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Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung

Maria Steiner Fahrni
Mentalisieren bedeutet, die eigenen psychischen Zustände und die von Anderen wahrzunehmen, zu verstehen und zu verbalisieren. Diese Fähigkeit entwickelt sich im Verlauf früher Bindungs- und Objektbeziehungen. In wiederkehrenden Interaktionen wird erlebt, wie beispielsweise Prozesse der Affekt-, Selbst- und Beziehungsregulierung ablaufen und wie diesbezüglich erste mentale Spuren gelegt werden.

Anhand von drei Traumbeispielen wird untersucht, ob Träume über Selbst- und Fremdregulation Auskunft geben. Die Fallgeschichte erörtert die Frage, ob in Träumen Mentalisierungen über sich selbst, über andere und über das wechselseitige Bezogensein ersichtlich werden. Eine sich entwickelnde Mentalisierung erfordert offenbar eine im Beziehungskontext gewachsene Selbstregulation. Diese wiederum kann sich nur entwickeln, wenn Hilfesuchende auf ihre Ängste und Bedürfnisse ein Echo finden und auf der Basis einer «sicheren Bindung» mit einem «wesentlichen Anderen» erleben, wie sich ihre reflexive Kompetenz durch diese Wechselseitigkeit vertieft.


«For a normal development the child needs to experience a mind that has his mind in mind …» (Bateman & Fonagy, 2004, S. 68) Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung Maria Steiner Fahrni (Zürich) Zusammenfassung: Mentalisieren bedeutet, die eigenen psychischen Zustände und die von Anderen wahrzunehmen, zu verstehen und zu verbalisieren. Diese Fähigkeit entwickelt sich im Verlauf früher Bindungs- und Objektbeziehungen. In wiederkehrenden Interaktionen wird erlebt, wie beispielsweise Prozesse der Affekt-, Selbst- und Beziehungsregulierung ablaufen und wie diesbezüglich erste mentale Spuren gelegt werden. Anhand von drei Traumbeispielen wird untersucht, ob Träume über Selbst- und Fremdregulation Auskunft geben. Die Fallgeschichte erörtert die Frage, ob in Träumen Mentalisierungen über sich selbst, über andere und über das wechsel- seitige Bezogensein ersichtlich werden. Eine sich entwickelnde Mentalisierung erfordert offenbar eine im Beziehungskontext gewachsene Selbstregulation. Diese wiederum kann sich nur entwickeln, wenn Hilfesuchende auf ihre Ängste und Bedürfnisse ein Echo finden und auf der Basis einer «sicheren Bindung» mit einem «wesentlichen Anderen» erleben, wie sich ihre reflexive Kompetenz durch diese Wechselseitigkeit vertieft. Schlüsselwörter: Mentalisieren, Träume, implizites und explizites Beziehungs­ wissen, Affekt­, Selbst­ und Beziehungsregulierung 1 Ausgangslage Mentalisieren in Psychologie und Psychoanalyse bedeutet die «Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung men- taler Zustände zu interpretieren» (Fonagy et al., 2002). Im Mentalisierungsprozess sind also nicht nur die eigenen Vorstellungen wichtig, sondern auch die fantasier ­ ten Überzeugungen, Gefühle, etc., die dem Verhalten des Gegenübers zugrunde liegen könnten. © 2020, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz ( CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. D OI 10.1875 4/jf p. 52 . 9 Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse 102 Maria Steiner Fahrni «From living in the body to living in the mind» nennen Gertrud und Rubin Blanck (1978/1998) das Herauswachsen aus dem körperlichen, präsymbo li­ schen Erleben in eine sich entwickelnde, mentale Organisation von psychi­ schen Kompetenzen. Aus einer psychoanalytisch ­körperpsychotherapeuti ­ schen Perspektive drängt sich freilich die Frage auf: Geht es nicht eher um eine Entwicklung «From living in the body to living in body and mind»? Dies betont auch Stern (2007, S. IX), wenn er sagt, «dass sämtliche mentalen Akte ( Wahrnehmung, Empfinden, Kognition, Erinnern) mit einem körperlichen Input einhergehen». Die Fähigkeit zur Mentalisierung entwickelt sich ab den ersten Lebens­ monaten und idealerweise in einer sicheren Bindungsbeziehung. Dank wieder ­ kehrenden Beziehungserfahrungen entstehen «Formen des Zusammenseins­Mit», wie Stern heute die Repräsentationen generalisierter Interaktionen nennt (S. VI). Je nach ihrer Ein­ und Abstimmungsfähigkeit ermöglichen die Eltern dem Kind in unterschiedlichem Ausmass, Affekte wahrzunehmen, zu unterscheiden, zu ver ­ stehen und zu steuern sowie die eigene Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf andere zu lenken. Diese erworbenen, weitgehend impliziten Beziehungsmuster bestimmen, auf welche Weise wir auch als Erwachsene mit uns selbst und mit andern Erfahrungen machen und wie wir diese mental gestalten, ordnen und verarbeiten. Wozu dient Mentalisieren? Hier wird eine spätere, entwicklungspsycholo­ gische Aspekte umfassende Definition von Allen & Fonagy (2009, S. 13) konkreter. Sie definieren Mentalisieren als «die Fähigkeit, mentale Zustände als solche bewusst wahrzunehmen und dieses Gewahrsein zur Affektregulierung und zur Aushandlung der interpersonalen Beziehungen zu nutzen.» Wenn es in einem psychotherapeu­ tischen Prozess gelingt, zunehmend differenzierend Affekte wahrzunehmen, zu benennen und diese für sich selbst und in Beziehungen zu Andern zu steuern, so ist das nicht nur beziehungsfördernd, sondern es stärkt auch erheblich die Integrationsfähigkeit des Selbst. 