Editorial
Die Behandlung von psychotisch Erkrankten ist für die Psychoanalyse eine besondere Herausforderung, da das entgrenzte Gegenüber immer wieder in Wahnvorstellungen versinkt, die gemeinhin als unteilbar gelten. Sprach- und Wortzerfall, Ich-Fragmentierung, Dissoziation, emotionale Starrheit, Halluzinationen und stumme Selbstversunkenheit sind nur einige der Symptome, denen sich Psychiater und Psychotherapeuten gleichermassen stellen müssen. Wie ist es möglich, unter diesen Umständen einen emotionalen und einen verbalen Zugang zu erlangen? Wie ist das Innenleben dieser Menschen zu verstehen? Wie kann der Wahn im psychoanalytischen Setting angegangen, bearbeitet und persönlich integriert werden? Welche Rolle, wenn überhaupt, können Deutungen in einem solchen Prozess spielen? Und wie kann man/frau sich auf das oftmals intervenierende Umfeld einstellen und solche Patienten angemessen tragen? Solche und ähnliche Fragen diskutieren die praxiserfahrenen Autoren und Autorinnen dieser Ausgabe.
Unmittelbarer Anlass für dieses Heft ist Josi Roms Engagement für die psychoanalytische Psychotherapie mit psychotischen Menschen. Während neunzehn Jahren, von 1991–2010 führte er am Psychoanalytischen Seminar Zürich sein weitherum geschätztes Psychoseseminar durch, das von vielen angehenden und praktisch tätigen PsychoanalytikerInnen regelmässig besucht wurde. Auch bei der letztjährigen Gründung des «Dachverbandes Deutschsprachiger PsychosenPsychotherapie» (DDPP) in Berlin (6. Mai 2011) half Josi Rom tatkräftig mit. So entstand die Idee, ein Journal mit dem Themenschwerpunkt «Psychosen» herauszugeben, das sich auf die Tätigkeit Josi Roms bezieht, seine Arbeit würdigt und mitunter die Spuren nachzeichnet, die von seinen Psychose-Seminaren in die klinische Praxis geführt haben. Mehrheitlich kommen hier darum Autoren zu Wort, die seine Kurse besucht haben und heute auch psychotische Menschen psychoanalytisch betreuen.
Die Beiträge zu diesem Schwerpunkt können in drei Gruppen unterteilt werden, nämlich erstens in Beiträge, die den möglichen theoretischen Rahmen für ein verbessertes Verständnis der Psychoseproblematik abstecken; zweitens in Beiträge, die einer kasuistischen Argumentationslinie folgen und der interessierten Leserschaft Einblick in teils langjährige, anspruchsvolle und emotional äusserst fordernde psychoanalytische Therapien gewähren; sowie drittens in Beiträge, die sich mit Josi Roms Arbeit und dessen Wirkung im Besonderen auseinandersetzen. Teilweise überschneiden sich die Argumentationslinien auch. Besonders freut
uns, mit Prof. Dr. em. Christian Scharfetter und Prof. Dr. Stijn Vanheule auch zwei namhafte Wissenschaftler für einen Beitrag zu diesem Heft gewonnen zu haben, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven dem anstehenden Fragenkomplex stellen.
