinenz, Neutralität, Interaktionsvorbehalt», die die «Unabhängigkeit der analytischen Erkenntnisposition sichern sollen», nur noch «als Hinweisschilder gelten» (2013, S. 836) können, weil das Wissen um das Involviertwerden des Analytikers in den analytischen Prozess in letzten Jahrzehnten stetig zugenommen hat. Er drückt aus, was uns Analytiker heute beschäftigt, nämlich dass Analytiker und Analysand «mit ihren emotionalen Strukturen, ihren Übertragungsbereitschaften sowie den nicht- bewusst erfolgenden vielfältigen, verhaltensmässigen Ausdruckserscheinungen mimischer, gestischer, posturaler und verbal prosodischer Art vielfach aufeinander bezogen» sind (Mertens, 2013, S. 835). In dieser Schilderung kann ich meinen eigenen theoretischen Weg wie- dererkennen; insbesondere begrüsse ich die Einschätzung, dass das analytische Sprechen nahe beim Handeln liege (Mertens setzt einen Zwischentitel «Von der talking cure zum Handlungsdialog»), denn sie kommt meinem Anliegen entgegen, die Psychoanalyse auch pragmatistisch zu verstehen. Mertens bezeichnet die neu erforschten Formen des Unbewussten als das «Implizite» (vgl. auch Junker, 2013) und er eröffnet die Frage, in was für einem Verhältnis das gute alte Unbewusste zu den impliziten, nicht-erinnerten Beziehungserfahrungen stehe. Er beschreibt die sich in den letzten Jahrzehnten im deutsch- und eng- lischsprachigen Raum abzeichnenden Modifikationen dessen, was man unter «unbewusst» versteht und spricht – höre ich da eine leichte Irritation heraus? – von den in letzter Zeit «fast enthusiastisch rezipierten Konzeptualisierungen der Bostoner Change Process Study Group» (Mertens, 2013, S. 837). Aber die Arbeiten dieser Gruppe sind auch kritisiert worden (z. B. Litowitz, 2005). Dass das von der Change Process Study Group (CPSG) ins Gespräch gebrachte Implizite und ihr dyadisches Verständnis der Psychoanalyse beschäftigt, hat zum Teil auch damit zu tun, dass es zwischen Daniel Stern, einem wichtigen Exponenten der CPSG Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 9 und André Green, einem Vertreter der offiziellen Psychoanalyse (er war über Jahre Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung), bereits früher heftige Debatten gegeben hat. 2 Auch die heutigen Stellungnahmen der CPSG zur psychoanalytische Theorie und Therapie sind eher unfreundlich: “[…] it became clear that there has been a fundamental confusion in previous theorizing as to what is surface and what is depth” (CPSG, 2007, S. 2). Mit Oberfläche und Tiefe ist hier gemeint, dass die Analytiker «alter Schule» die Tiefe im Benennen der Konflikte vermutet hätten, sich dabei aber auf einer oberflächlicheren Ebene bewegten. Umgekehrt nehmen die Autoren für sich in Anspruch, dass sie die Phänomene auf der von ihnen so genann- ten impliziten Ebene – ich würde sagen der Übertragungsebene – behandeln wür - den, und dies sei die wahrhafte Tiefe. Wie sie später in ihrer Arbeit ausführen, kann man indes das Verhältnis zwischen Konfliktdeutung und Mikroebene (auch ein Begriff der CPSG, mit dem die mikroskopisch kleinen Prozesse «zwischen den Zeilen» gemeint sind) auch so sehen, dass das, was sich implizit in der Beziehung abspielt, Ausdruck der tieferliegenden Konflikte ist (ebd., S. 10). Dass die wesent- lichsten Veränderungen im Hier und Jetzt 3 ausgelöst werden, das ist unbestritten. Die Autoren erwecken aber meiner Ansicht nach den Eindruck, dass die Analytiker die implizite Ebene bewusst und kontrolliert einsetzen könnten. Dagegen glaube ich, dass wir uns ohne das Instrumentarium der psychoanalytischen Theorie als Richtgrösse, und ohne die Gruppe der Kollegen und Kolleginnen, mit denen wir dieses Instrumentarium teilen, in einem heillosen «Gspürschmi-Fühlschmi» 4 der vermeintlichen Empathie verlieren. Der gemeinsame Bezug auf die Theorie und die Möglichkeit zum intersubjektiven Austausch ergibt die Triangulierung, ohne die eine tiefe Verstrickung geschieht, die sogar die Gefahr einer folie à deux beinhaltet. Die Geschehnisse auf der von den Autoren so benannten Mikroebene erschliessen sich nachträglich, denn auch Analytiker sind dem Sog unbewusster Konflikte preisgegeben. Schon Sterns «The Interpersonal World of Infant», ein Standardwerk der Babybeobachtung, löste ambivalente Reaktionen aus. Ich erinnere mich an meine eigene Lektüre: Nach anfänglicher Begeisterung dämmerte bei mir allmählich die Einsicht, dass ich Stern da, wo er sein faszinierend empathisch geschriebenes Kompendium sämtlicher Forschungsberichte über Babybeobachtungen der letzten 50 Jahre verliess, um zentrale psychoanalytische Thesen über die frühe Entwicklung auszuhebeln, eigentlich nicht folgen wollte. Schliesslich löste ich das Dilemma, indem ich mir sagte: Stern beschreibt in attraktiver Art Situationen, in denen der Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 10 Vera Saller Kontakt zwischen Mutter und Kleinkind gelingt. Für diejenigen Fälle, in denen etwas schief läuft, hat er keine Konzepte. Analog dazu formuliert Rolf Peter Warsitz in Bezug auf den Therapieansatz, den die Autoren des CPSG entwickelt haben: «Das Konzept des impliziten Wissens entspricht nun bloß zum Schein dem Unbewussten der Psychoanalyse […], es [ist] keineswegs identisch mit dem ‹dynamisch Unbewussten› der Psychoanalyse, da ihm Funktionen wie Widerstand oder Verdrängung völlig fehlen» ( Warsitz, 2007, S. 82). Die Einfühlsamkeit im Tanz der Intersubjektivität ist eine wichtige Bedingung dafür, dass die tendenziell narzisstisch verletzende Situation des Beobachtet- und Kommentiertwerdens in der analytischen Therapie toleriert wird. Darüber hinaus indessen, und das ist meiner Ansicht nach das «Etwas mehr» (vgl. CPSG, 2002) der psychoanalytischen Beziehung, beschäftigen sich Psychoanalytiker nun schon seit Jahren intensiv damit, wie sie sich in aggressiv gefärbten Übertragungen und Gegenübertragungen zurechtfinden können und sollen. Wenn man Beschreibungen von dem, was als implizite Erinnerung bezeich- net wird, liest, ist man immer wieder versucht, auszurufen: Das ist doch genau das, was Freud beschreibt! Andererseits fehlen, wie gesagt, die für das klassische dynamische Unbewussste charakteristischen Abwehrprozesse. Es heisst, dass die impliziten Erinnerungen im Gegensatz zu den verdrängten Inhalten nie symboli- siert waren und nur direkt im Handeln repräsentiert seien. In diesem Sinne erin- nern sie an die Konflikte der Psychosomatiker, von denen ebenfalls gesagt wird, dass sie nie symbolisiert waren und direkt durch den Körper ausgedrückt werden (McDougall, 1991). Indessen, wenn der Beobachter, oder später der Analytiker, mit seiner Empathie die ungelebten Impulse oder Affekte wieder zum Leben zu erwecken sucht, ist dann nicht doch auch so etwas wie ein Konflikt, etwas wie psychische Abwehr da? Die Frage stellt sich nun, ob das Implizite mit dem von mir als «habitu- ell» bezeichneten Unbewussten in Zusammenhang zu bringen sei. Verglichen mit dem Impliziten, das in den letzten Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist, steht bei den als «habituell» bezeichneten Vorgängen die körper - nahe Erfahrung der frühen Babyzeit weniger im Vordergrund. Wenn man an Gewöhnung und Automatisierung denkt, liegt vielleicht die Bezeichnung proze- durales Gedächtnis näher als implizites; doch teilweise werden die beiden adjek- tivischen Bestimmungen des nichtbewussten, aber höchst aktiven Teiles unseres Gedächtnisses synonym verwendet. Ich möchte diese letzten Endes definitori- schen Fragestellungen aber beiseite lassen, denn ich denke, dass es hier eher um Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 11 verschiedene Akzentsetzungen als um prinzipielle Differenzen geht. Auch wenn die Beispiele der Intersubjektivisten sich an emotional zentrale Geschehnisse und Erinnerungen halten, ist offensichtlich, dass die Vertreter dieser Richtung, ebenso wie die Theoretiker des Lernens und diejenigen des Automatisierens, eher lernthe- oretischen Vorstellungen nahestehen, während die psychoanalytische Vorstellung des Lernens und Erinnerns stark mit durch Traumata und Konflikte geschaffene Lücken der Symbolisierung und Auflösung von Verbindungen einhergeht. Wenn dies auch für psychoanalytische Ohren ungewohnt tönt, die Autoren des CPSG zeigen, dass das, was wir unter Verdrängung verstehen, ebenfalls als Lernen angese - hen werden kann (vgl. auch CPSG, 2007, S. 11 ff.). Das weist darauf hin, dass es die beiden einander über Jahrzehnte als unvereinbar gegenüberstehenden Disziplinen des Lernens zu verbinden gälte. Ich schliesse mich da Matthias Kettner und Mertens an, zwei Autoren, die schon 2010 öffentlich die Klinge kreuzten über den Status des Unbewussten heute. Gegen den Schluss ihrer Auseinandersetzung schreibt Kettner an Mertens: «Sie erwähnen den, wie ich finde, elektrisierenden Punkt, dass die Dichotomisierung von kognitivem Unbewussten der Kongnitionspsychologie und dem dynamischen Unbewussten der Psychoanalytiker irreführend sei.» (Kettner & Mertens, 2010, S. 133). Ich glaube, dass Peirce, der generell die Kontinuität von Prozessen betonte, für das Unternehmen einer solchen Annäherung eine Brückenfunktion einnehmen könnte. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse Ich möchte nun zum eigentlichen Kern meiner Ausführungen kommen und untersuchen, wie das Freud’sche Unbewusste zu denken ist, wenn wir Peirce’ Semiotik als Metatheorie einsetzen. Dabei gehen wir davon aus, dass der Begriff des Unbewussten, wie Mertens bemerkt, semantisch eigentlich nur die Negierung des Bewussten bedeutet. Freud hat ihm aber auch ein eigenes, spe- zifisches Organisationsprinzip zugeordnet. Mit dem Primärvorgang hat er eine Erlebnisweise gekennzeichnet, in dessen Funktionieren die Energie frei flottiere, während «die Systeme Bw und Vbw Energie in gebundener Form enthalten, die auch hemmende Strukturen aufweist» (Kettner & Mertens, 2010, S. 117–118). Da Freud in späteren Schriften den Primärvorgang nicht mehr weiter explizierte (Noy, 1969), ist die Frage eigentlich offen, ob er meinte, dass dieses spezielle, organisierende Prinzip mit der neuen Topik lediglich für das dynami- sche Unbewusste gelten sollte, oder ob der Modus des Primärvorganges auch im deskriptiven Unbewussten und anderen bewussten Vorgängen aktiv sei. Von der Bewegung her, wie Freud den Primärprozess entdeckte und beschrieb, ist jedoch Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 12 Vera Saller anzunehmen, dass er sich diesen als an die Abwehrmechanismen gebunden vor - stellte. Verdichtung und Verschiebung, als Hauptcharakteristika dieses Prozesses, enthalten eine aktive unbewusste Intention, die Unbewusstmachung, oder auch die Abwehr. Wie ich nun zeigen werde, ist die Peirce’sche Vorstellung hier insofern anders, als die Anfänge des Denkens und Erkennens selbst im Vagen liegen, so dass hier von einem «Primärprozess» auszugehen ist, der wirklich primär ist. Was ja irgendwie auch in der Freud’schen Vorstellung steckt, denn sonst hätte er ja den Primärprozess nicht Primärprozess getauft (vgl. Bohleber oben). Erkenntnisse aus Babybeobachtung, Kognitionspsychologie und Hirnforschung legen nahe, ein grösseres Feld nicht konfliktiver Unbewusstheit anzunehmen – und die Peirce’sche Vorstellung geht in dieselbe Richtung. Dies wirft die Frage auf, inwiefern sich das dynamische Unbewusste vom Rest abtrennt oder ob die verschiedenen Formen des Unbewussten in kontinuierlicher Form zusammenhängen. Ähnlich wie Kettner denke ich, dass das dynamische Unbewusste als kleiner Teil des umfassenderen Unbewussten einer Eingrenzung und Bestimmung bedarf. Als Abgrenzungskriterium schlägt er die Konflikthaftigkeit vor: «Worauf will ich hinaus? Auf die ‹Abwehrlehre›, also kurz gesagt die ganze Denkrichtung, die damit beginnt, dass Freud und Breuer anfangen, das, was sie interessiert, mit konfliktbezogenen intentionalistischen Begriffen zu beschreiben, zum Beispiel ‹Gegenwille›, ‹Widerstand›, ‹Abwehr›, ‹Verdrängung›, ‹Zensur›, ‹Gegenbesetzung›» (Kettner & Mertens, 2010, S. 134; vgl. einen ähnlichen Gedanken bei Litowitz, 2005, S. 752). Bezüglich des von mir anvisierten habituellen Teils des unbewuss- ten Seelenlebens wäre das von Kettner für den dynamischen Teil vorgeschlagene Abgrenzungskriterium perfekt. Für die impliziten Objektrelationen dagegen, die ja auf Beziehungserfahrungen beruhen, die die in Entwicklung Begriffenen negativ geprägt haben, ist die Abgrenzung nicht eindeutig genug. Gemäss dem Kriterium von Kettner würden negative implizite Beziehungserfahrungen auch ins dynamische Unbewusste gehören, abgetrennt allerdings nicht durch den Abwehrmechanismus der Verdrängung, sondern der Spaltung oder Verwerfung. Ein zentraler Gedanke in der Peirce’schen Philosophie ist die Kontinuität. Dementsprechend soll die hier versuchte Charakterisierung zwar idealtypisch habituelles Unbewusstes von dynamischem scheiden, indessen gehe ich von der Annahme aus, dass die beiden Anteile des Unbewussten in Wirklichkeit zusammen- wirken, ineinanderfliessen, einander beeinflussen und voneinander beeinflusst werden. Es scheint mir auch möglich, dass zwischen Verwerfung (vorsymboli- sche Rückweisung) und Verdrängung (nachträglich unterdrückte, bereits symbo- Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 13 lisierte Inhalte) gar nicht so klar unterschieden werden kann, wie die begriffliche Bestimmung es suggeriert. Dies, weil es sich um lebendige Prozesse handelt, die in Entwicklung begriffen sind. So kann vielleicht ein Inhalt noch nicht symboli- siert sein, aber er ist doch auf dem Weg dahin. Und die Verwerfung wäre dann als Stillstand innerhalb dieses Entwicklungsprozesses zu deuten. Aber davon später mehr. An Freud kratzen Wenn wir das nicht verdrängte Unbewusste mit dem dynamischen Unbewussten zusammendenken möchten, müssen wir Freuds Gedankengut kri- tisch durchleuchten. Anhand meiner Ausführungen zu Peirce werde ich zeigen, dass vieles von dem, was Freud als typisch für den Primärvorgang erachtete, neu verstanden werden sollte. Ein weiteres Feld, in dem ich eine andere Auffassung als Freud vertreten werde, betrifft die Wahrnehmung. Zudem werde ich versu- chen, den Gedankengängen Freuds, die er mit der Energiemetapher ausdrückt, in einer weniger physikalischen Sprache gerecht zu werden. Damit ist gemeint, dass ich einen Antrieb, eine motivierende Kraft für das, was als Spiel der Zeichen erscheinen mag, voraussetze, die weitere Ausformulierung der physikalischen Metapher der Kraft, die Freud als ökonomischen Standpunkt ausformuliert, aber nicht übernehmen werde. Wie ich an anderer Stelle untersucht habe (Saller, 2014), verträgt sich die ontologisch-epistemologische Grundeinstellung der beiden Autoren und Zeitgenossen erstaunlich gut. Kurz zusammengefasst habe ich dort argumen - tiert, dass Peirce sich einerseits explizit gegen Nihilismus und epistemologischen Skeptizismus wandte, andererseits aber auch einer der ersten war, der Wissen als eine soziale Errungenschaft verstand. 