2 Untersuchungsfragen Ein psychotherapeutischer Prozess kann sich entwickeln entlang des Wechselspiels von Übertragung und Gegenübertragung, anhand des Durcharbeitens von Konflikten und deren Lösungen, aber auch entlang von Träumen und deren Bearbeitung. Träume sind nicht nur wichtig, weil sie uns verstehen helfen, «what is happening in our patients’ mind», sie öffnen uns auch ein Fenster zur momentanen reflektiven Kompetenz unserer Klienten (Fonagy, 2000, S. 106). Journal für Psychoanalyse 52 Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung 103 Die in der frühen Kindheit entstandenen, nichtbewussten Beziehungsmuster sind im impliziten Gedächtnis niedergelegt und prinzipiell nicht erinnerbar. Sie sind so kodiert worden, dass sie nicht im expliziten Gedächtnis abgespeichert worden sind und deshalb dort auch nicht abgerufen werden können. Dies gilt auch für die Art, wie wir Affekte, uns selber und uns in Beziehungen regulieren. So gilt es zu untersuchen, ob der manifeste Traum Zugang gibt zu den früh erwor ­ benen Mustern der Affektregulierung, die noch das erwachsene Selbst in seinen beziehungsregulierenden Funktionen prägen. Regulierungsfähigkeit definiere ich im Sinne von Beebe & Lachmann (2004) als zunehmende Kompetenz, nach einem Beziehungsunterbruch (disruption) den Kontakt zwischen sich und seinen eigenen Gefühlen oder zwischen sich und einem oder mehreren Andern wieder herzustellen (repair). Obwohl das Implizite und das Explizite zwei verschiedenen Gedächtnis­ bereichen angehören, haben sie unter einander etwas Verwandtes, weil das Verbal­Reflektive sich immer auf etwas Intentionales aus dem Impliziten bezieht (Boston Change Process Study Group, 2008, S. 145). So geht es um die Berücksichtigung und den Umgang mit beiden Beziehungsebenen, die verschie­ denen Gedächtnissystemen entspringen. Die Untersuchungsfragen lauten: › Geben manifeste Träume direkte oder indirekte Hinweise auf die Affekt­, Selbst­ und Beziehungsregulierung der Träumerin? › Lassen diese auf eine spezifische Mentalisierungsweise der Träumerin schliessen? › Wenn ja, wie können solche Hinweise prozessfördernd in die psychothe­ rapeutische Arbeit aufgenommen werden? 3 Das klinische Beispiel Lebensgeschichte von Frau L. und deren Anliegen an die Psychotherapie: Ein halbes Jahr vor Therapiebeginn hatte die 28­jährige Frau L. ihr weit fortgeschrittenes Studium wegen einer längeren depressiven Phase abgebrochen und sich in die Isolation zurückgezogen. Sie kam in die Psychotherapie mit dem Ziel, herauszufinden, «Wer bin ich und was will ich?» Dies beinhaltete neben ihrer Identitäts­ und Sinnfindung insbesondere die Frage nach der beruflichen Zukunft. In der Regel trafen wir uns zweimal wöchentlich. Aufgewachsen ist Frau L. in einer Familie mit einem hohen Leistungsideal. Ihr älterer Bruder litt unter Zwängen und war mit der Mutter in tägliche, heftige Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse 104 Maria Steiner Fahrni Auseinandersetzungen verwickelt. Für die Anliegen der Patientin blieb wenig Raum. Bei Versuchen, sich mitzuteilen, wurde sie zurückgewiesen. Die mangelnde Verschwiegenheit der Mutter wurde von Frau L. schon im Kindergarten wahr ­ genommen; sie lernte, wichtige Dinge für sich zu behalten. Der Vater wird als rational denkender, vernunftsorientierter Mann beschrieben. Bis heute versucht sie, seine Indifferenz Emotionalem gegenüber aufzuweichen. Frau L. pflegt den Kontakt zu einigen wenigen Freundinnen. Eine Liebesbeziehung hatte sie noch nie, was sie bedauert. Die Zurückweisungen in frühen Beziehungserfahrungen, zahlreiche infek­ tiöse Erkrankungen bis zum 6. Lebensjahr, der hohe familiäre Leistungsdruck, besonders aber die Entwicklung einer starken Wahrnehmungsabwehr, lassen auf ein frühes vermeidendes Beziehungsmuster mit depressiver Entwicklung schliessen. 