Eröffnet wird das Leitthema mit einem offenen Brief, den Josi Rom mit dem vielsagenden Titel «Verrückt» an uns RedaktorInnen richtete, als er von unserem Unterfangen erfuhr. Darin legt er seinen Werdegang in der Auseinandersetzung mit dem Thema Psychose dar, diskutiert die Entwicklung seiner am Psychoanalytischen Seminar Zürich durchgeführten Kurse, würdigt die Rolle seiner Supervisoren und spekuliert über die Grundlagen, die zur scheinbar klaren Trennung in psychotische Wahnvorstellungen und Alltagsrealität geführt haben. Die eine Welt, so schreibt er, sei psychotisch diagnostiziert, die andere psychotisch legitimiert. Christian Scharfetter führt sodann mit klaren und klärenden Worten durch die teils verwirrende Begriffslandschaft und skizziert die Eckpfeiler der wohlwollenden und flexiblen psychoanalytischen Haltung, welche erfolgreiche therapeutische Prozesse ermöglichen kann. Explizit betont er, dass es keine therapeutische Anweisung, keine Strategie oder gar ein (normatives) Verfahren im Umgang mit solchen Menschen geben kann. Vielmehr sieht er den Therapeuten als Begleiter, Anreger, Unterstützer und Helfer, der sich in eine möglichst alltagsbezogene, lebensnahe und liebevolle Beziehung mit seinen Patienten einlässt. Sowohl Julia Brauns Beitrag zum psychoanalytischen «Verstehen» im Fall einer schizophrenen Patientin als auch Maribel Fischers Artikel über eine langjährige, hochfrequente psychoanalytische Psychotherapie greifen die einführenden Gedanken auf und weben sie in ihre kasuistischen Fallberichte ein. Julia Brauns Anliegen ist es zu zeigen, wie hilfreich Josi Roms Ansatz für die Entwicklung eines psychodynamischen Verständnisses schizophrener Menschen in der therapeutischen Arbeit ist. Sie berichtet über ihre mehrjährigen Erfahrungen als Psychotherapeutin in einer psychiatrischen Klinik und bezieht sich dabei exemplarisch auf ausgewählte Sequenzen des Therapieverlaufs einer jungen, schizophrenen Frau. Maribel Fischer arbeitet als selbständige Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin und zeigt, wie sie im Verlaufe des psychoanalytischen Prozesses in immer neue Rollen und Funktionen verwickelt wurde – von der Leidensbegleiterin über die Unterstützerin und Helferin bis zur Dolmetscherin von idiosynkratischen Wahnvorstellungen in externen Institutionen –, welche Settingmodifikationen sich dabei aufdrängten und wie sich die teils heftige Übertragungsdynamik gestaltete. Trotz all dieser Unwägbarkeiten ist es ihr Anliegen zu zeigen, dass psychoanalytische Psychotherapien gerade bei Menschen mit Psychosen sinnvoll sind. Gemeinsam mit Nicole Burgermeister, Colette Guillaumier und Elisabeth Haemmerli stellt Julia Braun eine Sammlung von Eindrücken und Erinnerungen vor, die Josi Roms Psychoseseminar bei dessen TeilnehmerInnen hinterliess. Mitunter wird dem Leser auch eine lebendige Innenansicht in die Kultur dieser Kurse vermittelt, welche ihre Bedeutung für die TeilnehmerInnen erahnen lässt. Mit den Beiträgen von Dagmar Ambass und Stijn Vanheule – sie schliessen das Schwerpunktthema ab – kommt es zu einer Verschiebung des Fokus. Dagmar Ambass stellt die Frage der gesellschaftlichen Bezüge in den Mittelpunkt – eine Frage, die besonders für Personen mit Migrationshintergrund virulent ist. Sie erzählt die Geschichte einer Afrikanerin, die nach ihrer Heirat mit einem Schweizer den kulturellen Kontext ihrer afrikanischen Bauerngesellschaft mit ihren vielfältigen symbolischen Bezügen verlässt, um ihr Glück in einer hochindustrialisierten Leistungsgesellschaft wie der Schweiz zu finden, hier aber leider psychotisch wird. Dagmar Ambass interessiert sich für die Frage, inwieweit das in afrikanischen Gesellschaften typische gegenseitige Geben und Nehmen die innere psychische Stabilisierung von Personen ermöglicht, die in unseren gesellschaftlichen Kontexten dekompensieren und warum. Sie untersucht die Bedeutung des Herausfallens aus den stabilisierenden gesellschaftlichen Bezügen, die zum Ausbruch der Psychose geführt haben könnten und sucht Erklärungen in einer originellen Verknüpfung von Lacans Konzept des Sinthom mit ethnopsychoanalytischen Ansätzen. Stijn Vanheule schliesslich stellt noch einmal die Frage des Verstehens von psychotischen Erscheinungen, diesmal aus theoretischer Sicht. In seinem von Patricia Kunstenaar aus dem Englischen übersetzten Artikel fragt er nach dem Wesen der psychotischen Halluzinationen und präsentiert eine Lacansche Sichtweise. Der Beitrag liefert eine Übersicht über die von Jacques Lacan in den 1950er-Jahren entwickelte Theorie der Halluzinationen. Vanheule folgt Lacan und begreift die Psychose als Unfähigkeit, die eigene Existenz als Subjekt in Beziehung zum Andern zu signifizieren. Sein Beitrag ist verständlich und flüssig geschrieben und er vermag darum auch Leser, die mit der Lacanschen Terminologie nicht oder nur wenig vertraut sind, zum Denken anzuregen. Weitere, ergänzende und lesenswerte Beiträge im Forumsteil runden dieses Heft ab.
Julia Braun
Claudio Raveane
Markus Weilenmann