5 Wer indes denkt, dass der pragmatische Wahrheitsbegriff dahin ziele, dass letztlich nur zähle, was die Menschen im Moment gerade als brauchbar und stimmig erachten und die Wahrheit einer Aussage gar nicht bestimmbar sei, geht fehl. Für Peirce war es wichtig, dass es eine Realität gibt, und dass diese, wenn auch nicht vollständig, so doch in immer genaueren Annäherungen («in the long run») erkannt werden kann. Eine ähnliche Haltung diesen grundsätzlichen epistemologischen Fragen gegenüber sehe ich bei Freud, und ich kritisiere sowohl selbstpsychologisch-konstruktivistische Aussagen, nach denen es nur darum gehe, eine für den Patienten stimmige «eigene Geschichte» zu konstruieren, 6 wie auch die von Bion und Jacques Lacan annäherungsweise eingenommene skeptische Position, gemäss derer der Mensch sich selbst zwangs- läufig verkenne und auch zur Realität keinen Zugang habe (Pagel & Weiss, 1993). Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 14 Vera Saller Ich werde nun meine Überlegungen zum Unbewussten anhand der von Peirce vorgeschlagenen drei Kategorien des First, Second und Third vor - stellen. Ausgehend von Kants Kategorien der reinen Verstandesbegriffe, die er mehrmals umstellte, ist Peirce auf diese drei Kategorien gestossen, die jeder Erfahrung zugrunde liegen. 7 Vorgängig umreisse ich die drei Kategorien. Nach der Beschreibung werde ich jeweils die dazugehörige Zeichenkategorie nennen, denn den drei Kategorien entsprechen drei Arten von Zeichen. 8 Das First (ich bleibe bei der englischen Terminologie) steht für eine sehr primitive, man könnte sagen vorbegriffliche Form des Seins. Es ist unser Sein, noch bevor es etwas repräsentiert oder durch etwas repräsentiert wird, geschweige denn sich selbst reflektiert. Peirce nennt als Beispiel oft das reine Erleben der Farbe Rot, das frei von Reflexion oder Formen des bewussten Vergleichs stattfindet. In der Einteilung der Zeichen ist die dem First entsprechende Zeichenkategorie das Ikonische. Das Second bezeich- net den Moment des Kontaktes dieses ungestörten, selbstgenügsamen Seins mit der Realität. Peirce fordert seine Zuhörer auf, sich einen Zustand absoluter Ruhe vorzustellen, in dem man all den Reizen, die einen umgeben (wie z. B. Hitze oder Kälte, Berührungen des Körpers mit dem Boden, auf dem man steht, dem Stuhl, auf dem man sitzt oder – allgemeiner – der Haltung des Körpers) überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkt. Das wäre ein Zustand im First. Wenn Sie dann plötzlich durch einen lauten Lärm aus ihrer Versunkenheit aufgeschreckt werden, dann ist diese Hundertstelsekunde, in der Sie noch nicht wissen, was Sie erschreckt, ein Second. Das Second ist der Zusammenstoss mit der Realität, Peirce spricht vom «outward clash». Wird die Störung des Second eingeordnet – beispielsweise durch folgenden Gedanken: «Ah ja, das ist die Pausenglocke. Wir werden nun für fünf Minuten rausgehen!» –, siedelt Peirce die Erfahrung auf der Ebene des Third an. Das Third bedeutet, dass der Erlebende die Erfahrung, die er gerade macht, mit einem Symbol belegt hat, das sich in das Netz aus Symbolen, das er mit ande- ren teilt, einfügt. Er weiss dann auch, was die Situation für ihn bedeutet, welche Gewohnheit als nächstes aktiviert wird. 9 First – Primärprozess Im Folgenden werde ich das First mit dem Freud’schen Primärprozess in Verbindung bringen. Wenn indessen bei der Beschreibung des Firsts einiges auf- scheinen wird, was an den Primärprozess erinnert, so muss dazu gesagt werden, dass hier die Prinzipien der Nicht-Identität nicht einem Abwehrprozess geschuldet sind, sondern, dass ich Prozesse beschreibe, die allem Denken zu Grunde liegen. Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 15 Wie oben erwähnt, entsprechen den drei Kategorien First, Second und Third jeweils die Zeichenarten Ikon, Index und Symbol. Die Beziehung vom Zeichen zu seinem Objekt ist im Fall des Ikons von Ähnlichkeit, in jenem des Indexes von räum- lichem Nebeneinander, Kontiguität und/oder Kausalität geprägt, und beim Symbol ist der Bezug zwischen Zeichen und Objekt konventionell. Der Aspekt, wie ein Zeichen sich mit seinem Objekt in Verbindung bringt, ist zwar etwas Wesentliches, die Zeichenarten kommen aber nie in reiner Ausprägung vor. Dies gilt – wie weiter unten erläutert wird – besonders für das Ikon, bei dem der Zeichenbezug auf der Ebene des Firsts liegt. Zum besseren Verständnis muss ich noch erwähnen, dass man sich unter ikonischen Zeichen – trotz des Namens – nicht Bilder vorstellen sollte. Vielmehr ist ein Ikon ein Zeichen, das mit dem Objekt, für das es steht, eine Eigenschaft teilt. Peirce sagt über das Erleben im First: “The idea of First is predominant in the ideas of freshness, life, freedom. The free is that which has not another behind it, determining its actions; […] Freedom can only manifest itself in unlimited and uncontrolled variety and multiplicity; and thus the first becomes predominant in the ideas of measureless variety and multiplicity” (CP 1.302, Hervorhebung des Autors). Oben wurde für den Freud’schen Primärprozess gesagt, dass die Energie frei flottiere und dieselbe später in der Symbolisierung des Sekundärprozesses gebunden werde. Die Peirce’sche Schilderung des Firsts erinnert daran, auch wenn hier die Metapher nicht die Energie ist, sondern Potentialität. Es werden noch keine Dinge wahrgenommen, sondern Eigenschaften der Welt, wie etwa ein Geruch oder Geschmack oder der Sinn für Rot; Eigenschaften, die vereinzelt wirken. Das ist der Grund, weshalb es ein reines ikonisches Zeichen nicht geben kann; denn Zeichen sagen ja etwas über etwas anderes aus, 10 über ein Ding. Peirce schrieb, dass das reine Ikon nur eine Möglichkeit sei, etwas absolut Vages. 11 Wie oben bereits angedeutet, passen die Prinzipien der Verdichtung und der Verschiebung zur Idee, dass der Anfang der Gedanken als ein Meer von Vagheit zu denken ist, wo nur einzelne Charakteristika der Welt präsentiert wer - den, und kein wirkliches Erkennen von Dingen vonstattengeht. Die von Freud festgestellten Prinzipien der A-Rationalität sind hier aber nicht das Ergebnis eines Abwehrprozesses, sondern die natürliche, erste Form, in der wir «denken». 12 Die halluzinatorische Wunscherfüllung (Freud, 1900/1999, S. 568) bereichert diesen von Peirce eher statisch geschilderten Zustand des Firsts um den Wunsch. Der Wunsch veranlasst das Baby, sich vorzustellen, dass etwas geschieht, das es früher als befriedigend erlebt hat. Es werden einzelne Charakteristika wie der Geruch Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 16 Vera Saller der Mutter, oder ihre Art, das Kind zu halten, mental evoziert. Wie aktiv das Kind selbst ist bei der Produktion dieser Vorstellung, wissen wir nicht. Aber irgendetwas, eine Kraft, die den Motor bildet für das, was folgt, müssen wir annehmen. Und ich glaube, der Trieb ist dafür nicht das schlechteste Konzept. Den Wunsch nach Wiederholung des Befriedigungserlebnisses könnte man in die Nähe des Beharrungsprinzips rücken, welches das First auszeichnet. Es gibt kein Erkennen von Differenzen, es wird nur Gleiches wieder erlebt. David Olds, ein amerikanischer Psychoanalytiker, der sich mit Neuropsychoanalyse und Peirce beschäftigt, sieht das so: “Semiotic theory leads us to focus on the repetition-com- pulsion as fundamental to much repetitive behavior, some, but not all, of which is maladaptive and out of a person’s control. […] A repetition is, by definition, iconic” (Olds, 2003, S. 91). Mir wurde anhand des Firsts auch das Freud’sche Konzept der Sach- vorstellung (1915a/1999, S. 299–300) plastischer. Paradoxerweise handelt es sich hierbei nicht um eine Sache, sondern nur um Qualitäten, die erlebt werden. Eigenschaften von Dingen, die uns wie etwas Äusserliches «anstossen», quasi kin- ästhetisch, olfaktorisch, gustatorisch, optisch oder akustisch, wie es eben Dinge (oder die Qualitäten der Dinge) tun. Wenn wir uns indessen durch den Term der «Sachvorstellung» suggerieren lassen, dass wir die Sache, so wie sie ist, quasi in unserem Geist haben, führt er in die Irre. Die Sachvorstellung ist der sinnliche Abklatsch, der uns, wenn wir etwas Ähnliches sehen, aufdämmert. Ich habe die halluzinatorische Wunscherfüllung herangezogen, um den Prozess der Wahrnehmung, der gemäss Peirce ebenfalls hier seinen Anfang nimmt, zu studieren. Nach Peirce beginnt die Wahrnehmung auf dieser absolut unbewussten Stufe des Firsts. Wir nehmen nur Qualitäten wahr, die wir schon einmal wahr - genommen haben. Der ganze Prozess, bis hin zum Wahrnehmungsurteil, geht stufenweise vor sich. Peirce stellt sich vor, dass vom uns affizierenden Second in der Begegnung mit der Realität, zum erahnten Icon bis zum Wahrnehmungsurteil im Third komplexe, vom Individuum gänzlich unbemerkte Prozesse ablaufen. Auf allen Stufen dieses Vorgangs laufen abduktive Schlussfolgerungen (vgl. Artikel zur Person von Peirce), und auch das Urteil zum Schluss ist genau besehen erst eine Hypothese (CP 7.597–688). Es würde zu viel Platz beanspruchen, diese Prozesse im Detail zu erläutern. Für uns ist wichtig, dass Peirce offensichtlich anders als Freud 13 die Wahrnehmung im unbewusstesten Teil menschlicher Seelentätigkeit beginnen lässt. Ich habe deshalb vor kurzem einen Vortrag mit der schüchtern vorgetragenen Anmerkung geschlossen, dass Freud sich wohl im Charakter der Wahrnehmung Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 17 geirrt habe, weil er sie als Ich-Funktion angesehen und sie manchmal gar mit dem Bewusstsein gleichgesetzt hat. Der Wunsch, Freud hier zu korrigieren, war bei mir aus dem Studium der Schriften von Peirce erwachsen. Diese Erkenntnis scheint indessen auch aus dem Bündel neuer Entwicklungen hervorzugehen, das ich oben beschrieben habe. So kann man bei Mertens nachlesen: «Der in der Introspektion als evident erscheinende Eindruck, unsere Wahrnehmung komme unmittelbar in unserem Bewusstsein an oder sei mit diesem identisch, von dem auch Freud aus- ging, hat sich als unzutreffend herausgestellt. Tatsächlich hat das nicht-bewusste sensorische Perzept auf seinem Weg ins Bewusstsein eine Vielzahl von Korrekturen und Ausblendungen, aber auch unzählige Bedeutungsanreicherungen erfahren» (2013, S. 824). Trieb 14 – Intentionalität Ich möchte hier noch einmal anmerken, dass all diese Verstehens- und Wahrnehmungsprozesse ohne eine Kraft, die unser Erkennen vorwärtstreibt, gar nicht denkbar sind. In diesem Sinne schätze ich nach wie vor das Freud’sche Triebkonzept (1915/1999, S. 212 ff.) und bringe auch der Statuierung eines dritten Antriebes, dem Wissenstrieb (neben Liebe und Hass) bei Melanie Klein und Bion, Sympathie entgegen. Wie ich in einem früheren Beitrag (Saller, 2011, S. 151–152) aufgezeigt habe, kann auch die Symbolisierungstätigkeit als Ausdruck des Triebes verstanden wer - den. Der Integration der Vorstellung des Triebes als grundsätzlichem Antrieb des Peirce’schen Zeichenuniversums steht meiner Ansicht nach nichts entgegen. Im Gegenteil: Der zwischen Psyche und Soma angesiedelte Trieb könnte ein Stück weit zur Überwindung überkommener Body-Mind-Dualismen beitragen, was auch ein zentrales Anliegen von Peirce war. Meinem Optimismus in Bezug auf das Projekt, Peirce und Psychoanalyse aufeinander zu beziehen, steht die eher negative Einschätzung zweier Kollegen gegenüber, die sich schon seit Jahren mit dem Thema beschäftigt haben. Kettner nimmt in seinen «Reflexionen über das Unbewusste» die skeptische Einschätzung von Bonnie Litowitz von 1991 auf, die damals schrieb: «Der Haken dabei ist, dass weder die linguistische noch die semiotische Theorie irgendein Element enthal- ten, das die Funktion der Energie in Freuds Theorie ersetzen könnte; d. h. eine Motivationsquelle für Intentionalität» (Litowitz, 1995, S. 46). Kettner meint zwar dazu (Kettner & Mertens, 2010, S. 106), dass es nun doch zuerst einmal darum ginge, die Möglichkeiten der Semiotik auszureizen und stellt in Aussicht, dass dies die intra- und interdisziplinären Dialogchancen erhöhen könnte. Er scheint aller - Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 18 Vera Saller dings auch zu befürchten, dass sich das Unterfangen letztlich als nutzlos erweisen könnte und vergleicht es mit dem Esperanto, das letztlich auch nur wenig zur Völkerverständigung beigetragen habe. Vielleicht hat diese pessimistische Einschätzung der beiden Autoren damit zu tun, dass sie die Semiotik aus Peirce’ Gesamtphilosophie isolieren und die sche- matischen Gedanken dann auf die Psychoanalyse übertragen. Meiner Meinung nach rechtfertigt es sich indessen, die Semiotik im Zusammenhang von Peirce’ Gesamteinschätzung dessen, was den Menschen ausmacht, zu belassen. 