4 Traumbeispiele mit Hinweisen auf die Affekt-, Selbst und Beziehungsregulierung und Folgerungen für die Psychotherapie Anhand des Initialtraums untersuche ich, wie die Träumerin ihre Affekte, sich selbst und die Beziehungen zu andern träumend reguliert. Kriterien dafür sind unter anderem die Art der Beteiligung (beobachtend oder aktiv eingreifend?), Art des Kontaktes (Austausch von Emotionen oder Ausrichtung auf eine gemeinsame Handlung?) und der Umgang mit Grenzen (kann die Träumerin aktiv Grenzen setzen, werden sie von andern gesetzt oder fehlen Grenzen?). Weitere Fragen, die ich an den Traumtext stelle, sind: Wie autonom ist die Träumerin? Kommen Abhängigkeiten zum Ausdruck? Wie organisiert sie Raum und Zeit? Verwenden ihre Träume Sprache? ( Vgl. Steiner Fahrni, 2007, S. 539) 4.1 Der Initialtraum (vierte Stunde): «Ich habe etwas gut gemacht und mein Bruder auch. Wir sollen dafür belohnt werden. Mein Grossonkel – er ist schon lange gestorben – sagte, er wolle uns eine Ballonfahrt spendieren. Wir fuhren aber mit dem Auto weg und er witzelte so, ob es überhaupt zu einer Ballonfahrt kommen würde. Dann merkten wir, dass der Ballon über dem Auto war und wir abhoben. Es wurde windig und stürmisch, es begann zu schneien und es wurde kalt. Plötzlich waren wir in den Bergen. Ich bekam Angst, weil wir an eine riesige Felswand donnerten. Aber es hat uns nichts gemacht. Ich hatte Angst, dass wir am Nordpol landen und erfrieren würden. Mein Bruder wollte das Steuer übernehmen. Der Onkel wollte aber selbst ‹Chef› bleiben. Ich fragte den Onkel, ob ich den Feldstecher bekommen könne. Ich bekam ihn und Journal für Psychoanalyse 52 Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung 105 wollte ihn dem Bruder weitergeben. Aber der Onkel sagte: ‹Nein, schau nur Du und sage mir einfach, was Du siehst.› Dann folgte ein Szenenriss: Ich war zuhause und hatte den Gedanken, in Sicherheit zu sein.» Kommentar der Träumerin: «Der Grossonkel war zu mir wie mein zweiter Grossvater und ich genoss bei ihm immer besondere Privilegien. Dies im Gegensatz zum Bruder, mit dem der Onkel rivalisierte. Mit dem Bruder verband mich bis zu seiner Verheiratung eine nahe Beziehung. Ihm traue ich in Sachen Navigation mehr zu als dem Onkel.» Was zeigt der Initialtraum an Mentalisierungs- und Affekt-, Selbst- und Beziehungsregulierungsprozessen? Die Träumerin positioniert ihren Onkel, ihren Bruder und sich selbst in der Traumszene in einem Personen­Dreieck. Sie ist darin eindeutig die Bevorzugte. Im Dreieck der Herkunftsfamilie (Mutter – Bruder – sie selbst) ging sie meist leer aus. Das ist der Ausgangspunkt des Traumes. Sie weiss sich träumend eine Beziehungskonstellation zu schaffen, in der sie sich privilegiert und emotional genährt fühlt. Sie und ihr Bruder sollen vom Onkel überrascht und belohnt werden. Durch spielerisches Rätseln («er witzelte so», ob Auto­ oder Ballonfahrt) wird die Spannung durch den Onkel erhöht. Das Erregende tritt ein: Sie heben ab und schweben in der Luft. Ein Affekt dazu wird nicht geäussert. Hat sich die Klientin angewöhnt, bei etwas Aufregendem die Gefühle nicht wahrzunehmen oder von diesen nicht zu sprechen? Was nun folgt, ist aber alles andere als eine Belohnung. Beim Aufkommen des Sturms und seinen Folgen «erzählt» sie von ihrer Angst, dass der Ballon seine Orientierung und die Kontrolle verlieren könnte, mit möglichen Todesfolgen. Ob ihre Angst von den andern geteilt wird, sagt der Traum nicht. Auf Grund seines Verhaltens (der Traum sagt zwar nicht welches) schreibt sie dem Bruder die Absicht zu, das Steuer selbst übernehmen zu wollen. Hofft sie dadurch, schneller aus der misslichen Lage befreit zu werden? Handelt es sich dabei um eine implizite Beziehungserfahrung mit ihrem Bruder, dank der ihre Angst jeweils reguliert wurde? Aber der Onkel will Chef bleiben. Damit schreibt sie dem Onkel mentalisierend ein bestimmtes Motiv zu. Dann wagt sie, selbst etwas gegen ihre Angst zu unternehmen: Sie verlangt den Feldstecher, bekommt ihn und will ihn weitergeben. Der Onkel aber sagt: «Nein, Du bist gemeint, Du sollst in die Ferne schauen und das Gelände erkunden!» Obwohl ihre Angst noch keine Beruhigung erfahren hat, regt der Onkel sie zur Selbstaktivität an, nämlich etwas zu erforschen und zu benennen. Dann folgt, wie die Träumerin sagt, ein Szenenriss. Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse 106 Maria Steiner Fahrni Dieser Abbruch kann vielerlei bedeuten. Bricht Frau L. ab, weil sie sich in ihrer Angst nicht wahrgenommen fühlt? Oder weil in einer hoch affektiven Situation ohne Aussicht auf Beruhigung von aussen versucht wird, ihr Explorationssystem zu aktivieren? Wenn niemand da ist, der auf das aktivierte Bindungsbedürfnis antwortet, wird bekanntlich das Erkundungssystem deaktiviert. Und tatsächlich zieht sie sich träumend in die Selbstregulation zurück: «Ich war zuhause und hatte den Gedanken, in Sicherheit zu sein». Nur im Rückzug fühlt sie sich sicher. Welche relevanten Themen lassen sich aus dem Initialtraum für den Psychotherapieprozess ableiten? 1 Weil ich aus dem Bisherigen ableite, dass Frau L. sich besser in Andere als in sich selbst hineinversetzen kann, suche ich in der Traumbearbeitung nach Möglichkeiten, das Mentalisieren über sich selbst in den Fokus zu bringen. Implizit ist aus dem Traum zu hören: «Sag mir, dass ICH wichtig bin und konzentriere dich nicht auf meinen Bruder (wie meine Mutter). Und vor allem brauche ich Beruhigung für meine starken Gefühle. Erst dann bin ich in der Lage, etwas Eigenes genauer anzuschauen und Konflikte zu untersuchen.» Zudem vermute ich, dass sie in der Übertragung viel Autonomie beanspruchen wird, denn der Szenenriss im Traum zeigt, dass der Rückzug aus der Beziehung rasch droht. Sie einzuladen, über sich zu sprechen, über das, was sie sieht, fühlt und denkt von sich und Andern, wird viel Einfühlung verlangen. Möglicherweise weist der Szenenriss darauf hin, dass es sich um eine Kontextverschiebung handelt: Wenn Mutter und Bruder in Kämpfe verwickelt waren, blieb Frau L. niemand, der sie hätte beruhigen können. Sie musste sich mit ihrer Erregung allein zurechtfinden, d. h., sie versuchte, ihre Gefühle durch Rückzug selbst zu regulieren. 2 Bevor es möglich ist, etwas in der Ferne Liegendes ( Vermiedenes, Verdräng­ tes) «durch das Fernglas» in die Nähe zu holen, wird es im Psychotherapieprozess von Frau L. darum gehen, auf ihre Affekte zu achten und in den Dialog einzubringen. Die vermiedenen Gefühle werden vermutlich erst in der Übertragungsbeziehung affektspiegelnd wahrgenommen, unterschieden und benannt werden können. Damit erfährt Frau L. allmählich ein Echo für ihr Erleben, sodass sich ihre Fähigkeit zur Selbstmentalisierung vertiefen kann. Während des ersten Jahres entwickelte sich eine gute Arbeitsbeziehung. Themen, welche die Herkunftsfamilie und die neu anvisierte Ausbildung betreffen, brachten ihr starkes Vermeidungsverhalten gegenüber alltäglichen Handlungen (z. B. Anmeldeformulare anfordern, ausfüllen, abschicken) und zeitraubende Zwänge (nur Perfektes ist gut genug) zu Tage. Darüber begann sie nachzudenken Journal für Psychoanalyse 52 Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung 107 und zu sprechen. Während eines Praktikums erlebte sie im Kontakt zu Andern, wie einschränkend ihre Wahrnehmungsabwehr ist und wie viel Kraftaufwand es sie kos­ tet, in Beziehungen im Kontakt zu bleiben, z. B. nachzufragen, um das Verhalten von Arbeitskolleginnen realitätsnäher zu interpretieren. Sie begann zu mentalisieren. 4.2 Der Pistolen-Traum (nach eineinhalb Jahren Psychotherapie) Es folgte eine längere Serie mit wiederkehrenden Träumen, in denen Frau L. verfolgt wird. Damit ihr die Verfolger nichts anhaben können, vernichtet sie sich träumend jeweils selbst, z. B. durch Erschiessen. Dies nach dem Motto: «Lieber sich selbst zerstören, als die eigene Autonomie zu verlieren.» Dieses Zerstörungsmotto wird nun im folgenden Traum weiter entwickelt. Erstens kommt diesmal die Zerstörung von aussen und zweitens wird ihrem Zerstörungswunsch (ich will, dass sie mich ganz erschiessen) von aussen nicht stattgegeben. Sie wird heil. «Ich habe von einem mir sehr bekannten Thema geträumt, nun aber mit einem ganz anderen Ausgang. Wir sind in einem fensterlosen dunklen Raum. Meine Mutter muss mich auf Geheiss von dämonartigen Leuten mit einer Pistole umbrin­ gen. Sie weigert sich und ich wiederhole: ‹Ich will nicht sterben.› Doch die Leute setzen die Mutter unter Druck und sie schiesst mir mit der Pistole in den Mund. Ich spüre, wie das Blut läuft. Ich falle auf den Rücken, bin aber nicht tot. Ich will die andern auf mich und meinen Zustand aufmerksam machen, aber niemand nimmt mich wahr. Weil ich Angst habe, ein Krüppel zu bleiben, will ich, dass sie mich ganz erschiessen. Man lässt mich aber dort liegen im Wissen, dass es dann schon wieder gut wird. Zu meinem grossen Erstaunen heilt meine Wunde hinten im Hals und ich bin am Schluss dankbar, dass sie mich liegen liessen. So musste ich durch das Ganze hindurchgehen.» Kommentar der Träumerin: «Ich war im freien Fall als ich spürte, dass ich das Erst­Studium nicht beenden konnte. Ich hatte keine Ahnung, ob es je mit mir wei­ tergehen könnte. Ich war zu gar nichts mehr fähig und hatte Suizidgedanken. Nun habe ich wieder einen Weg, ein Ziel vor Augen, auch wenn ich nun nicht das mache, was ich ursprünglich wollte. Die Verletzung ist am Heilen. Vor dem Studienabbruch habe ich nur noch geleistet und meine Gefühlsseite total abgewürgt. Jetzt bin ich in einem Heilungsprozess, bei dem ich die unterdrückten Gefühle in einem gewissen Rahmen zulassen kann und zeigen will.» Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse 108 Maria Steiner Fahrni Was zeigt der Pistolen-Traum an Mentalisierungs- und Affekt-, Selbst- und Beziehungsregulierungsprozessen? Am Anfang und Schluss der Traumerzählung schwingt über den neuen Ausgang ihres wiederkehrenden Traums implizit und explizit ein grosses Erstaunen über ihre Heilung mit – ebenso ihre Dankbarkeit, dass sie durch diesen Prozess gehen konnte. Obwohl sie sich im jüngsten Verfolgungstraum in der destruktiven Situation erstmals nicht allein mit den Verfolgern, sondern zusammen mit der Mutter befin­ det, bekommt sie auf ihre drängende Bitte (ich will nicht sterben) von der Mutter keine Unterstützung. Trotzdem ist sie in dieser bedrängenden Situation noch in der Lage, zu mentalisieren, was in ihrer Mutter vorgeht: Die Mutter wird unter Druck gesetzt. Noch gibt es kein direktes Verhandeln zwischen dieser und den Verfolgern. Das würde voraussetzen, dass Frau L. eine Vorstellung hat von den Motiven der Verfolger, und dass sie sich ihrer eigenen Überzeugungskraft sicher ist (d. h. eine psychische Repräsentation davon hat). Im Traum führt die Mutter die entsetzliche Handlung aus. Sie selber fällt zu Boden und spürt, dass sie nicht tot ist. Sie will die andern auf sich aufmerksam machen, aber niemand nimmt sie wahr. D.h., niemand ist da, der die Fähigkeit der Mentalisierung besessen und sich auf ihren subjektiven mentalen Zustand hätte einstellen können. Wenn da jemand gewesen wäre, hätte sie sich im Geiste dieses Anderen wiederfinden und dessen Repräsentanz verinnerlichen können. So aber dominieren ihre heftigen Affekte: ihre Angst, ein Krüppel zu bleiben und ihre Hoffnung, vom Leiden erlöst zu werden. Dieser Traum illustriert drastisch Frau L.s Beziehungserfahrung mit der Mutter. Wenn die Mutter unter Druck steht, gibt es keinen Schutz und kein gegen­ seitiges Abstimmen. Gleichzeitig öffnet sich eine neue Perspektive: sich Zeit zu nehmen, um durch Gefühle hindurchzugehen und heil zu werden. Anstatt sich in eine Phantasiewelt zu flüchten, kann sie einen Traum träumen, in dem sie sehr schwierige Gefühle zulässt und durchlebt. Ich sagte Frau L., dass sie in diesem Traum zwei sehr wichtige Erfahrungen machen konnte. Zum einen habe sie deutlich gespürt, dass sie leben wolle; zum andern sei sie fähig geworden, zwei sehr unterschiedliche Körperzustände wahr ­ zunehmen: wie es sich träumend anfühle, dem Tod nah zu sein und wie es sich anfühle, heil zu werden. Mit meiner Intervention verknüpfe ich also senso­motori­ sche Erfahrungen mit Bild­ und Wortvorstellungen und begleite damit die bildhafte wie wortsprachliche Repräsentanzenbildung der durchlebten Polarität. In der darauffolgenden Stunde erzählte sie erstmals von ihren heftigen Wutausbrüchen während ihrer Adoleszenz. Sie beschreibt, wie der Vater sich dar ­ Journal für Psychoanalyse 52 Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung 109 über und auch über ihre Tränen lustig machte und dass beide Eltern sie in einer solchen Situation immer nur auf die Vernunft ansprachen. Hat Frau L. verinner ­ licht, dass heftige Gefühle zu äussern bedeutet, Resonanz zu bekommen, die sie beschämt und dass es deshalb besser ist, Gefühle zu vermeiden? Im Anschluss an diesen Traum konnte Frau L. Erinnerungsbilder mit den dazugehörigen Affekten verknüpfen und in die entsprechende kognitive Struktur einbinden. 3 Und wir begannen zu verstehen, welche Erlebnisse zur Aufspaltung «Anpassung an die Umwelt» gegenüber «aggressiver Selbstzerstörung» geführt haben könnten. Die Serie mit den Verfolgungsträumen fand damit ein Ende. Auswirkungen des Pistolen-Traums auf den psychotherapeutischen Prozess Während einer gewissen Zeit verliefen unsere Sitzungen nach ähnlichem Muster: Frau L. sprach über ein Thema, wie z. B. Arbeitsüberlastung oder ihre Bedenken, für eine Prüfung zuwenig gelernt zu haben. Meist erzählte sie erst ein paar Minuten vor Schluss von gefühlsintensiven Begegnungen, wie z. B. von einem heftigen Streit in der Familie oder von einer Auseinandersetzung mit einer Studienkollegin, von Erlebnissen also, die sie stark beschäftigten. Es blieb aber dann jeweils nicht mehr genügend Zeit, vertieft darauf einzugehen. Mit dieser Inszenierung zeigte mir Frau L., wie sie bisher in ihren Beziehungen versuchte, Distanz zu halten und dennoch eigene affektive Erfahrungen einzubrin­ gen: Sie hält die Therapeutin mit emotional wenig brisanten Themen auf Distanz und bringt gefühlsmässig Wichtiges am Schluss. So verkleinert sie das Risiko, früher erlebte Fehlabstimmungen wieder erleiden zu müssen. Als Therapeutin erkannte ich darin eine Übertragungsinszenierung, die es Frau L. erlaubte, mir die Begrenzung des therapeutischen Wirkens zuzumuten. Ich sagte ihr, dass sie sich mit dieser Art des Stundenverlaufs schütze