15 Dies bedeutet in erster Linie, dass Peirce’ Pragmatismus miteinbezogen wird, obwohl, wie ich am Schluss noch kurz andeuten werde, das Peirce’sche Werk noch weit mehr bietet. Second: Affekte, Selbst und Abwehrmechanismen Ich möchte also die Semiotik nicht nur als trockene Kategorienbildung einführen, um ein paar komplizierte Begriffe mehr in der psychoanalytischen Theorie zu haben, sondern den Input von Peirce aufnehmen, der das Funktionieren der Verstehensprozesse als das eigentliche Thema ansah. Dies lässt sich beson- ders anschaulich am Second zeigen. Denn die oben beschriebenen ikonischen Eindrücke werden zu indexikalischen Zeichen noch bevor wir ihrer gewahr werden. Das Second ist der Moment, in dem ein Reiz aus der Aussenwelt die in sich versun- kene Person im First aufschreckt. Wenn wir nochmals von den oben beschriebenen Ähnlichkeitseindrücken ausgehen, die uns an etwas erinnern, dann setzt da die eigentliche Zeichenfunktion ein. Wir können den momentanen Eindruck dann als ein Zeichen für die Sache verstehen, an die er uns erinnert. Unser momen- taner Sinneseindruck, zum Beispiel der Geschmack eines Madeleines in Prousts bekanntem Beispiel aus «A la Recherche du Temps perdu», verwandelt sich in ein Zeichen, hier ein Zeichen für eine Kindheitserinnerung. 16 Was genau hat das nun mit Psychoanalyse zu tun? Ich vertrete die These, dass sich das Freud’sche Unbewusste auf den Ebenen des Firsts und des Seconds wiederfindet. Die Trennung auf zwei Kategorien hat Ähnlichkeit mit der von Green (1979; 1999) festgestellten Aufteilung des Verdrängten in Affekt (hier Second) und Vorstellung (hier First). 17 Das Second ist der Ort des Zusammenstosses mit der Realität – und damit auch der Ort der Abwehr. Es ist der Ort des Lernens und der Ort der Verweigerung des Lernens. Wenn wir uns fragen, ob das Second und die inde- xikalischen Zeichen noch zum Unbewussten gehören, gibt es zwei Möglichkeiten, darauf zu antworten. Einerseits sind die indexikalischen Zeichen auf das Hier und Jetzt angewiesen. Die Indexe weisen auf Sachen in unmittelbarer Nähe des Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 19 Sprechers und erst die Symbole erlauben die Freiheit, an Dinge zu denken, die nicht da sind. Indexe sind in diesem Sinne partikulär und erst im Bereich des Thirds, des Symbolischen, kann sich das Denken im Sinne rationaler Planung und Probehandelns entwickeln. Das Second kann aber nicht einfach als unbewusst angesehen werden, haben wir es doch hier mit dem oben bereits erwähnten «clash» mit der Realität zu tun, der – dies eine weitere Gemeinsamkeit von Psychoanalyse (insbesondere derjenigen nach Bion) und Peirce – nicht selten als brutal und einschneidend beschrieben wird. Oder dann – und auch hier reden wir von bewusstem Erleben – nehmen wir mit Überraschung davon Kenntnis, dass die Realität anders ist, als wir sie uns vorgestellt haben (vgl. Cooke, 2011). Wir haben es also beim Second mit dem Eindringen der Realität in unsere Träumereien zu tun. Wir können sagen, wir befinden uns an der Grenze von Bewusst und Unbewusst, an der Schwelle der Bewusstwerdung 18 bzw. der Unbewusstmachung. Da wo wir von der Realität (oder vom anderen) angestossen werden, schauen wir hin, fokussieren unsere Aufmerksamkeit. Und wo wir aus der träumerischen Stille des Firsts aufgeschreckt werden, reagieren wir auch. Ich werde deshalb unter dem Titel «Second» die Affekte behandeln sowie das Selbst. Ebenfalls auf der Ebene des Seconds anzusiedeln sind die Abwehrprozesse. Sie sind ja eigentlich, wenn man es Bion paraphrasierend sagen möchte, Weigerungen, aus der Erfahrung zu lernen. Zeichentheoretisch könnte man die Abwehr als umgekehrt funktionierende Indexe beschreiben. Aber warum sollte das Selbst als dem Second zugehörig betrachtet werden? Die Idee ist, dass wir uns erst als Selbst erleben können, wenn wir uns dieser Kraft von aussen entgegenstellen, oder sie als Impact spüren. Oder auch, bezogen auf unsere Triebwünsche, wenn das Nein auf sie einwirkt. Dass das Selbst auf der Ebene des Seconds zu lokalisieren ist, sieht man auch daran, dass die Personalpronomen innerhalb der Sprache als wichtigste Indexe fungieren. Sie zeigen dem Sprecher und Hörer, wer spricht und wovon die Rede ist. Der oben bereits erwähnte Olds hat das Funktionieren der Affekte selbst als ein semiotisches System bezeichnet (vgl. Olds, 2003). Olds legt grossen Wert darauf, dass mit Indexen die Distanz zum Objekt geregelt wird. Sie dienen dem Subjekt dazu, seine Wünsche nach dem Objekt, beziehungsweise seinen Wunsch nach Distanz auszudrücken: “Indeed there is something about the affect system that is peculiarly indexical: affects are derived from the evolution of approach-avoidance systems” (Olds, 2000, S. 512, Hervorh. des Autors). Um die Regulation von Distanz und Nähe geht es auch in den affektiven Bewegungen auf der lokalen Ebene der Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 20 Vera Saller Mikroprozesse, die die Autoren der CSPG als Hauptwirkfaktor der psychoanalyti- schen Behandlung (CPSG, 2004) untersuchen. Die Gerichtetheit des Affekts auf den anderen lässt sich meiner Ansicht nach mit der pragmatistischen Ausrichtung der Peirce’schen Semiotik in Beziehung bringen. Es geht nicht einfach um emotionslos ausgetauschte Zeichen, sondern um unsere Befindlichkeit, unsere Gesten und unser Sprechen sind von Anfang an in einen Zusammenhang des Handelns und der Intentionalität eingebunden. 19 Ich werde diese Eingebettetheit der indexikalischen Zeichen in Intentionen anhand einer Bemerkung des Philosophen Helmut Pape erläutern. Da die indexika- lischen Zeichen innerhalb der Sprachphilosophie sehr umstritten waren, schreibt er – in Abgrenzung zur amerikanischen analytischen Sprachphilosophie, deren Analysen auf beschreibende Sätze von der Welt reduziert sind –: «Die Vagheit inde- xikalischer Zeichen […] beruht eben nicht auf Auslassung, sondern auf der impli- ziten Aufforderung zur Ergänzung aus der Situation» (Pape, 2002, S. 10–11). Pape weist damit auf die nahe Verwandtschaft zwischen wortloser Geste und kurzen, indexikalischen Ausrufen hin. Beispielsweise rufe ich «hier!», wenn ich sehe, dass mein Kollege sich nach hinten umwendet und mich sucht, während ich schon vor ihm hergegangen war; oder jemand ruft «Feuer!», um andere zu warnen. Indexikalische Ausdrücke zeigen innerhalb der Sprache an, auf wel - che Lebenswirklichkeit sich die gesprochenen Worte und Zeichen beziehen. 20 Michael Tomasello (2002), Peter Fonagy (2006) und andere haben gezeigt, wie in einer der wichtigsten Stufen, die in der Kleinkindentwicklung zur Fähigkeit der Mentalisierung führen, die erwachsene Bezugsperson zusammen mit dem Baby auf Gegenstände blickt, auf sie zeigt und mit ihm darüber redet. Und wie wird die Aufmerksamkeit auf das zu fokussierende Objekt in der Aussenwelt gelenkt, so dass wir uns in einen geteilten Raum begeben? Durch Zeigen und den Gebrauch indexikalischer Ausdrücke, wie etwa: «Schau da, das da ist interessant!» Oder das Kind, indem es einfach den Finger nach einer Sache reckt und dabei Laute von sich gibt: «hm, hm, hm!» Nun werde ich zeigen, wie mit Hilfe des Peirce’schen Vokabulars Entwicklungs- und Interpretationsprozesse in ihrer Lebendigkeit beschrieben werden. Die Prozesshaftigkeit der Vorgänge mache ich an den Übergängen der sprachlichen Zeichenarten fest. So meinen die sprachlichen Indexe einerseits etwas Partikuläres, eine bestimmte Sache, einen ganz bestimmten Ort. Andererseits unterliegen sie sprachlichen Regeln und haben damit auch etwas Allgemeines. So ist zum Beispiel, wenn jemand «ich» sagt, immer ein anderer, je spezifisch einzig- Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 21 artiger Mensch gemeint, aber es besteht die Regel, dass es der Sprecher ist, der gemeint ist. Die sprachlichen Indexe erstrecken sich so quasi ins Third hinein. Auch bei den ikonischen Quasi-Zeichen habe ich darauf hingewiesen, dass sie die Tendenz haben, sich in indexikalische zu verwandeln. Das Denken ist immer in Bewegung, Zeichen entwickeln sich. In diesem Prozess kann es aber zu Stockungen kommen. Ich habe oben die Berichte der Babybeobachter als harmonisierend charakterisiert. Im Gegensatz dazu haben wir es in analytischen Behandlungen auch mit dem enttäuschten Kind zu tun, das sich in eine Ecke zurückzieht und sich seine eigenen Gedanken macht. Mit dem Kind, das sich beispielsweise schmollend ausdenkt, wie die Mutter sich den Kopf anschlägt und blutend zu Boden fällt. Dieses schmollende Kind kann sich vielleicht den Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, nicht überlassen, sondern versucht, die fürchterlichen Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Oder wir haben es mit einem Menschen zu tun, der so sehr auf Anerkennung angewiesen ist, dass seine Äusserungen, was auch immer er inhaltlich sagt, stets die Aufforderung zum Ausdruck bringen: «Bewundere mich!» John P. Muller, ein ande- rer Peirce-Spezialist und Psychoanalytiker, nennt dies «coerced mirroring». Muller hat die Geschichte der Babybeobachtung und der relationalen Psychotherapie aus semiotischem Gesichtspunkt aufgearbeitet. Er zeigt, wie semiotisch unbedarft dieses Denken in Dyaden ist und macht wiederholt darauf aufmerksam, dass die Mutter ihre spiegelnde Funktion nur übernehmen kann, weil sie selber im Third, in der Kultur und in der Sprache, verankert ist: “Such acts of mutual recognition are possible because the infant’s rudimentary semiotic competence is engaged by the mother’s deictic framework, concretized by her use of pronouns” (Muller, 1996, S. 67). Er warnt davor, im therapeutischen Prozess im Second, im coerced mirro- ring, stecken zu bleiben: “A two-person model may be used to simplify the inter - actional field, making it easier to reduce psychopathology to victimization, as damage done by one to another, as the encounter of two masses, limiting it to Peirce’s category of Secondness. Patients themselves pressure us to think of them as victims” (Muller, 1996, S. 72–73). Das Third und die Fähigkeit zur selbstkontrollierten Veränderung von Gewohnheiten Ein grosser Teil der sprachlichen Zeichen sind konventionell, oder, um es im strukturalistischen Jargon zu sagen, arbiträr. 21 Für Peirce steht im Third, als Krönung der Zeichenprozesse sozusagen, die Fähigkeit des Menschen, Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 22 Vera Saller Gewohnheiten anzunehmen und sie selbstreflexiv zu verändern (vgl. Colapietro, 1989). Damit ist die Lernfähigkeit des Menschen angesprochen. Die psychoana- lytischen Abwehrmechanismen würden wir als Stockungen dieses fortgesetzten Interpretationsprozesses von Zeichen charakterisieren. Erkenntnistheoretisch bezeichnet Peirce sich als Fallibilisten, das heisst, er erachtet jede Erkenntnis als nur auf Zusehen hin richtig, solange nicht die Erfahrung, oder die Erfahrung eines anderen, dem erkennenden Subjekt zeigt, dass das Geglaubte falsch war. Deshalb ist das lebenslange Lernen für Peirce eine Selbstverständlichkeit. Aber natürlich gibt es auch nach Peirce Stockungen im Lernprozess. In seinem «The fixation of belief» (1967, S. 293–316) erwähnt er andere Arten, um zu subjektiv sicheren Erkenntnissen zu gelangen, etwa die Beharrlichkeit oder die Methode der Autorität. Es ist zwar offensichtlich, dass Peirce die wissenschaftliche Methode, das heisst die Bereitschaft, immer wieder dazuzulernen, als die beste erachtet. Aber er rechnet damit, dass viele Menschen andere Methoden wählen – und die Wahl der Beharrlichkeit z. B. entspricht einer Stockung im idealerweise als andauernd und fortgesetzt konzeptualisierten Prozess der Zeicheninterpretation. Gibt es etwas, was neurotische Beharrlichkeit von normaler Beharrlichkeit unterscheidet? Die Idee, dass es eindeutig Kranke und Gesunde gebe, hat die Psychoanalyse schon lange abgelegt. Auch die Verhaltensweisen können nicht als eindeutig krank oder gesund klassifiziert werden; jedes Verhalten hat seine gesunde und seine neurotische Seite. Trotzdem brauchen wir nach wie vor den Blick auf das, was das psychische Gleichgewicht entweder über die Massen destabilisiert, oder die Stabilität zu starrer Unflexibilität mutieren lässt. Bei der Konzeptualisierung dessen, wie sich die beiden Beharrlichkeiten zueinander verhalten, tun wir gut daran, uns auch wieder an die Idee der Kontinuität zu halten. Dies heisst, dass wir uns eher ein kontinuierliches ineinander Übergehen vorstellen und die Unterschiede mehr im Quantitativen denn im Qualitativen sehen. Der psychoanalytische Prozess wäre dann eine begleitete Selbst-Reflexion. Dass der andere bei der Generierung von Sinn ein gewichtiges Wort mitredet, ist angesichts der sozialen und kulturellen Prägung des Symbolischen nichts Besonderes. Der Analytiker ist indessen ein bedeutender Anderer insofern, als er hilft, scheinbar unüberwindbare Ängste auszuhalten. Der Analysand wird darin unterstützt, das zu entwickeln, was nach Peirce eine wissenschaftliche Haltung ist – für uns die Fähigkeit, durch Erfahrung zu lernen. Das Erreichen der höchsten Stufe des Zeichenprozesses und damit der Möglichkeit, sich selbst zu verbessern, bedeutet Selbstverantwortung. Die im Zitat Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 23 von Muller angesprochene Tendenz der Patienten, sich uns als Opfer zu präsentie- ren, läuft diesem Gedanken zuwider. Ich glaube, es ist Peirce’ Hoffnung, dass die Menschen die Verantwortung für ihre Triebhaftigkeit und für ihr Tun übernehmen, 22 die sein Werk so geeignet erscheinen lassen, um mit ihm die psychoanalytische Theorie weiterzuentwickeln. Und es ist diese Haltung, die – so fürchte ich – in den angesprochenen Entwicklungen der psychoanalytischen Therapie nach den Erkenntnissen der CPSG nirgends zu finden ist. Zum Schluss möchte ich nochmals kurz zusammenstellen, was meiner Ansicht nach der Einbezug der Peirce’schen Philosophie der Psychoanalyse für Vorteile bringt. Als Metatheorie für die Krankheitslehre und als Reflexionsleinwand für die Technik kann mit der genauen und wertfreien Beschreibung von psychi- schen Prozessen als Zeichenprozesse der Kontinuität derselben Rechnung getragen werden. Die Grenze zwischen Krankheitsbildern kann fliessender gestaltet werden, und trotzdem können einzelne typische Besonderheiten von spezifischen Bildern hervorgehoben werden. In der Technik können Prozesse zwischen Analytiker und Analysand, wie z. B. Containing und Projektive Identifikation, die bis dahin faszinierten, aber auch mit einem Stück Magie imponierten, begrifflich genauer gefasst werden. Was in Fallgeschichten anschaulich beschrieben wird, kann theoretisch durchleuchtet werden: “A central point of all this is that this model gives a unified framework in which to fit our clinical theories and research paradigms” (Olds, 2000, S. 524). Ein weiteres Plus der Peirce’schen Phiosophie ist, dass sie Biologie und Geistestätigkeit, Body und Mind, umfasst. Dies ist vielversprechend für manche der Fragen, die uns beschäftigen, z. B. Psychosomatik, und Pharmakotherapie (dazu Olds, 2000, S. 525). Die Ausweitung des Untersuchungsfeldes birgt auch die Chance, den Graben zwi- schen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ohne Reduktionismus zu überbrücken. Literatur Bohleber, W. (2013). Editorial. 