und den Kontakt zu mir reguliere, was für sie vermutlich vorläufig sicherer sei, als während der ganzen Sitzung ihre Gefühle zu erforschen, zu benennen, zu verstehen und neue Wege im Umgang damit zu finden. Mit dieser mentalen Zuschreibung interpretierte ich ihr Verhalten in anerkennender Weise. Meine Deutung kommentierte Frau L. so: «Wegen des Mechanismus’ zwischen meiner Mutter und meinem Bruder bin ich vom Kontakt zur Mutter weitgehend ausgeschlossen worden. Mein Bruder konnte x­mal über das Gleiche klagen und wurde immer angehört. Bei mir hiess es nach dem zweiten Mal: Das hast Du schon erzählt. Ich habe dann nichts mehr gesagt und mich gefragt, wie ich das, was ich sagen möchte, vermeiden könne. Ich musste jahrelang lernen, nichts zu erzählen und jetzt muss ich die­ Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse 110 Maria Steiner Fahrni sen Automatismus wieder löschen und neu lernen, das, was ich wegschiebe, nun wirklich zu erzählen.» Damit formulierte Frau L. eindrücklich auch das Implizite ihres Mentali­ sierungsprozesses. Sie erkannte, wie ihr Vermeidungsverhalten in der Kindheit entstanden war und wie es bis heute ihre Beziehungen beeinträchtigte. In ihrer neu begonnen Ausbildung hatte sich Frau L. bisher mit Studien­ kollegen kaum ausgetauscht. Dies hat sich inzwischen geändert. Sie wagt, sich in der Klasse auch mit freudigen und ärgerlichen Gefühlen zu zeigen. Sie berichtet, wie ihre Mitstudentinnen sie vor einem Jahr nur als «kognitive Maschine» gesehen haben und wie sie von ihnen heute als «emotionales Wesen» wahrgenommen wird. Nachdem Frau L. in der Psychotherapie schon viel darüber gesprochen hatte, wie sie Andere sieht, begann sie nun darüber nachzudenken und nachzuspüren, wie Andere sie sehen. Sie ist erstaunt über die direkte, positive Wechselwirkung. Geht sie offener auf Andere zu, kommen diese auch auf sie zu. Gleichzeitig begann Frau L., sich klar von der Herkunftsfamilie abzugrenzen. Ihr Nein kommt besonders bei ihrer Mutter nicht gut an: ihre verfrühte Abreise aus den Ferien mit den Eltern und der Familie des Bruders quittiert die Mutter mit: «Am Schluss zerstörst Du alles!» Frau L. realisiert, dass ihre Mutter weder wahrnimmt, was in ihr vorgeht noch versteht, was sie sagt. 4.3 Der zurückgehaltene Traum (nach zweieinhalb Jahren Psychotherapie) An Folgendem illustriere ich, wie sich zeitgleich zwischen uns die Übertragung Dank eines zurückgehaltenen Traumes verdichtete. Während einer Sitzung hatte Frau L. über zwei widerstreitende Gefühle ­ Abgrenzung von und Mitgefühl für andere ­ gesprochen. Gegen Ende dieser Stunde bemerkte ich zu ihr, dass sie schon länger keinen Traum mehr erzählt habe. Frau L. antwortete, dass sie schon vor einigen Wochen einen gehabt hätte und sich aber Stunde für Stunde gefragt habe, ob sie ihn erzählen solle. Sie träumte diesen belastenden Traum während den bereits erwähnten Ferien mit den Eltern und dem Bruder und dessen Familie. Nun möchte sie ihn (acht Sitzungen später) erzählen: «Im Traum sehe ich, wie die Eltern zusammen Geschlechtsverkehr haben und es anschliessend zu einem inzestuösen Akt zwischen Mutter und Bruder kommt. Ich war im Traum vom Geschehen so angewidert, dass ich im Traum erbrach, dann erwachte und auch in Realität erbrechen musste.» Kommentar der Träumerin: «Die Eltern und der Bruder haben ein Arrange­ ment getroffen, welches ich weder sehen noch teilen will. Ich finde es nur eklig. Alles ist mir zu nah. Ich hatte das Gefühl, wenn die Eltern zusammen schlafen, Journal für Psychoanalyse 52 Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung 111 geht uns das nichts an. Ich dachte, der Bruder und ich denken darüber ähnlich. Nachher musste ich aber einsehen, dass er da anders empfindet. Er ist auf die Mutter zugegangen und schlief mit ihr. Der Vater war während dieser Phase nicht mehr sichtbar. Ich erlebe, wie Vater, Mutter und Bruder untereinander verbunden sind und erwarteten, dass ich da mitspiele. Das will ich aber nicht.» Was zeigt der zurückgehaltene Traum an Mentalisierungs- und Affekt-, Selbst- und Beziehungsregulierungsprozessen? Es ist ein Traum auf dem Grat zwischen Körper und Psyche. Die Affekt­ spannung wird durch das physische Erbrechen reguliert, d. h., auf einer basalen, körperlichen Ebene. Eine Beziehungsregulierung findet im Traum nur unter den andern Figuren, nicht aber mit ihr statt. Die Traumgestalten wollen sie zwar in ihr Tun einbeziehen, dieses entspricht jedoch im geträumten Kontext in keiner Weise ihren Bedürfnissen. Sogar ihre einstige Überzeugung, gleich wie ihr Bruder zu denken, erweist sich jetzt als Täuschung. In der frühen Beziehung zwischen Frau L. und ihrer Mutter muss es viele Fehlabstimmungen gegeben