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Ersterer ist weiter, er besagt einfach, dass die Rationalität keine Rolle spielt, während der zweite suggeriert, dass die Rationalität abhanden gekommen sei. 2 Vgl. die Debatte darüber, ob die Baby-Beobachtung eine psychoanalytische Disziplin sein könne (Green, 2000 und Stern, 2000). 3 Dies war ja auch schon Freuds Meinung, wie das folgende, bekannte Zitat zeigt : «Es ist unleugbar, dass die Bezwingung der Übertragungsphänomene dem Psychoanalytiker die größten Schwierigkeiten bereitet, aber man darf nicht vergessen, dass gerade sie uns den unschätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden» (Freud, 1912b/1999, S. 374). 4 Schweizerischer Ausdruck für Gefühlssuppe. 5 In der Antike, im Mittelalter und in der Renaissance war die soziale Herkunft des Wissens eine Selbstverständlichkeit. Erst während der Aufklärung wurde mit der Überschätzung der Vernunft der Ursprung des Wissens ins Individuum verlegt und der Mythos der tabula rasa ( Toulmin, 1994) geschaffen. Der Gedanke der Sozialität des Wissens wurde während des letzten Jahrhunderts neu entdeckt. Peirce gilt als Vorbote dieser Revolution, die durch die Namen Ludwig Fleck und Thomas S. Kuhn umrissen werden kann. 6 Vgl. dazu z. B. Owen Renik: “We were trying to devise a view of Ethan’s life, present and past, that worked, i. e. that helped him feel better”(1998, S. 492). 7 Vgl.: “My own list grew originally out of the study of the table of Kant.” (CP 1.300). Peirce Zitate aus The Collected Papers of Charles Sanders Peirce werden folgendermassen zitiert: CP Bandnummer.Paragraph). 8 Die Zeichenarten Ikon, Index und Symbol sind nur ein Teilstück der umfassen- deren Peirce’schen Bemühungen, die Zeichen zu kategorisieren. Peirce ordnet jeder der Dimensionen der triadischen Beziehung von Zeichen, Objekt und Interpretant eine eigene dreistufige Einteilung zu, die wiederum den phänomenologischen Kategorien First, Second und Third folgt. Die am häufigsten zitierte Zeicheneinteilung ist diejenige nach der Dimension des Objekts (die genannten Ikon, Index und Symbol), weitere Unterscheidungen ergeben sich aus der Dimension des Zeichens selber (Quali-Zeichen, Sin-Zeichen, Legi-Zeichen) und aus der Art des Interpretanten (Rhema, Dicent und Argument). 9 Für eine gut verständliche, kompetente Darstellung der Peirce’schen Kategorien vgl. Houser, 2000. 10 Eine Definition des Zeichens nach Peirce: “A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity. It addresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign or perhaps a more developed sign”(CP 2.228). 11 “A Representamen by firstness alone can only have a similar object. Thus a Sign by Contrast denotes its object only by virtue of a contrast or Secondness, between two qualities. A sign by firstness is an imago of its object and, more strictly speaking, can only be an idea” (CP 2.276, Hervorhebung des Autors). Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 28 Vera Saller 12 Vgl. den wunderbaren Titel, den Claire Petitmengin (2007) einer ihrer Arbeiten gibt: Towards the source of thoughts . Diese First-Person Forscherin macht spannende Unter - suchungen darüber, wo unsere bewussten Gedanken herkommen, bezieht aber leider weder Peirce noch die Psychoanalyse in ihre Überlegungen ein. 13 Dragica Stojokovic kommentierte meine Darstellung mit der Bemerkung, dass vieles von dem, was Freud beschäftigte, z. B. das Übertragungsgeschehen, mit der Festschreibung der Wahrnehmung im bewussten Ich nicht zu erklären wäre. Ich gebe ihr recht, auch die Stelle, an der Freud davon spricht, dass der Analytiker sein «eigenes Unbewusstes [dem Unbewussten des Analysanden, V. S.] als empfangendes Organ zuwenden» (1912a/1999, S. 380) soll, deutet darauf hin, dass es Freud durchaus bewusst war, dass Wahrnehmung auch ausserhalb des Bewusstseins geschehen kann. Diese Fragen müssten in einer vertieften Studie noch eingehender geklärt werden. Ich beziehe mich hier lediglich auf jene Stellen, wo Freud explizit die Wahrnehmung nennt und sie versucht im Rahmen seines psychischen Apparates einzuordnen (vgl. z. B. 1923, S. 252/53, 1900, S. 542 ff.). 14 Thomas Short (2007) verweist darauf, dass Peirce’ Wissenschaftsverständnis teleolo- gische Kausalitäten in Rechnung stelle. In Bezug auf menschliches Verhalten spricht Peirce öfters von purpose, d. h. er charakterisiert das menschliche Handeln ist durch Zielgerichtetheit. Es dient einem Zweck. Ich habe an anderer Stelle schon angeregt, den Freud’schen Trieb mit dem Peirce’schen purpose zu vergleichen (Saller, 2014) 15 Ich folge hier Colapietro (1995), der sich von Santaella Braga beraten lässt, die davor warnt, die Begriffe bei Peirce aus ihrem Gesamtzusammenhang herauszulösen. Santaella Braga (1993) schreibt dort: “When seen in the light of the philosophical foundation in which they are rooted, Peirce’s definitions and classifications of signs do not appear as mere classific- ations stricto sensu, but as patterns which include […] all the ontological and epistemological aspects of the sign universe: the problem of reference; of reality and fiction […]; the question of objectivity […]; the logical analysis of meaning […]; and the p\ roblem of truth […]” (S. 405, Hervorhebung der Autorin). 16 Ich beziehe mich auf die berühmte Schilderung einer Erinnerung an die Kindheit in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, wo der Protagonist berichtet, wie er einmal beim Verzehr eines in Lindenblütentee getauchten Madeleines an seine Tante Leonie erinnert wurde und anschliessend über die Sonderbarkeiten der Erinnnerung und Nichterinnerung sinniert. 17 Es sind auch schon verschiedentlich Versuche gemacht worden, das First, Second und Third mit den Lacan’schen Registern des Imaginären, Realen und des Symbolischen zu verknüpfen. Dass dies nicht unbedingt aufgeht, zeigt sich daran, dass in den zwei Versuchen, die ich hier anführen möchte, einmal das First mit dem Realen (vgl. Muller, 1996, S. 75 ff.) und einmal das First mit dem Imaginären (vgl. Santaella, 2005) gleichgesetzt wurde. Insbesondere aber sind das Reale von Lacan, und Peirce’ Realität (die ja hier an der Stelle des Second in den Zeichenprozess quasi hineinragt) etwas Grundverschiedenes. Hier prallen Welten aufeinander; auf der einen Seite das pessimistische, skeptische, von Existenzialismus geprägte europäische Weltbild und auf der anderen die grundsätzlich opti- mistisch gestimmte amerikanische Lebenseinstellung. 18 Ich pflichte Colapietro bei, der anmerkt, dass wir auch an einer Theorie dazu arbeiten sollten, wie die Bewusstwerdung geschieht: “Not only do we need an account of how ideas become operative in the unconscious […], we also need to comprehend how preconscious ideas become conscious” ( Vgl. 1995, S. 492). 19 Vgl. auch Vinocur Fischbein (2010). 20 Muller bringt anhand eines eindrücklichen Fallbeispieles die These auf, dass das psychotische Sprechen sich durch ein vollständiges Fehlen von Indexen auszeichne (1996, S. 105 ff.). Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 29 21 Es dürfte inzwischen klar geworden sein, dass für mich der Peirce’sche Zeichenbegriff dem strukturalistischen voraus hat, dass auch vorsprachliche Zeichen eine wichtige Rolle spielen (Ikons und Indexe). Für eine detailliertere Auseinandersetzung mit den Vorteilen der Peirce’schen Semiotik gegenüber dem Strukturalismus vgl. auch Colapietro, 1989; Saller, 2005; Short, 2007, S. 228–229. 22 Vgl. dazu auch die Studie des kanadischen Philosophen Ian Hacking (1996) der das epidemische Aufkommen der Missbrauchsvorwürfe und der Diagnose der Multiplen Persönlichkeit in den USA und in Kanada schildert und der die Frage aufwirft, was für eine Kultur wir seien, in der so viele Menschen sich als Opfer verstehen wollen. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse
Nach einer kurzen geistesgeschichtlichen Einordnung der Psychoanalyse und des Pragmatismus wird der Nutzen einer Metatheorie für die Psychoanalyse anhand der zeitgenössischen Diskussion um den Status des Unbewussten aufgezeigt. Darauf folgt die Darstellung, wie sich das Freud’sche, dynamische Unbewusste verändert, wenn es mit den Peirce’schen Kategorien First und Second verglichen wird. Die Hauptthese der Arbeit ist, dass der von Freud postulierte Primärprozess, dessen Prinzipien sich aus dem Funktionieren von Abwehrmechanismen herleiten lassen, weiter gefasst und als Ursprung des Denkens überhaupt angesehen werden sollte. Dass das Peirce’sche Third in dieser Arbeit verhältnismässig kurz abgehandelt wird, schuldet sich einer bemerkenswerten Übereinstimmung von Psychoanalyse und Peirce’ Philosophie: Bei beiden spielt das Lernen durch Erfahrung eine herausragende Rolle.
Debatte zum Schwerpunktthema Grundlagenartikel zur Debatte Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und Second von Charles S. Peirce Vera Saller (Zürich) Zusammenfassung: Die Peirce’schen Kategorien (First, Second, Third) bieten sich als Metatheorie für eine Theorie des Denkens und also auch für die Psychoanalyse an: Was könnte der Vorteil eines solchen Unterfangens sein? Nach einer kurzen geistesgeschichtlichen Einordnung der Psychoanalyse und des Pragmatismus wird der Nutzen einer Metatheorie für die Psychoanalyse anhand der zeitgenössischen Diskussion um den Status des Unbewussten auf- gezeigt. Darauf folgt die Darstellung, wie sich das Freud’sche, dynamische Unbewusste verändert, wenn es mit den Peirce’schen Kategorien First und Second verglichen wird. Die Hauptthese der Arbeit ist, dass der von Freud postulierte Primärprozess, dessen Prinzipien sich aus dem Funktionieren von Abwehrmechanismen herleiten lassen, weiter gefasst und als Ursprung des Denkens überhaupt angesehen werden sollte. Dass das Peirce’sche Third in dieser Arbeit verhältnismässig kurz abgehandelt wird, schuldet sich einer bemerkens- werten Übereinstimmung von Psychoanalyse und Peirce’ Philosophie: Bei beiden spielt das Lernen durch Erfahrung eine herausragende Rolle. Schlüsselwörter: Pragmatismus, habituelles Unbewusstes, Implizites, First, Second, Third Bis vor ca. 50 Jahren war das Menschenbild des philosophischen Mainstreams durch die Ratio bestimmt. Dagegen trat in den letzten Jahrzehnten vermehrt ins Bewusstsein, dass das Denken des Menschen grundsätzlich sozialer Natur ist, d. h. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 6 Vera Saller kulturell und religiös geprägt. Weiter ist seit Francisco Varela, Antonio Damasio und Gerald Edelman zum Allgemeinwissen geworden, dass der bis dahin ver - nachlässigte Körper in allen Bereichen des menschlichen Handelns und Denkens zentral mitgedacht werden sollte. Unter dem Schlagwort embodied mind ist diese Erkenntnis in alle life sciences, inklusive Philosophie und Sozialwissenschaften vorgedrungen. Mit embodied mind ist unter anderem das Selbstgefühl im Körper und damit zusammenhängend auch die emotionale, affektive und hormonelle Steuerung und Beeinflussung des Denkens durch körperliche Prozesse gemeint. Einiges was da an A-Rationalem 1 betont wird, ist von der Psychoanalyse schon seit ihrem Bestehen eingebracht worden. Die Psychoanalyse ist aber nicht die einzige Geistesströmung, die als Vorläufer der jetzigen Bewegungen gelten kann. Menschliches Handeln wurde auch vom amerikanischen Pragmatismus bereits vor mehr als 100 Jahren Rationalismus-kritisch gewürdigt. Pragmatismus, von griechisch to pragma (die Handlung, das Getane), betont, dass das menschliche Denken nur in Bezug auf das Handeln erklärt werden könne. Gemäss der prag- matischen Maxime ist jeder Begriff nur insofern sinnvoll, als er eine Änderung der Handlungsweise des Denkenden bewirkt. Für den Begründer des Pragmatismus, Charles Sanders Peirce (vgl. Artikel zur Person Peirce’ am Schluss dieser Arbeit), war der Begriff der Gewohnheit (habit) zentral und da ein grosser Teil dessen, was wir täglich gewohnheitsmässig tun, nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht, lässt sich sagen, dass es auch ein pragmatisches, habituelles Unbewusstes gibt (vgl. auch Saller, 2003, S. 123–144). Das habituelle Unbewusste enthält Prämissen, von denen wir unhinterfragt ausgehen, und Gewohnheiten, die wir automatisch ausführen. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich damit, wie dieses habituelle Unbewusste der Pragmatisten mit demjenigen der Psychoanalytiker in Verbindung gebracht werden kann. Mein diesbezüglicher Ehrgeiz und mein Interesse haben unter anderem damit zu tun, dass ich von der Ethnologie herkommend versuchte, die Psychoanalyse auch als Gesellschaftstheorie zu verstehen. Wie Alfred Tauber (2010) in einer äusserst spannenden und lesenswerten Studie kürzlich gezeigt hat, war auch Freuds eigenes Interesse ursprünglich ein philosophisches. Er auferlegte sich aber die Orientierung an der Empirie und liess seiner spekulativen Neigung erst in späteren Jahren Raum, vor allem in seinen Kulturschriften. Für mich liegt da, wo Freud die Psychoanalyse als allgemeine Theorie des Denkens versteht, indessen ein Problem. Obwohl es eines der Verdienste Freuds war, dass er die scharfe Trennlinie, die Gesunde von Kranken scheidet, relativiert hat, lässt sich die therapeutische Herkunft der Psychoanalyse – einer Theorie, die auf dem Gegensatz Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 7 von Gesund und Krank basiert – nicht verleugnen. Meiner Ansicht nach ist deshalb eine Umformulierung des psychoanalytischen Wissens in eine Theoriesprache, die auf einer Erklärung des Denkens und Erkennens beruht, interessant. Wenn wir, umgekehrt, von Peirce ausgehen, stellt sich die Frage, ob er ein dynamisches Unbewusstes im Sinne von abgewehrten Inhalten hätte akzep- tieren können. Diese Frage hat Vincent Colapietro in zwei Studien (1989; 1995) untersucht und unmissverständlich mit einem Ja beantwortet. Die zweite Frage betrifft die Gestaltung des Freud’schen dynamischen Unbewussten mit Peirce’scher Terminologie. Da mein Problem mit der Psychoanalyse als allgemeiner Theorie des Denkens gerade darin liegt, dass in der Beurteilung gesellschaftlicher oder kulturel- ler Phänomene zu viel vom Gegensatz krank versus gesund hineinspielt, ist für mich klar, dass das Peirce’sche, habituelle Unbewusste umfassender gedacht sein sollte als das dynamische. Aber wie das eine im anderen abgrenzen, wie Verbindungen schaffen? Während ich in meinen bisherigen Arbeiten Wilfred R. Bion und Peirce (2003, S. 97–127; S. 455–469; 2005), resp. Freud und Peirce (2014) verglichen habe, möchte ich in dieser Arbeit auch neuere Entwicklungen der Psychoanalyse berücksichtigen. Dabei kommt mir entgegen, dass die Zeitschrift Psyche eben eine Sondernummer dem Thema «Das Unbewusste, Metamorphosen eines Kernkonzeptes» gewidmet hat. In der Einleitung unterscheidet Werner Bohleber folgende Modifizierungen, die von je verschiedenen Richtungen der Psychoanalyse vertreten werden: Beginnend mit dem Freud’schen Modell erwähnt er, dass es einen hermeneutischen Aspekt sowie auch einen naturwissenschaftlichen gebe, bei Letzterem werde das Unbewusste als kausale Kraft aufgefasst. Weiter stellt Bohleber fest, dass nach Freud das Unbewusste aus Triebrepräsentanzen gebildet sei, die sich dann zu Fantasien und bildhaften Darstellungen des Wunsches ausprägen. Das primärprozesshafte Denken, das durch die Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung gekennzeichnet sei, sei das ursprüngliche Denken, aus dem später das sekundärprozesshafte Denken hervorgehe (Bohleber, 2013, S. 809). Das klei- nianische Modell sieht er als «stärker horizontal aufgespannten metaphorischen Raum» (S 807); er erwähnt auch die Laplanche’sche Fassung, wo das Unbewusste zum Ort der rätselhaften Botschaften des Anderen wird; und schliesslich verweist er auf das Modell der neueren, intersubjektiven Theorien, bei denen das Unbewusste in impliziter Form in der Beziehung selbst gelebt werde (ebd.). Als weitere Entwicklungen nennt Bohleber das kreative Unbewusste nach Bion und James Grotstein, bei dem nicht mehr das Verdrängte im Vordergrund stehe, sondern das Unbewusste zu einer Quelle des seelischen Wachstums werde. Diese letzte Ausformulierung passt gut zu meinem Verständnis, das ich aus der Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 8 Vera Saller Analyse der Peirce’schen Kategorie des Firsts erschliessen werde, und gemäss des- sen das Unbewusste als Ort der Entstehung des Denkens gesehen wird. Bohleber charakterisiert abschliessend die Autorenartikel des Heftes: Begriffe wie Zwei- Personen-Unbewusstes, Rhythmen und Resonanz, szenische, nicht-sprachliche Elemente, kinästhetische Dimension, neurowissenschaftliche Forschung, kollek- tive Fantasmen und gesellschaftliches Unbewusstes setzen Akzente. Ich werde nun auf Wolfgang Mertens Artikel «Das Zwei-Personen- Unbewusste» fokussieren, denn er bezieht sich auf die Diskussion um den Status des Unbewussten, die ich oben angekündigt habe. Sein Thema ist das interper - sonale Unbewusste. Er zeigt auf, dass die Werkzeuge des Analytikers, «Abstinenz, Neutralität, Interaktionsvorbehalt», die die «Unabhängigkeit der analytischen Erkenntnisposition sichern sollen», nur noch «als Hinweisschilder gelten» (2013, S. 836) können, weil das Wissen um das Involviertwerden des Analytikers in den analytischen Prozess in letzten Jahrzehnten stetig zugenommen hat. Er drückt aus, was uns Analytiker heute beschäftigt, nämlich dass Analytiker und Analysand «mit ihren emotionalen Strukturen, ihren Übertragungsbereitschaften sowie den nicht- bewusst erfolgenden vielfältigen, verhaltensmässigen Ausdruckserscheinungen mimischer, gestischer, posturaler und verbal prosodischer Art vielfach aufeinander bezogen» sind (Mertens, 2013, S. 835). In dieser Schilderung kann ich meinen eigenen theoretischen Weg wie- dererkennen; insbesondere begrüsse ich die Einschätzung, dass das analytische Sprechen nahe beim Handeln liege (Mertens setzt einen Zwischentitel «Von der talking cure zum Handlungsdialog»), denn sie kommt meinem Anliegen entgegen, die Psychoanalyse auch pragmatistisch zu verstehen. Mertens bezeichnet die neu erforschten Formen des Unbewussten als das «Implizite» (vgl. auch Junker, 2013) und er eröffnet die Frage, in was für einem Verhältnis das gute alte Unbewusste zu den impliziten, nicht-erinnerten Beziehungserfahrungen stehe. Er beschreibt die sich in den letzten Jahrzehnten im deutsch- und eng- lischsprachigen Raum abzeichnenden Modifikationen dessen, was man unter «unbewusst» versteht und spricht – höre ich da eine leichte Irritation heraus? – von den in letzter Zeit «fast enthusiastisch rezipierten Konzeptualisierungen der Bostoner Change Process Study Group» (Mertens, 2013, S. 837). Aber die Arbeiten dieser Gruppe sind auch kritisiert worden (z. B. Litowitz, 2005). Dass das von der Change Process Study Group (CPSG) ins Gespräch gebrachte Implizite und ihr dyadisches Verständnis der Psychoanalyse beschäftigt, hat zum Teil auch damit zu tun, dass es zwischen Daniel Stern, einem wichtigen Exponenten der CPSG Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 9 und André Green, einem Vertreter der offiziellen Psychoanalyse (er war über Jahre Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung), bereits früher heftige Debatten gegeben hat. 2 Auch die heutigen Stellungnahmen der CPSG zur psychoanalytische Theorie und Therapie sind eher unfreundlich: “[…] it became clear that there has been a fundamental confusion in previous theorizing as to what is surface and what is depth” (CPSG, 2007, S. 2). Mit Oberfläche und Tiefe ist hier gemeint, dass die Analytiker «alter Schule» die Tiefe im Benennen der Konflikte vermutet hätten, sich dabei aber auf einer oberflächlicheren Ebene bewegten. Umgekehrt nehmen die Autoren für sich in Anspruch, dass sie die Phänomene auf der von ihnen so genann- ten impliziten Ebene – ich würde sagen der Übertragungsebene – behandeln wür - den, und dies sei die wahrhafte Tiefe. Wie sie später in ihrer Arbeit ausführen, kann man indes das Verhältnis zwischen Konfliktdeutung und Mikroebene (auch ein Begriff der CPSG, mit dem die mikroskopisch kleinen Prozesse «zwischen den Zeilen» gemeint sind) auch so sehen, dass das, was sich implizit in der Beziehung abspielt, Ausdruck der tieferliegenden Konflikte ist (ebd., S. 10). Dass die wesent- lichsten Veränderungen im Hier und Jetzt 3 ausgelöst werden, das ist unbestritten. Die Autoren erwecken aber meiner Ansicht nach den Eindruck, dass die Analytiker die implizite Ebene bewusst und kontrolliert einsetzen könnten. Dagegen glaube ich, dass wir uns ohne das Instrumentarium der psychoanalytischen Theorie als Richtgrösse, und ohne die Gruppe der Kollegen und Kolleginnen, mit denen wir dieses Instrumentarium teilen, in einem heillosen «Gspürschmi-Fühlschmi» 4 der vermeintlichen Empathie verlieren. Der gemeinsame Bezug auf die Theorie und die Möglichkeit zum intersubjektiven Austausch ergibt die Triangulierung, ohne die eine tiefe Verstrickung geschieht, die sogar die Gefahr einer folie à deux beinhaltet. Die Geschehnisse auf der von den Autoren so benannten Mikroebene erschliessen sich nachträglich, denn auch Analytiker sind dem Sog unbewusster Konflikte preisgegeben. Schon Sterns «The Interpersonal World of Infant», ein Standardwerk der Babybeobachtung, löste ambivalente Reaktionen aus. Ich erinnere mich an meine eigene Lektüre: Nach anfänglicher Begeisterung dämmerte bei mir allmählich die Einsicht, dass ich Stern da, wo er sein faszinierend empathisch geschriebenes Kompendium sämtlicher Forschungsberichte über Babybeobachtungen der letzten 50 Jahre verliess, um zentrale psychoanalytische Thesen über die frühe Entwicklung auszuhebeln, eigentlich nicht folgen wollte. Schliesslich löste ich das Dilemma, indem ich mir sagte: Stern beschreibt in attraktiver Art Situationen, in denen der Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 10 Vera Saller Kontakt zwischen Mutter und Kleinkind gelingt. Für diejenigen Fälle, in denen etwas schief läuft, hat er keine Konzepte. Analog dazu formuliert Rolf Peter Warsitz in Bezug auf den Therapieansatz, den die Autoren des CPSG entwickelt haben: «Das Konzept des impliziten Wissens entspricht nun bloß zum Schein dem Unbewussten der Psychoanalyse […], es [ist] keineswegs identisch mit dem ‹dynamisch Unbewussten› der Psychoanalyse, da ihm Funktionen wie Widerstand oder Verdrängung völlig fehlen» ( Warsitz, 2007, S. 82). Die Einfühlsamkeit im Tanz der Intersubjektivität ist eine wichtige Bedingung dafür, dass die tendenziell narzisstisch verletzende Situation des Beobachtet- und Kommentiertwerdens in der analytischen Therapie toleriert wird. Darüber hinaus indessen, und das ist meiner Ansicht nach das «Etwas mehr» (vgl. CPSG, 2002) der psychoanalytischen Beziehung, beschäftigen sich Psychoanalytiker nun schon seit Jahren intensiv damit, wie sie sich in aggressiv gefärbten Übertragungen und Gegenübertragungen zurechtfinden können und sollen. Wenn man Beschreibungen von dem, was als implizite Erinnerung bezeich- net wird, liest, ist man immer wieder versucht, auszurufen: Das ist doch genau das, was Freud beschreibt! Andererseits fehlen, wie gesagt, die für das klassische dynamische Unbewussste charakteristischen Abwehrprozesse. Es heisst, dass die impliziten Erinnerungen im Gegensatz zu den verdrängten Inhalten nie symboli- siert waren und nur direkt im Handeln repräsentiert seien. In diesem Sinne erin- nern sie an die Konflikte der Psychosomatiker, von denen ebenfalls gesagt wird, dass sie nie symbolisiert waren und direkt durch den Körper ausgedrückt werden (McDougall, 1991). Indessen, wenn der Beobachter, oder später der Analytiker, mit seiner Empathie die ungelebten Impulse oder Affekte wieder zum Leben zu erwecken sucht, ist dann nicht doch auch so etwas wie ein Konflikt, etwas wie psychische Abwehr da? Die Frage stellt sich nun, ob das Implizite mit dem von mir als «habitu- ell» bezeichneten Unbewussten in Zusammenhang zu bringen sei. Verglichen mit dem Impliziten, das in den letzten Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist, steht bei den als «habituell» bezeichneten Vorgängen die körper - nahe Erfahrung der frühen Babyzeit weniger im Vordergrund. Wenn man an Gewöhnung und Automatisierung denkt, liegt vielleicht die Bezeichnung proze- durales Gedächtnis näher als implizites; doch teilweise werden die beiden adjek- tivischen Bestimmungen des nichtbewussten, aber höchst aktiven Teiles unseres Gedächtnisses synonym verwendet. Ich möchte diese letzten Endes definitori- schen Fragestellungen aber beiseite lassen, denn ich denke, dass es hier eher um Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 11 verschiedene Akzentsetzungen als um prinzipielle Differenzen geht. Auch wenn die Beispiele der Intersubjektivisten sich an emotional zentrale Geschehnisse und Erinnerungen halten, ist offensichtlich, dass die Vertreter dieser Richtung, ebenso wie die Theoretiker des Lernens und diejenigen des Automatisierens, eher lernthe- oretischen Vorstellungen nahestehen, während die psychoanalytische Vorstellung des Lernens und Erinnerns stark mit durch Traumata und Konflikte geschaffene Lücken der Symbolisierung und Auflösung von Verbindungen einhergeht. Wenn dies auch für psychoanalytische Ohren ungewohnt tönt, die Autoren des CPSG zeigen, dass das, was wir unter Verdrängung verstehen, ebenfalls als Lernen angese - hen werden kann (vgl. auch CPSG, 2007, S. 11 ff.). Das weist darauf hin, dass es die beiden einander über Jahrzehnte als unvereinbar gegenüberstehenden Disziplinen des Lernens zu verbinden gälte. Ich schliesse mich da Matthias Kettner und Mertens an, zwei Autoren, die schon 2010 öffentlich die Klinge kreuzten über den Status des Unbewussten heute. Gegen den Schluss ihrer Auseinandersetzung schreibt Kettner an Mertens: «Sie erwähnen den, wie ich finde, elektrisierenden Punkt, dass die Dichotomisierung von kognitivem Unbewussten der Kongnitionspsychologie und dem dynamischen Unbewussten der Psychoanalytiker irreführend sei.» (Kettner & Mertens, 2010, S. 133). Ich glaube, dass Peirce, der generell die Kontinuität von Prozessen betonte, für das Unternehmen einer solchen Annäherung eine Brückenfunktion einnehmen könnte. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse Ich möchte nun zum eigentlichen Kern meiner Ausführungen kommen und untersuchen, wie das Freud’sche Unbewusste zu denken ist, wenn wir Peirce’ Semiotik als Metatheorie einsetzen. Dabei gehen wir davon aus, dass der Begriff des Unbewussten, wie Mertens bemerkt, semantisch eigentlich nur die Negierung des Bewussten bedeutet. Freud hat ihm aber auch ein eigenes, spe- zifisches Organisationsprinzip zugeordnet. Mit dem Primärvorgang hat er eine Erlebnisweise gekennzeichnet, in dessen Funktionieren die Energie frei flottiere, während «die Systeme Bw und Vbw Energie in gebundener Form enthalten, die auch hemmende Strukturen aufweist» (Kettner & Mertens, 2010, S. 117–118). Da Freud in späteren Schriften den Primärvorgang nicht mehr weiter explizierte (Noy, 1969), ist die Frage eigentlich offen, ob er meinte, dass dieses spezielle, organisierende Prinzip mit der neuen Topik lediglich für das dynami- sche Unbewusste gelten sollte, oder ob der Modus des Primärvorganges auch im deskriptiven Unbewussten und anderen bewussten Vorgängen aktiv sei. Von der Bewegung her, wie Freud den Primärprozess entdeckte und beschrieb, ist jedoch Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 12 Vera Saller anzunehmen, dass er sich diesen als an die Abwehrmechanismen gebunden vor - stellte. Verdichtung und Verschiebung, als Hauptcharakteristika dieses Prozesses, enthalten eine aktive unbewusste Intention, die Unbewusstmachung, oder auch die Abwehr. Wie ich nun zeigen werde, ist die Peirce’sche Vorstellung hier insofern anders, als die Anfänge des Denkens und Erkennens selbst im Vagen liegen, so dass hier von einem «Primärprozess» auszugehen ist, der wirklich primär ist. Was ja irgendwie auch in der Freud’schen Vorstellung steckt, denn sonst hätte er ja den Primärprozess nicht Primärprozess getauft (vgl. Bohleber oben). Erkenntnisse aus Babybeobachtung, Kognitionspsychologie und Hirnforschung legen nahe, ein grösseres Feld nicht konfliktiver Unbewusstheit anzunehmen – und die Peirce’sche Vorstellung geht in dieselbe Richtung. Dies wirft die Frage auf, inwiefern sich das dynamische Unbewusste vom Rest abtrennt oder ob die verschiedenen Formen des Unbewussten in kontinuierlicher Form zusammenhängen. Ähnlich wie Kettner denke ich, dass das dynamische Unbewusste als kleiner Teil des umfassenderen Unbewussten einer Eingrenzung und Bestimmung bedarf. Als Abgrenzungskriterium schlägt er die Konflikthaftigkeit vor: «Worauf will ich hinaus? Auf die ‹Abwehrlehre›, also kurz gesagt die ganze Denkrichtung, die damit beginnt, dass Freud und Breuer anfangen, das, was sie interessiert, mit konfliktbezogenen intentionalistischen Begriffen zu beschreiben, zum Beispiel ‹Gegenwille›, ‹Widerstand›, ‹Abwehr›, ‹Verdrängung›, ‹Zensur›, ‹Gegenbesetzung›» (Kettner & Mertens, 2010, S. 134; vgl. einen ähnlichen Gedanken bei Litowitz, 2005, S. 752). Bezüglich des von mir anvisierten habituellen Teils des unbewuss- ten Seelenlebens wäre das von Kettner für den dynamischen Teil vorgeschlagene Abgrenzungskriterium perfekt. Für die impliziten Objektrelationen dagegen, die ja auf Beziehungserfahrungen beruhen, die die in Entwicklung Begriffenen negativ geprägt haben, ist die Abgrenzung nicht eindeutig genug. Gemäss dem Kriterium von Kettner würden negative implizite Beziehungserfahrungen auch ins dynamische Unbewusste gehören, abgetrennt allerdings nicht durch den Abwehrmechanismus der Verdrängung, sondern der Spaltung oder Verwerfung. Ein zentraler Gedanke in der Peirce’schen Philosophie ist die Kontinuität. Dementsprechend soll die hier versuchte Charakterisierung zwar idealtypisch habituelles Unbewusstes von dynamischem scheiden, indessen gehe ich von der Annahme aus, dass die beiden Anteile des Unbewussten in Wirklichkeit zusammen- wirken, ineinanderfliessen, einander beeinflussen und voneinander beeinflusst werden. Es scheint mir auch möglich, dass zwischen Verwerfung (vorsymboli- sche Rückweisung) und Verdrängung (nachträglich unterdrückte, bereits symbo- Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 13 lisierte Inhalte) gar nicht so klar unterschieden werden kann, wie die begriffliche Bestimmung es suggeriert. Dies, weil es sich um lebendige Prozesse handelt, die in Entwicklung begriffen sind. So kann vielleicht ein Inhalt noch nicht symboli- siert sein, aber er ist doch auf dem Weg dahin. Und die Verwerfung wäre dann als Stillstand innerhalb dieses Entwicklungsprozesses zu deuten. Aber davon später mehr. An Freud kratzen Wenn wir das nicht verdrängte Unbewusste mit dem dynamischen Unbewussten zusammendenken möchten, müssen wir Freuds Gedankengut kri- tisch durchleuchten. Anhand meiner Ausführungen zu Peirce werde ich zeigen, dass vieles von dem, was Freud als typisch für den Primärvorgang erachtete, neu verstanden werden sollte. Ein weiteres Feld, in dem ich eine andere Auffassung als Freud vertreten werde, betrifft die Wahrnehmung. Zudem werde ich versu- chen, den Gedankengängen Freuds, die er mit der Energiemetapher ausdrückt, in einer weniger physikalischen Sprache gerecht zu werden. Damit ist gemeint, dass ich einen Antrieb, eine motivierende Kraft für das, was als Spiel der Zeichen erscheinen mag, voraussetze, die weitere Ausformulierung der physikalischen Metapher der Kraft, die Freud als ökonomischen Standpunkt ausformuliert, aber nicht übernehmen werde. Wie ich an anderer Stelle untersucht habe (Saller, 2014), verträgt sich die ontologisch-epistemologische Grundeinstellung der beiden Autoren und Zeitgenossen erstaunlich gut. Kurz zusammengefasst habe ich dort argumen - tiert, dass Peirce sich einerseits explizit gegen Nihilismus und epistemologischen Skeptizismus wandte, andererseits aber auch einer der ersten war, der Wissen als eine soziale Errungenschaft verstand. 5 Wer indes denkt, dass der pragmatische Wahrheitsbegriff dahin ziele, dass letztlich nur zähle, was die Menschen im Moment gerade als brauchbar und stimmig erachten und die Wahrheit einer Aussage gar nicht bestimmbar sei, geht fehl. Für Peirce war es wichtig, dass es eine Realität gibt, und dass diese, wenn auch nicht vollständig, so doch in immer genaueren Annäherungen («in the long run») erkannt werden kann. Eine ähnliche Haltung diesen grundsätzlichen epistemologischen Fragen gegenüber sehe ich bei Freud, und ich kritisiere sowohl selbstpsychologisch-konstruktivistische Aussagen, nach denen es nur darum gehe, eine für den Patienten stimmige «eigene Geschichte» zu konstruieren, 6 wie auch die von Bion und Jacques Lacan annäherungsweise eingenommene skeptische Position, gemäss derer der Mensch sich selbst zwangs- läufig verkenne und auch zur Realität keinen Zugang habe (Pagel & Weiss, 1993). Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 14 Vera Saller Ich werde nun meine Überlegungen zum Unbewussten anhand der von Peirce vorgeschlagenen drei Kategorien des First, Second und Third vor - stellen. Ausgehend von Kants Kategorien der reinen Verstandesbegriffe, die er mehrmals umstellte, ist Peirce auf diese drei Kategorien gestossen, die jeder Erfahrung zugrunde liegen. 7 Vorgängig umreisse ich die drei Kategorien. Nach der Beschreibung werde ich jeweils die dazugehörige Zeichenkategorie nennen, denn den drei Kategorien entsprechen drei Arten von Zeichen. 8 Das First (ich bleibe bei der englischen Terminologie) steht für eine sehr primitive, man könnte sagen vorbegriffliche Form des Seins. Es ist unser Sein, noch bevor es etwas repräsentiert oder durch etwas repräsentiert wird, geschweige denn sich selbst reflektiert. Peirce nennt als Beispiel oft das reine Erleben der Farbe Rot, das frei von Reflexion oder Formen des bewussten Vergleichs stattfindet. In der Einteilung der Zeichen ist die dem First entsprechende Zeichenkategorie das Ikonische. Das Second bezeich- net den Moment des Kontaktes dieses ungestörten, selbstgenügsamen Seins mit der Realität. Peirce fordert seine Zuhörer auf, sich einen Zustand absoluter Ruhe vorzustellen, in dem man all den Reizen, die einen umgeben (wie z. B. Hitze oder Kälte, Berührungen des Körpers mit dem Boden, auf dem man steht, dem Stuhl, auf dem man sitzt oder – allgemeiner – der Haltung des Körpers) überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkt. Das wäre ein Zustand im First. Wenn Sie dann plötzlich durch einen lauten Lärm aus ihrer Versunkenheit aufgeschreckt werden, dann ist diese Hundertstelsekunde, in der Sie noch nicht wissen, was Sie erschreckt, ein Second. Das Second ist der Zusammenstoss mit der Realität, Peirce spricht vom «outward clash». Wird die Störung des Second eingeordnet – beispielsweise durch folgenden Gedanken: «Ah ja, das ist die Pausenglocke. Wir werden nun für fünf Minuten rausgehen!» –, siedelt Peirce die Erfahrung auf der Ebene des Third an. Das Third bedeutet, dass der Erlebende die Erfahrung, die er gerade macht, mit einem Symbol belegt hat, das sich in das Netz aus Symbolen, das er mit ande- ren teilt, einfügt. Er weiss dann auch, was die Situation für ihn bedeutet, welche Gewohnheit als nächstes aktiviert wird. 9 First – Primärprozess Im Folgenden werde ich das First mit dem Freud’schen Primärprozess in Verbindung bringen. Wenn indessen bei der Beschreibung des Firsts einiges auf- scheinen wird, was an den Primärprozess erinnert, so muss dazu gesagt werden, dass hier die Prinzipien der Nicht-Identität nicht einem Abwehrprozess geschuldet sind, sondern, dass ich Prozesse beschreibe, die allem Denken zu Grunde liegen. Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 15 Wie oben erwähnt, entsprechen den drei Kategorien First, Second und Third jeweils die Zeichenarten Ikon, Index und Symbol. Die Beziehung vom Zeichen zu seinem Objekt ist im Fall des Ikons von Ähnlichkeit, in jenem des Indexes von räum- lichem Nebeneinander, Kontiguität und/oder Kausalität geprägt, und beim Symbol ist der Bezug zwischen Zeichen und Objekt konventionell. Der Aspekt, wie ein Zeichen sich mit seinem Objekt in Verbindung bringt, ist zwar etwas Wesentliches, die Zeichenarten kommen aber nie in reiner Ausprägung vor. Dies gilt – wie weiter unten erläutert wird – besonders für das Ikon, bei dem der Zeichenbezug auf der Ebene des Firsts liegt. Zum besseren Verständnis muss ich noch erwähnen, dass man sich unter ikonischen Zeichen – trotz des Namens – nicht Bilder vorstellen sollte. Vielmehr ist ein Ikon ein Zeichen, das mit dem Objekt, für das es steht, eine Eigenschaft teilt. Peirce sagt über das Erleben im First: “The idea of First is predominant in the ideas of freshness, life, freedom. The free is that which has not another behind it, determining its actions; […] Freedom can only manifest itself in unlimited and uncontrolled variety and multiplicity; and thus the first becomes predominant in the ideas of measureless variety and multiplicity” (CP 1.302, Hervorhebung des Autors). Oben wurde für den Freud’schen Primärprozess gesagt, dass die Energie frei flottiere und dieselbe später in der Symbolisierung des Sekundärprozesses gebunden werde. Die Peirce’sche Schilderung des Firsts erinnert daran, auch wenn hier die Metapher nicht die Energie ist, sondern Potentialität. Es werden noch keine Dinge wahrgenommen, sondern Eigenschaften der Welt, wie etwa ein Geruch oder Geschmack oder der Sinn für Rot; Eigenschaften, die vereinzelt wirken. Das ist der Grund, weshalb es ein reines ikonisches Zeichen nicht geben kann; denn Zeichen sagen ja etwas über etwas anderes aus, 10 über ein Ding. Peirce schrieb, dass das reine Ikon nur eine Möglichkeit sei, etwas absolut Vages. 11 Wie oben bereits angedeutet, passen die Prinzipien der Verdichtung und der Verschiebung zur Idee, dass der Anfang der Gedanken als ein Meer von Vagheit zu denken ist, wo nur einzelne Charakteristika der Welt präsentiert wer - den, und kein wirkliches Erkennen von Dingen vonstattengeht. Die von Freud festgestellten Prinzipien der A-Rationalität sind hier aber nicht das Ergebnis eines Abwehrprozesses, sondern die natürliche, erste Form, in der wir «denken». 