haben. Deshalb folge ich Hamburgers 4 Neuformu­ lierungen und werde mich nicht auf den inzestuösen Inhalt des Traumes, son­ dern auf formale Aspekte im Umgang mit diesem konzentrieren. Dieser Umgang ereignete sich in Wechselwirkung zwischen der Träumerin und mir in selbst­ und beziehungsregulierender Weise. Auf meine Frage, was Frau L. nun ermöglicht habe, mir den Traum zu erzählen, sagte sie: «Ich wollte ihn heute unbedingt erzählen. Ich habe immer gerne Träume erzählt, aber diesen hätte ich am liebsten ‹ausgewetzt›. Als Sie mich fragten, wusste ich, das ist jetzt die Chance. Es war für mich befreiend.» Konnte Frau L. durch meine Frage nach den ausbleibenden Träumen erleben, dass «my mind her mind in mind» hatte? Und kam ihr entgegen, dass mir der Gedanke an ihre ausbleibenden Träume erst kurz vor dem Sitzungsende gekommen war und ich damit ihr Stundenverlaufsmuster übernommen hatte? Im Initialtraum zog sie sich nach der Ermunterung des Onkels, Entferntes zu erforschen, mit dem Szenenriss träumend aus der Beziehung zurück. Jetzt hielt sie es bereits die letzten fünfzehn Minuten aus, mir über ihr affektintensives inneres Erleben zu berichten. 5 Ekel gehört ab Lebensbeginn zu den primären Gefühlen, die meist mit Grenzverletzungen wie Überfütterung oder Nichtbeachten von selbstregulierenden Bedürfnissen des Säuglings zusammenhängen (Reinert, 2010, S. 217). Der Affekt bleibt jedoch im Gedächtnis erhalten und muss sich, wie Moser und von Zeppelin (1996) formulieren, in einer «Beziehungsrealität», d. h., in der Übertragung wieder konstellieren, damit die ungebundene Affektivität in gebundene zurückverwandelt Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse 112 Maria Steiner Fahrni werden kann (S. 30). Frau L. erlebt den Ekel im und direkt nach dem Erwachen aus dem Traum als heftigsten Affekt. Dann schiebt sie den Traum weg, hält ihn auch vor mir zurück, und erst durch meine Intervention «my mind has your mind in mind» (implizite Beziehungsebene) fasst sie genug Vertrauen, um den Traum explizit «herauszubringen» (das Schweigen zu (er)brechen). Auswirkungen auf den Psychotherapieprozess Frau L. begann die nächste Stunde in spielerischer Selbstironie mit der Bemerkung, dass sie letztes Mal wieder ihr «klassisches Prinzip» angewendet habe: das Wichtigste erst am Schluss zu erzählen. Sie wusste, dass der Traum wichtig war. Dieser löste aber in ihr derart unangenehme Gefühle aus, dass sie es immer wieder vermieden habe, ihn zu erzählen. Mit diesem Stundenbeginn zeigte die Träumerin, dass es ihr gelang, ihr altes Stundenverlaufsmuster nicht nur zu erkennen, sondern auch mit Humor und Ironie zu färben. Dies signalisierte ihre neu gewonnene Bereit schaft, diese formale Abwehr zu lockern, starke negative Gefühle nicht mehr zu vermeiden, sondern sie am Ende der Stunde dank der erlebten Einbindung in unsere Beziehung zuzulassen. Frau L. fuhr fort: «Mit Fragen decken Sie bei mir immer etwas auf, was ich lieber unter der Decke halten und worüber ich lieber nicht reden würde.» Auch mit dieser Aussage erkannte und reflektierte sie ihre Abwehr. Um von Fragen nicht überrascht zu werden, habe sie sich alle möglichen Fragen, die ich fragen könnte, im Voraus vorgestellt. Da im Traum der Geschlechtsverkehr thematisiert sei und sie damit keine Erfahrung habe, sei sie nicht sicher gewesen, ob nicht doch Fragen kommen würden, auf die sie keine Antwort wüsste. Damit fand die Klientin Worte für ihre Vorstellung, wie meine Fragen bei der Traumbearbeitung aussehen und welche Gefühle ihre Unfähigkeit, auf unerwartete Fragen zu antworten, bei ihr und mir auslösen könnten. Sie lenkte also ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf sich, sondern auch auf mich und unseren gemeinsamen Beziehungsprozess: sie mentalisierte. 5 Schlussfolgerungen Mentalisieren bedeutet, die eigenen psychischen Zustände und die von Anderen wahrzunehmen, zu verstehen und zu benennen. Diese Fähigkeit entwi­ ckelt sich während früher Bindungs­ und Objektbeziehungen. Zu erleben, dass das Verhalten des Anderen «mit dem eigenen Verhalten abgestimmt ist, stellt die elementarste Schicht impliziter Bezogenheit dar.» (Beebe und Lachmann, 2004, S. 232). In Träumen von Erwachsenen tauchen immer wieder Bilder aus diesem Journal für Psychoanalyse 52 Mentalisierungsprozesse in Träumen und in der Traumbearbeitung 113 frühen Bindungsgeschehen auf, weshalb sich Träume besonders gut dazu eignen, um im Psychotherapieprozess vom Impliziten zum Expliziten zu kommen, bei­ spielsweise vom Abreagieren körperlich erlebter Affektspannung zum reflektierten Sprechen über unterschiedliche Gefühlsregungen. Im klinischen Teil wurde anhand von drei Träumen untersucht, ob mani­ feste Träume