12 Die halluzinatorische Wunscherfüllung (Freud, 1900/1999, S. 568) bereichert diesen von Peirce eher statisch geschilderten Zustand des Firsts um den Wunsch. Der Wunsch veranlasst das Baby, sich vorzustellen, dass etwas geschieht, das es früher als befriedigend erlebt hat. Es werden einzelne Charakteristika wie der Geruch Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 16 Vera Saller der Mutter, oder ihre Art, das Kind zu halten, mental evoziert. Wie aktiv das Kind selbst ist bei der Produktion dieser Vorstellung, wissen wir nicht. Aber irgendetwas, eine Kraft, die den Motor bildet für das, was folgt, müssen wir annehmen. Und ich glaube, der Trieb ist dafür nicht das schlechteste Konzept. Den Wunsch nach Wiederholung des Befriedigungserlebnisses könnte man in die Nähe des Beharrungsprinzips rücken, welches das First auszeichnet. Es gibt kein Erkennen von Differenzen, es wird nur Gleiches wieder erlebt. David Olds, ein amerikanischer Psychoanalytiker, der sich mit Neuropsychoanalyse und Peirce beschäftigt, sieht das so: “Semiotic theory leads us to focus on the repetition-com- pulsion as fundamental to much repetitive behavior, some, but not all, of which is maladaptive and out of a person’s control. […] A repetition is, by definition, iconic” (Olds, 2003, S. 91). Mir wurde anhand des Firsts auch das Freud’sche Konzept der Sach- vorstellung (1915a/1999, S. 299–300) plastischer. Paradoxerweise handelt es sich hierbei nicht um eine Sache, sondern nur um Qualitäten, die erlebt werden. Eigenschaften von Dingen, die uns wie etwas Äusserliches «anstossen», quasi kin- ästhetisch, olfaktorisch, gustatorisch, optisch oder akustisch, wie es eben Dinge (oder die Qualitäten der Dinge) tun. Wenn wir uns indessen durch den Term der «Sachvorstellung» suggerieren lassen, dass wir die Sache, so wie sie ist, quasi in unserem Geist haben, führt er in die Irre. Die Sachvorstellung ist der sinnliche Abklatsch, der uns, wenn wir etwas Ähnliches sehen, aufdämmert. Ich habe die halluzinatorische Wunscherfüllung herangezogen, um den Prozess der Wahrnehmung, der gemäss Peirce ebenfalls hier seinen Anfang nimmt, zu studieren. Nach Peirce beginnt die Wahrnehmung auf dieser absolut unbewussten Stufe des Firsts. Wir nehmen nur Qualitäten wahr, die wir schon einmal wahr - genommen haben. Der ganze Prozess, bis hin zum Wahrnehmungsurteil, geht stufenweise vor sich. Peirce stellt sich vor, dass vom uns affizierenden Second in der Begegnung mit der Realität, zum erahnten Icon bis zum Wahrnehmungsurteil im Third komplexe, vom Individuum gänzlich unbemerkte Prozesse ablaufen. Auf allen Stufen dieses Vorgangs laufen abduktive Schlussfolgerungen (vgl. Artikel zur Person von Peirce), und auch das Urteil zum Schluss ist genau besehen erst eine Hypothese (CP 7.597–688). Es würde zu viel Platz beanspruchen, diese Prozesse im Detail zu erläutern. Für uns ist wichtig, dass Peirce offensichtlich anders als Freud 13 die Wahrnehmung im unbewusstesten Teil menschlicher Seelentätigkeit beginnen lässt. Ich habe deshalb vor kurzem einen Vortrag mit der schüchtern vorgetragenen Anmerkung geschlossen, dass Freud sich wohl im Charakter der Wahrnehmung Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 17 geirrt habe, weil er sie als Ich-Funktion angesehen und sie manchmal gar mit dem Bewusstsein gleichgesetzt hat. Der Wunsch, Freud hier zu korrigieren, war bei mir aus dem Studium der Schriften von Peirce erwachsen. Diese Erkenntnis scheint indessen auch aus dem Bündel neuer Entwicklungen hervorzugehen, das ich oben beschrieben habe. So kann man bei Mertens nachlesen: «Der in der Introspektion als evident erscheinende Eindruck, unsere Wahrnehmung komme unmittelbar in unserem Bewusstsein an oder sei mit diesem identisch, von dem auch Freud aus- ging, hat sich als unzutreffend herausgestellt. Tatsächlich hat das nicht-bewusste sensorische Perzept auf seinem Weg ins Bewusstsein eine Vielzahl von Korrekturen und Ausblendungen, aber auch unzählige Bedeutungsanreicherungen erfahren» (2013, S. 824). Trieb 14 – Intentionalität Ich möchte hier noch einmal anmerken, dass all diese Verstehens- und Wahrnehmungsprozesse ohne eine Kraft, die unser Erkennen vorwärtstreibt, gar nicht denkbar sind. In diesem Sinne schätze ich nach wie vor das Freud’sche Triebkonzept (1915/1999, S. 212 ff.) und bringe auch der Statuierung eines dritten Antriebes, dem Wissenstrieb (neben Liebe und Hass) bei Melanie Klein und Bion, Sympathie entgegen. Wie ich in einem früheren Beitrag (Saller, 2011, S. 151–152) aufgezeigt habe, kann auch die Symbolisierungstätigkeit als Ausdruck des Triebes verstanden wer - den. Der Integration der Vorstellung des Triebes als grundsätzlichem Antrieb des Peirce’schen Zeichenuniversums steht meiner Ansicht nach nichts entgegen. Im Gegenteil: Der zwischen Psyche und Soma angesiedelte Trieb könnte ein Stück weit zur Überwindung überkommener Body-Mind-Dualismen beitragen, was auch ein zentrales Anliegen von Peirce war. Meinem Optimismus in Bezug auf das Projekt, Peirce und Psychoanalyse aufeinander zu beziehen, steht die eher negative Einschätzung zweier Kollegen gegenüber, die sich schon seit Jahren mit dem Thema beschäftigt haben. Kettner nimmt in seinen «Reflexionen über das Unbewusste» die skeptische Einschätzung von Bonnie Litowitz von 1991 auf, die damals schrieb: «Der Haken dabei ist, dass weder die linguistische noch die semiotische Theorie irgendein Element enthal- ten, das die Funktion der Energie in Freuds Theorie ersetzen könnte; d. h. eine Motivationsquelle für Intentionalität» (Litowitz, 1995, S. 46). Kettner meint zwar dazu (Kettner & Mertens, 2010, S. 106), dass es nun doch zuerst einmal darum ginge, die Möglichkeiten der Semiotik auszureizen und stellt in Aussicht, dass dies die intra- und interdisziplinären Dialogchancen erhöhen könnte. Er scheint aller - Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 18 Vera Saller dings auch zu befürchten, dass sich das Unterfangen letztlich als nutzlos erweisen könnte und vergleicht es mit dem Esperanto, das letztlich auch nur wenig zur Völkerverständigung beigetragen habe. Vielleicht hat diese pessimistische Einschätzung der beiden Autoren damit zu tun, dass sie die Semiotik aus Peirce’ Gesamtphilosophie isolieren und die sche- matischen Gedanken dann auf die Psychoanalyse übertragen. Meiner Meinung nach rechtfertigt es sich indessen, die Semiotik im Zusammenhang von Peirce’ Gesamteinschätzung dessen, was den Menschen ausmacht, zu belassen. 15 Dies bedeutet in erster Linie, dass Peirce’ Pragmatismus miteinbezogen wird, obwohl, wie ich am Schluss noch kurz andeuten werde, das Peirce’sche Werk noch weit mehr bietet. Second: Affekte, Selbst und Abwehrmechanismen Ich möchte also die Semiotik nicht nur als trockene Kategorienbildung einführen, um ein paar komplizierte Begriffe mehr in der psychoanalytischen Theorie zu haben, sondern den Input von Peirce aufnehmen, der das Funktionieren der Verstehensprozesse als das eigentliche Thema ansah. Dies lässt sich beson- ders anschaulich am Second zeigen. Denn die oben beschriebenen ikonischen Eindrücke werden zu indexikalischen Zeichen noch bevor wir ihrer gewahr werden. Das Second ist der Moment, in dem ein Reiz aus der Aussenwelt die in sich versun- kene Person im First aufschreckt. Wenn wir nochmals von den oben beschriebenen Ähnlichkeitseindrücken ausgehen, die uns an etwas erinnern, dann setzt da die eigentliche Zeichenfunktion ein. Wir können den momentanen Eindruck dann als ein Zeichen für die Sache verstehen, an die er uns erinnert. Unser momen- taner Sinneseindruck, zum Beispiel der Geschmack eines Madeleines in Prousts bekanntem Beispiel aus «A la Recherche du Temps perdu», verwandelt sich in ein Zeichen, hier ein Zeichen für eine Kindheitserinnerung. 16 Was genau hat das nun mit Psychoanalyse zu tun? Ich vertrete die These, dass sich das Freud’sche Unbewusste auf den Ebenen des Firsts und des Seconds wiederfindet. Die Trennung auf zwei Kategorien hat Ähnlichkeit mit der von Green (1979; 1999) festgestellten Aufteilung des Verdrängten in Affekt (hier Second) und Vorstellung (hier First). 17 Das Second ist der Ort des Zusammenstosses mit der Realität – und damit auch der Ort der Abwehr. Es ist der Ort des Lernens und der Ort der Verweigerung des Lernens. Wenn wir uns fragen, ob das Second und die inde- xikalischen Zeichen noch zum Unbewussten gehören, gibt es zwei Möglichkeiten, darauf zu antworten. Einerseits sind die indexikalischen Zeichen auf das Hier und Jetzt angewiesen. Die Indexe weisen auf Sachen in unmittelbarer Nähe des Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 19 Sprechers und erst die Symbole erlauben die Freiheit, an Dinge zu denken, die nicht da sind. Indexe sind in diesem Sinne partikulär und erst im Bereich des Thirds, des Symbolischen, kann sich das Denken im Sinne rationaler Planung und Probehandelns entwickeln. Das Second kann aber nicht einfach als unbewusst angesehen werden, haben wir es doch hier mit dem oben bereits erwähnten «clash» mit der Realität zu tun, der – dies eine weitere Gemeinsamkeit von Psychoanalyse (insbesondere derjenigen nach Bion) und Peirce – nicht selten als brutal und einschneidend beschrieben wird. Oder dann – und auch hier reden wir von bewusstem Erleben – nehmen wir mit Überraschung davon Kenntnis, dass die Realität anders ist, als wir sie uns vorgestellt haben (vgl. Cooke, 2011). Wir haben es also beim Second mit dem Eindringen der Realität in unsere Träumereien zu tun. Wir können sagen, wir befinden uns an der Grenze von Bewusst und Unbewusst, an der Schwelle der Bewusstwerdung 18 bzw. der Unbewusstmachung. Da wo wir von der Realität (oder vom anderen) angestossen werden, schauen wir hin, fokussieren unsere Aufmerksamkeit. Und wo wir aus der träumerischen Stille des Firsts aufgeschreckt werden, reagieren wir auch. Ich werde deshalb unter dem Titel «Second» die Affekte behandeln sowie das Selbst. Ebenfalls auf der Ebene des Seconds anzusiedeln sind die Abwehrprozesse. Sie sind ja eigentlich, wenn man es Bion paraphrasierend sagen möchte, Weigerungen, aus der Erfahrung zu lernen. Zeichentheoretisch könnte man die Abwehr als umgekehrt funktionierende Indexe beschreiben. Aber warum sollte das Selbst als dem Second zugehörig betrachtet werden? Die Idee ist, dass wir uns erst als Selbst erleben können, wenn wir uns dieser Kraft von aussen entgegenstellen, oder sie als Impact spüren. Oder auch, bezogen auf unsere Triebwünsche, wenn das Nein auf sie einwirkt. Dass das Selbst auf der Ebene des Seconds zu lokalisieren ist, sieht man auch daran, dass die Personalpronomen innerhalb der Sprache als wichtigste Indexe fungieren. Sie zeigen dem Sprecher und Hörer, wer spricht und wovon die Rede ist. Der oben bereits erwähnte Olds hat das Funktionieren der Affekte selbst als ein semiotisches System bezeichnet (vgl. Olds, 2003). Olds legt grossen Wert darauf, dass mit Indexen die Distanz zum Objekt geregelt wird. Sie dienen dem Subjekt dazu, seine Wünsche nach dem Objekt, beziehungsweise seinen Wunsch nach Distanz auszudrücken: “Indeed there is something about the affect system that is peculiarly indexical: affects are derived from the evolution of approach-avoidance systems” (Olds, 2000, S. 512, Hervorh. des Autors). Um die Regulation von Distanz und Nähe geht es auch in den affektiven Bewegungen auf der lokalen Ebene der Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 20 Vera Saller Mikroprozesse, die die Autoren der CSPG als Hauptwirkfaktor der psychoanalyti- schen Behandlung (CPSG, 2004) untersuchen. Die Gerichtetheit des Affekts auf den anderen lässt sich meiner Ansicht nach mit der pragmatistischen Ausrichtung der Peirce’schen Semiotik in Beziehung bringen. Es geht nicht einfach um emotionslos ausgetauschte Zeichen, sondern um unsere Befindlichkeit, unsere Gesten und unser Sprechen sind von Anfang an in einen Zusammenhang des Handelns und der Intentionalität eingebunden. 19 Ich werde diese Eingebettetheit der indexikalischen Zeichen in Intentionen anhand einer Bemerkung des Philosophen Helmut Pape erläutern. Da die indexika- lischen Zeichen innerhalb der Sprachphilosophie sehr umstritten waren, schreibt er – in Abgrenzung zur amerikanischen analytischen Sprachphilosophie, deren Analysen auf beschreibende Sätze von der Welt reduziert sind –: «Die Vagheit inde- xikalischer Zeichen […] beruht eben nicht auf Auslassung, sondern auf der impli- ziten Aufforderung zur Ergänzung aus der Situation» (Pape, 2002, S. 10–11). Pape weist damit auf die nahe Verwandtschaft zwischen wortloser Geste und kurzen, indexikalischen Ausrufen hin. Beispielsweise rufe ich «hier!», wenn ich sehe, dass mein Kollege sich nach hinten umwendet und mich sucht, während ich schon vor ihm hergegangen war; oder jemand ruft «Feuer!», um andere zu warnen. Indexikalische Ausdrücke zeigen innerhalb der Sprache an, auf wel - che Lebenswirklichkeit sich die gesprochenen Worte und Zeichen beziehen. 20 Michael Tomasello (2002), Peter Fonagy (2006) und andere haben gezeigt, wie in einer der wichtigsten Stufen, die in der Kleinkindentwicklung zur Fähigkeit der Mentalisierung führen, die erwachsene Bezugsperson zusammen mit dem Baby auf Gegenstände blickt, auf sie zeigt und mit ihm darüber redet. Und wie wird die Aufmerksamkeit auf das zu fokussierende Objekt in der Aussenwelt gelenkt, so dass wir uns in einen geteilten Raum begeben? Durch Zeigen und den Gebrauch indexikalischer Ausdrücke, wie etwa: «Schau da, das da ist interessant!» Oder das Kind, indem es einfach den Finger nach einer Sache reckt und dabei Laute von sich gibt: «hm, hm, hm!» Nun werde ich zeigen, wie mit Hilfe des Peirce’schen Vokabulars Entwicklungs- und Interpretationsprozesse in ihrer Lebendigkeit beschrieben werden. Die Prozesshaftigkeit der Vorgänge mache ich an den Übergängen der sprachlichen Zeichenarten fest. So meinen die sprachlichen Indexe einerseits etwas Partikuläres, eine bestimmte Sache, einen ganz bestimmten Ort. Andererseits unterliegen sie sprachlichen Regeln und haben damit auch etwas Allgemeines. So ist zum Beispiel, wenn jemand «ich» sagt, immer ein anderer, je spezifisch einzig- Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 21 artiger Mensch gemeint, aber es besteht die Regel, dass es der Sprecher ist, der gemeint ist. Die sprachlichen Indexe erstrecken sich so quasi ins Third hinein. Auch bei den ikonischen Quasi-Zeichen habe ich darauf hingewiesen, dass sie die Tendenz haben, sich in indexikalische zu verwandeln. Das Denken ist immer in Bewegung, Zeichen entwickeln sich. In diesem Prozess kann es aber zu Stockungen kommen. Ich habe oben die Berichte der Babybeobachter als harmonisierend charakterisiert. Im Gegensatz dazu haben wir es in analytischen Behandlungen auch mit dem enttäuschten Kind zu tun, das sich in eine Ecke zurückzieht und sich seine eigenen Gedanken macht. Mit dem Kind, das sich beispielsweise schmollend ausdenkt, wie die Mutter sich den Kopf anschlägt und blutend zu Boden fällt. Dieses schmollende Kind kann sich vielleicht den Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, nicht überlassen, sondern versucht, die fürchterlichen Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Oder wir haben es mit einem Menschen zu tun, der so sehr auf Anerkennung angewiesen ist, dass seine Äusserungen, was auch immer er inhaltlich sagt, stets die Aufforderung zum Ausdruck bringen: «Bewundere mich!» John P. Muller, ein ande- rer Peirce-Spezialist und Psychoanalytiker, nennt dies «coerced mirroring». Muller hat die Geschichte der Babybeobachtung und der relationalen Psychotherapie aus semiotischem Gesichtspunkt aufgearbeitet. Er zeigt, wie semiotisch unbedarft dieses Denken in Dyaden ist und macht wiederholt darauf aufmerksam, dass die Mutter ihre spiegelnde Funktion nur übernehmen kann, weil sie selber im Third, in der Kultur und in der Sprache, verankert ist: “Such acts of mutual recognition are possible because the infant’s rudimentary semiotic competence is engaged by the mother’s deictic framework, concretized by her use of pronouns” (Muller, 1996, S. 67). Er warnt davor, im therapeutischen Prozess im Second, im coerced mirro- ring, stecken zu bleiben: “A two-person model may be used to simplify the inter - actional field, making it easier to reduce psychopathology to victimization, as damage done by one to another, as the encounter of two masses, limiting it to Peirce’s category of Secondness. Patients themselves pressure us to think of them as victims” (Muller, 1996, S. 72–73). Das Third und die Fähigkeit zur selbstkontrollierten Veränderung von Gewohnheiten Ein grosser Teil der sprachlichen Zeichen sind konventionell, oder, um es im strukturalistischen Jargon zu sagen, arbiträr. 21 Für Peirce steht im Third, als Krönung der Zeichenprozesse sozusagen, die Fähigkeit des Menschen, Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 22 Vera Saller Gewohnheiten anzunehmen und sie selbstreflexiv zu verändern (vgl. Colapietro, 1989). Damit ist die Lernfähigkeit des Menschen angesprochen. Die psychoana- lytischen Abwehrmechanismen würden wir als Stockungen dieses fortgesetzten Interpretationsprozesses von Zeichen charakterisieren. Erkenntnistheoretisch bezeichnet Peirce sich als Fallibilisten, das heisst, er erachtet jede Erkenntnis als nur auf Zusehen hin richtig, solange nicht die Erfahrung, oder die Erfahrung eines anderen, dem erkennenden Subjekt zeigt, dass das Geglaubte falsch war. Deshalb ist das lebenslange Lernen für Peirce eine Selbstverständlichkeit. Aber natürlich gibt es auch nach Peirce Stockungen im Lernprozess. In seinem «The fixation of belief» (1967, S. 293–316) erwähnt er andere Arten, um zu subjektiv sicheren Erkenntnissen zu gelangen, etwa die Beharrlichkeit oder die Methode der Autorität. Es ist zwar offensichtlich, dass Peirce die wissenschaftliche Methode, das heisst die Bereitschaft, immer wieder dazuzulernen, als die beste erachtet. Aber er rechnet damit, dass viele Menschen andere Methoden wählen – und die Wahl der Beharrlichkeit z. B. entspricht einer Stockung im idealerweise als andauernd und fortgesetzt konzeptualisierten Prozess der Zeicheninterpretation. Gibt es etwas, was neurotische Beharrlichkeit von normaler Beharrlichkeit unterscheidet? Die Idee, dass es eindeutig Kranke und Gesunde gebe, hat die Psychoanalyse schon lange abgelegt. Auch die Verhaltensweisen können nicht als eindeutig krank oder gesund klassifiziert werden; jedes Verhalten hat seine gesunde und seine neurotische Seite. Trotzdem brauchen wir nach wie vor den Blick auf das, was das psychische Gleichgewicht entweder über die Massen destabilisiert, oder die Stabilität zu starrer Unflexibilität mutieren lässt. Bei der Konzeptualisierung dessen, wie sich die beiden Beharrlichkeiten zueinander verhalten, tun wir gut daran, uns auch wieder an die Idee der Kontinuität zu halten. Dies heisst, dass wir uns eher ein kontinuierliches ineinander Übergehen vorstellen und die Unterschiede mehr im Quantitativen denn im Qualitativen sehen. Der psychoanalytische Prozess wäre dann eine begleitete Selbst-Reflexion. Dass der andere bei der Generierung von Sinn ein gewichtiges Wort mitredet, ist angesichts der sozialen und kulturellen Prägung des Symbolischen nichts Besonderes. Der Analytiker ist indessen ein bedeutender Anderer insofern, als er hilft, scheinbar unüberwindbare Ängste auszuhalten. Der Analysand wird darin unterstützt, das zu entwickeln, was nach Peirce eine wissenschaftliche Haltung ist – für uns die Fähigkeit, durch Erfahrung zu lernen. Das Erreichen der höchsten Stufe des Zeichenprozesses und damit der Möglichkeit, sich selbst zu verbessern, bedeutet Selbstverantwortung. Die im Zitat Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 23 von Muller angesprochene Tendenz der Patienten, sich uns als Opfer zu präsentie- ren, läuft diesem Gedanken zuwider. Ich glaube, es ist Peirce’ Hoffnung, dass die Menschen die Verantwortung für ihre Triebhaftigkeit und für ihr Tun übernehmen, 22 die sein Werk so geeignet erscheinen lassen, um mit ihm die psychoanalytische Theorie weiterzuentwickeln. Und es ist diese Haltung, die – so fürchte ich – in den angesprochenen Entwicklungen der psychoanalytischen Therapie nach den Erkenntnissen der CPSG nirgends zu finden ist. Zum Schluss möchte ich nochmals kurz zusammenstellen, was meiner Ansicht nach der Einbezug der Peirce’schen Philosophie der Psychoanalyse für Vorteile bringt. Als Metatheorie für die Krankheitslehre und als Reflexionsleinwand für die Technik kann mit der genauen und wertfreien Beschreibung von psychi- schen Prozessen als Zeichenprozesse der Kontinuität derselben Rechnung getragen werden. Die Grenze zwischen Krankheitsbildern kann fliessender gestaltet werden, und trotzdem können einzelne typische Besonderheiten von spezifischen Bildern hervorgehoben werden. In der Technik können Prozesse zwischen Analytiker und Analysand, wie z. B. Containing und Projektive Identifikation, die bis dahin faszinierten, aber auch mit einem Stück Magie imponierten, begrifflich genauer gefasst werden. Was in Fallgeschichten anschaulich beschrieben wird, kann theoretisch durchleuchtet werden: “A central point of all this is that this model gives a unified framework in which to fit our clinical theories and research paradigms” (Olds, 2000, S. 524). Ein weiteres Plus der Peirce’schen Phiosophie ist, dass sie Biologie und Geistestätigkeit, Body und Mind, umfasst. Dies ist vielversprechend für manche der Fragen, die uns beschäftigen, z. B. Psychosomatik, und Pharmakotherapie (dazu Olds, 2000, S. 525). Die Ausweitung des Untersuchungsfeldes birgt auch die Chance, den Graben zwi- schen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ohne Reduktionismus zu überbrücken. Literatur Bohleber, W. (2013). Editorial. 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Ersterer ist weiter, er besagt einfach, dass die Rationalität keine Rolle spielt, während der zweite suggeriert, dass die Rationalität abhanden gekommen sei. 2 Vgl. die Debatte darüber, ob die Baby-Beobachtung eine psychoanalytische Disziplin sein könne (Green, 2000 und Stern, 2000). 3 Dies war ja auch schon Freuds Meinung, wie das folgende, bekannte Zitat zeigt : «Es ist unleugbar, dass die Bezwingung der Übertragungsphänomene dem Psychoanalytiker die größten Schwierigkeiten bereitet, aber man darf nicht vergessen, dass gerade sie uns den unschätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden» (Freud, 1912b/1999, S. 374). 4 Schweizerischer Ausdruck für Gefühlssuppe. 5 In der Antike, im Mittelalter und in der Renaissance war die soziale Herkunft des Wissens eine Selbstverständlichkeit. Erst während der Aufklärung wurde mit der Überschätzung der Vernunft der Ursprung des Wissens ins Individuum verlegt und der Mythos der tabula rasa ( Toulmin, 1994) geschaffen. Der Gedanke der Sozialität des Wissens wurde während des letzten Jahrhunderts neu entdeckt. Peirce gilt als Vorbote dieser Revolution, die durch die Namen Ludwig Fleck und Thomas S. Kuhn umrissen werden kann. 6 Vgl. dazu z. B. Owen Renik: “We were trying to devise a view of Ethan’s life, present and past, that worked, i. e. that helped him feel better”(1998, S. 492). 7 Vgl.: “My own list grew originally out of the study of the table of Kant.” (CP 1.300). Peirce Zitate aus The Collected Papers of Charles Sanders Peirce werden folgendermassen zitiert: CP Bandnummer.Paragraph). 8 Die Zeichenarten Ikon, Index und Symbol sind nur ein Teilstück der umfassen- deren Peirce’schen Bemühungen, die Zeichen zu kategorisieren. Peirce ordnet jeder der Dimensionen der triadischen Beziehung von Zeichen, Objekt und Interpretant eine eigene dreistufige Einteilung zu, die wiederum den phänomenologischen Kategorien First, Second und Third folgt. Die am häufigsten zitierte Zeicheneinteilung ist diejenige nach der Dimension des Objekts (die genannten Ikon, Index und Symbol), weitere Unterscheidungen ergeben sich aus der Dimension des Zeichens selber (Quali-Zeichen, Sin-Zeichen, Legi-Zeichen) und aus der Art des Interpretanten (Rhema, Dicent und Argument). 9 Für eine gut verständliche, kompetente Darstellung der Peirce’schen Kategorien vgl. Houser, 2000. 10 Eine Definition des Zeichens nach Peirce: “A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity. It addresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign or perhaps a more developed sign”(CP 2.228). 11 “A Representamen by firstness alone can only have a similar object. Thus a Sign by Contrast denotes its object only by virtue of a contrast or Secondness, between two qualities. A sign by firstness is an imago of its object and, more strictly speaking, can only be an idea” (CP 2.276, Hervorhebung des Autors). Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse 28 Vera Saller 12 Vgl. den wunderbaren Titel, den Claire Petitmengin (2007) einer ihrer Arbeiten gibt: Towards the source of thoughts . Diese First-Person Forscherin macht spannende Unter - suchungen darüber, wo unsere bewussten Gedanken herkommen, bezieht aber leider weder Peirce noch die Psychoanalyse in ihre Überlegungen ein. 13 Dragica Stojokovic kommentierte meine Darstellung mit der Bemerkung, dass vieles von dem, was Freud beschäftigte, z. B. das Übertragungsgeschehen, mit der Festschreibung der Wahrnehmung im bewussten Ich nicht zu erklären wäre. Ich gebe ihr recht, auch die Stelle, an der Freud davon spricht, dass der Analytiker sein «eigenes Unbewusstes [dem Unbewussten des Analysanden, V. S.] als empfangendes Organ zuwenden» (1912a/1999, S. 380) soll, deutet darauf hin, dass es Freud durchaus bewusst war, dass Wahrnehmung auch ausserhalb des Bewusstseins geschehen kann. Diese Fragen müssten in einer vertieften Studie noch eingehender geklärt werden. Ich beziehe mich hier lediglich auf jene Stellen, wo Freud explizit die Wahrnehmung nennt und sie versucht im Rahmen seines psychischen Apparates einzuordnen (vgl. z. B. 1923, S. 252/53, 1900, S. 542 ff.). 14 Thomas Short (2007) verweist darauf, dass Peirce’ Wissenschaftsverständnis teleolo- gische Kausalitäten in Rechnung stelle. In Bezug auf menschliches Verhalten spricht Peirce öfters von purpose, d. h. er charakterisiert das menschliche Handeln ist durch Zielgerichtetheit. Es dient einem Zweck. Ich habe an anderer Stelle schon angeregt, den Freud’schen Trieb mit dem Peirce’schen purpose zu vergleichen (Saller, 2014) 15 Ich folge hier Colapietro (1995), der sich von Santaella Braga beraten lässt, die davor warnt, die Begriffe bei Peirce aus ihrem Gesamtzusammenhang herauszulösen. Santaella Braga (1993) schreibt dort: “When seen in the light of the philosophical foundation in which they are rooted, Peirce’s definitions and classifications of signs do not appear as mere classific- ations stricto sensu, but as patterns which include […] all the ontological and epistemological aspects of the sign universe: the problem of reference; of reality and fiction […]; the question of objectivity […]; the logical analysis of meaning […]; and the p\ roblem of truth […]” (S. 405, Hervorhebung der Autorin). 16 Ich beziehe mich auf die berühmte Schilderung einer Erinnerung an die Kindheit in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, wo der Protagonist berichtet, wie er einmal beim Verzehr eines in Lindenblütentee getauchten Madeleines an seine Tante Leonie erinnert wurde und anschliessend über die Sonderbarkeiten der Erinnnerung und Nichterinnerung sinniert. 17 Es sind auch schon verschiedentlich Versuche gemacht worden, das First, Second und Third mit den Lacan’schen Registern des Imaginären, Realen und des Symbolischen zu verknüpfen. Dass dies nicht unbedingt aufgeht, zeigt sich daran, dass in den zwei Versuchen, die ich hier anführen möchte, einmal das First mit dem Realen (vgl. Muller, 1996, S. 75 ff.) und einmal das First mit dem Imaginären (vgl. Santaella, 2005) gleichgesetzt wurde. Insbesondere aber sind das Reale von Lacan, und Peirce’ Realität (die ja hier an der Stelle des Second in den Zeichenprozess quasi hineinragt) etwas Grundverschiedenes. Hier prallen Welten aufeinander; auf der einen Seite das pessimistische, skeptische, von Existenzialismus geprägte europäische Weltbild und auf der anderen die grundsätzlich opti- mistisch gestimmte amerikanische Lebenseinstellung. 18 Ich pflichte Colapietro bei, der anmerkt, dass wir auch an einer Theorie dazu arbeiten sollten, wie die Bewusstwerdung geschieht: “Not only do we need an account of how ideas become operative in the unconscious […], we also need to comprehend how preconscious ideas become conscious” ( Vgl. 1995, S. 492). 19 Vgl. auch Vinocur Fischbein (2010). 20 Muller bringt anhand eines eindrücklichen Fallbeispieles die These auf, dass das psychotische Sprechen sich durch ein vollständiges Fehlen von Indexen auszeichne (1996, S. 105 ff.). Journal für Psychoanalyse 55 Das dynamische Unbewusste im Lichte der Kategorien First und … 29 21 Es dürfte inzwischen klar geworden sein, dass für mich der Peirce’sche Zeichenbegriff dem strukturalistischen voraus hat, dass auch vorsprachliche Zeichen eine wichtige Rolle spielen (Ikons und Indexe). Für eine detailliertere Auseinandersetzung mit den Vorteilen der Peirce’schen Semiotik gegenüber dem Strukturalismus vgl. auch Colapietro, 1989; Saller, 2005; Short, 2007, S. 228–229. 22 Vgl. dazu auch die Studie des kanadischen Philosophen Ian Hacking (1996) der das epidemische Aufkommen der Missbrauchsvorwürfe und der Diagnose der Multiplen Persönlichkeit in den USA und in Kanada schildert und der die Frage aufwirft, was für eine Kultur wir seien, in der so viele Menschen sich als Opfer verstehen wollen. Charles Sanders Peirce und die Psychoanalyse