Hinweise auf die Affekt­, Selbst­ und Beziehungsregulierung geben und ob diese Aufschlüsse über eine fortschreitende Mentalisierung der Träumerin liefern können. Im «Initialtraum» wurde erkennbar, dass die Träumerin in einer Angst auslö­ senden Situation keine Affektberuhigung mit einem ihr nahe stehenden Menschen erlebte. Das heisst, der Initialtraum gab uns den Hinweis, dass ihr Versuch geschei­ tert war, sich mit ihren starken Affekten im Schutze einer empathischen Beziehung selbst zu regulieren,. Dies war wegweisender Indikator für die Einschätzung der Mentalisierungsweise der Klientin. Im folgenden Psychotherapieteil wurde die Bedeutung des Initialtraumes immer deutlicher: Selbstregulation ist nicht gleich Selbstregulation. Frau L. hatte in der frühen Mutter ­Kind­Beziehung nicht deshalb gelitten, weil niemand da war, sondern weil niemand sie verstand. Das erlebte sie als Beziehungsabbruch, den sie im Rückzug «zu regulieren» versuchte. Dass dieser Rückzug zur Vereinsamung führte lag daran, dass Ihre Selbstregulation nicht in einer wechselseitig sich abstim­ menden Beziehung gewachsen war. Im «Pistolentraum» wiederholte sich ihre Thematik viel extremer. Es gibt keine Beziehungsregulierung, weder mit der Mutter noch mit der Aussenwelt. Und doch ist in diesem Traum am Beziehungsgeschehen etwas neu. Das Zerstörerische kommt von aussen. Gleichzeitig wird der Träumerin vermittelt, «dass es dann schon wieder gut werde». Dies ist eine Antwort auf die Frage nach der sich weiter entwickelnden Mentalisierung der Träumerin. So wie Frau L. die fortschreitende Psychotherapie als unterstützenden Prozess im gemeinsamen Wahrnehmen und Benennen erlebte, so konnte sie sich nun träumend Zeit lassen, Körperzustände wahrzunehmen und zu differenzieren. Sie schob ihre Gefühle nicht mehr weg, son­ dern war bereit, diese zu durchleben und «neues Leben» in sich zu spüren. «From living in the body to living in body and mind» wurde hier träumend vollzogen. Auch im Umgang mit dem «zurückgehaltenen Traum» spielt die Dimension Zeit und vor allem die neue, in der therapeutischen Beziehung gewachsene Selbst regulation eine wichtige Rolle: Zunächst schützte sich die Klientin selbst­ regulierend, indem sie den belastenden Traum zurückhielt und noch nicht in die Beziehung brachte. Erst als sie wahrnahm, dass ich mich für ihre Träume interes­ Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse 114 Maria Steiner Fahrni siere, wagte sie den Beziehungsaustausch. Dieser verhalf ihr schliesslich zu einer weiteren fruchtbaren Mentalisierung, indem ein frei flottierender Affekt (Ekel) zusammen mit mir kognitiv eingebunden, verstanden und benannt werden konnte. Diese Fallgeschichte zeigt, dass Träume wertvolle Indikatoren sein kön­ nen für kontextbezogenes Reflektieren über sich selbst, über andere und über das wechselseitige Bezogensein. Eine sich entwickelnde Mentalisierung braucht offenbar eine im Beziehungskontext gewachsene Selbstregulation. Diese wiederum kann sich nur entwickeln, wenn Hilfesuchende auf ihre Ängste, Bedürfnisse und Wünsche ein Echo finden und auf dem Hintergrund einer «sicheren Bindung» mit einem «wesentlichen Anderen» erleben, wie sich ihre reflexive Kompetenz durch diese Wechselseitigkeit vertieft. 6 Literatur Allen, Jon G. und Peter Fonagy, Hrsg. 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Drittens ist im analytischen Prozess nicht nur der Trauminhalt anzusprechen, son­ dern auch die durch diesen Traum ausgelöste Erfahrung, sowohl beim Klienten wie beim Therapeuten. 2 Beebe & Lachmann (2004) betonen, dass chronisch fehlabgestimmte interaktive Regulierung zu vorzeitigen drastischen Selbstregulierungen führen kann. (S. 61) 3 Moser und von Zeppelin (1996, S. 29) diskutieren, wie traumatische und konflikthafte Erlebnisse im Gedächtnis ihren Niederschlag finden und wie sie sich auf aktuelles Verhalten, Denken und Fühlen auswirken können. Sie nehmen an, dass die erlebten Affekte nicht in die dazu gehörende kognitive Struktur eingebunden werden, sondern unabhängig davon im Gedächtnis erhalten bleiben. 4 Hamburger (1998) nimmt Bezug auf die Säuglings­ und Kinderbeobachtung, welche grundlegende Annahmen der Psychoanalyse erschüttert habe. Er schreibt: «Der Triebbegriff musste einem Selbstregulationsmodell weichen, der Ödipuskomplex erscheint als Sexualisierung einer unempathischen Mutter ­Kind­Interaktion» (S. 245). 5 Aus einer lesenswerten Studie über Bindung und Träume von Mikulincer et al. (in press) resultiert, dass in Träumen von Erwachsenen mit vermeidender Bindung signifikant mehr distanzierende, vermeidende Wünsche und negative Repräsentanzen von andern Traumfiguren vorkommen. Mentalisierungskonzept und Psychoanalyse