Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 60, Schwerpunktthema Perversionen – Zur Theorie und Behandlungstechnik
Ralf Binswanger
Buchbesprechung
Buchbesprechungen Jahrbuch der Psychoanalyse, Heft 60, Schwerpunktthema Perversionen – Zur Theorie und Behandlungstechnik ( frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstadt 2010) Ralf Binswanger (Zürich) Nach einer einleitenden Notiz von Susanne Kitlitschko zum Beitrag des 2000 verstorbenen Londoner Psychoanalytikers Mervin Glasser folgen fünf weitere Arbeiten von deutschsprachigen – ausschliesslich männlichen – Autoren. Der Rubrik Freud als Briefschreiber von Gerhard Fichtner zu einem Brief an Heinrich Gomperz aus dem Jahre 1913 folgt eine kurze Würdigung von Paul Parin als Beirat dieser seit 1960 erscheinenden Zeitschrift. Eine auch nur annähernd einheitliche und konsensfähige inhaltliche Defini tion von Perversion gibt es nicht, schreibt Friedemann Pfäfflin im Beitrag Diverse Perversionskonstrukte (81–100). Sein über 2000 Jahre umfassender historischer Rückblick zeigt, wie unterschiedlich der Perversionsbegriff konstruiert und dekon- struiert wurde und wird, immer unter dem Diktat moralischer Vorannahmen. Ein Beispiel: Gemessen an Idealen der « Sinnerfüllung des liebenden Inder Welt Seins», der «normgerechten Liebeswirklichkeit» (...) stellten – in anthropologisch- daseinsanalytischen Konstrukten – Perversionen nur defiziente Ausdrucksformen, existenzielle Verstümmelungen und Kümmerformen von Sexualität und Liebe dar (84). Als Eigene Präferenz bezeichnet der Autor Selbstpsychologen wie Arnold Goldberg, weil bei diesen der Gesichtspunkt der Behandlung im partnerschaftli- chen Zweipersonenfeld im Mittelpunkt steht und nicht komplexe metapsychologi- sche Konstrukte ödipaler Provenienz. Deshalb steht er auch Mervin Glasser kritisch gegenüber, dessen Beitrag ursprünglich den Anstoss für den Themenschwerpunkt gegeben hatte (94). © 2020, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz ( CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jf p.52 .14 Buchbesprechungen 168 Ralf Binswanger Konkretisiert wird das Postulat, den Gesichtspunkt der Behandlung in den Mittelpunkt zu stellen, zunächst von Bernd Nissen: Zur nichtobjektalen, autistoi den Perversion (55–79). Sein Fallbeispiel behandelt eine ca. 40 Jahre alte Patientin, deren Perversion einige Monate vor Behandlungsbeginn manifest wurde: Kot löst heftige sexuelle Erregung aus, er wird gegessen, sie schmiert sich am ganzen Körper mit Kot und Urin ein (62). Die Darstellung des Behandlungsprozesses ist packend und berührend. Sie ist mehr als eine Illustration der metapsychologischen Herleitungen des Autors, der objektale und nichtobjektale Formen der Perversion einander gegen- überstellt, denn sie erlaubt es auch, andere theoretische Hypothesen zu bilden. Auch bei Reimut Reiche: Ein HybridNazi in Analyse (151–172) steht die authentische Darstellung einer Analyse mit vier Wochenstunden im Zentrum. Der Mann bezeichnete sich als Uniform-Fetischist, was sich als sexuelles Verhaftet- und Angewiesensein auf genau definierte Gesten und Grussformeln und textile Accessoires und Logos aus der Nazi-Skinhead-Szene entpuppte. Entpuppte cha- rakterisiert nicht nur den Behandlungsverlauf, in dem der Analytiker nur ganz allmählich erfährt, was Herr Müller «eigentlich macht», sondern bezeichnet auch eines der fünf Kriterien, unter denen Reiche an einem Einheitsbegriff der Per ver- sion festzuhalten sucht: Perversionen sind strukturell aufgebaut wie russische Puppen-in-der-Puppe. 1 Bei Herrn Müller äusserte sich dieses Kriterium im Verlauf der Analyse u. a. darin, dass die pervers-sexuelle Form auf das übrige Leben über - zugreifen drohte (160): Er wollte als «echter» Nazi-Skin auf der Strasse Anerkennung finden, obschon er zugleich kein echter war. Die Stärke von Mervin Glasser: Zur Rolle der Aggression in den Perversionen (19–53) liegt zunächst in seiner klinischen Erfahrung, zuerst in einer kommunalen Behandlungsstätte für benachteiligte Jugendliche bei Moses Laufer und später an der Portman Clinic in London, die sich unter seiner Leitung (bis 1994) zu einem interdisziplinären Zentrum für die analytische Behandlung und Erforschung von Perversionen, Gewalt und Delinquenz entwickelte (14). So kann er seine meta- psychologischen Auffassungen mit mehreren Behandlungsvignetten illustrieren. Ferner definiert er seine Auffassung von Aggression und Sadismus, welche – ähnlich wie bei Stoller – bei der Entstehung von Perversionen eine zentrale Rolle spielen, in wohltuender Klarheit. Als Kernkomplex der Perversion bezeichnet er einen Zirkel von charakteristischen Wünschen nach einer wirklich intimen Beziehung und gleichzeitigen panischen Ängsten davor, die zur sadomasochistischen Kontrolle und Distanzierung des Objektes zwingen. Auch Heinz Weiss: Perverse Verknüpfungen: Realitätsbezug und argumenta tive Struktur (101–121) illustriert seine objektbeziehungstheoretischen Ableitungen Journal für Psychoanalyse 52 Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 60, Schwerpunktthema Perversionen 169 mit dem klinischen Beispiel einer 55-jährigen Sozialpädagogin nach Trennung einer Ehe, die durch jahrelange Demütigungen gekennzeichnet war (112–116). Sie stellte eine Beziehung zeitloser Romantik zwischen sich und dem Analytiker her. Zeitlosigkeit und das Nicht-Anerkennen von «Grundtatsachen» des Lebens (Money-Kyrle 1971) 2 werden mit kunstvollen Argumenten aufrechterhalten. Im Zentrum dieser Arbeit steht weniger das manifeste Sexualverhalten, sondern per - verse modi in Objektbeziehungen und die schöne Herleitung einer Borderline- Position aus Freud-Texten. Udo Hock: Der perverse Vater (123–150) startet mit der Entdeckung, dass Passagen der Freudschen Fliessbriefe, die Erfahrungen hysterischer Patienten mit ihren perversen Vätern wiedergeben, in der ersten Ausgabe von 1950 weg- gelassen wurden. Der Autor ist bestrebt, diese Dimension für eine am Primat des Anderen (Laplanche) ausgerichtete Theorie der Perversion wiederzugewinnen. Primat des Anderen meint, dass das Unbewusste exogen und je individuell in der Auseinandersetzung mit dem Anderen gebildet wird (126). 3 Zusammengefasst: Im Symptom persistiert ein perverser Lustexzess, Lacans jouissance, die aus der Begegnung mit dem sexuellen Anderen und dessen Einbruch in den sich gerade kon stituierenden psychischen Apparat des Kindes hervorgeht. Dieser perverse Lust exzess hat eine Symptomfixierung zur Folge, die den rätselhaften primären Krankheitsgewinn ausmacht (148). Das Fehlen einer konsensfähigen Definition und die Tatsache, dass Perver - sionskonstrukte auch bei psychoanalytischen AutorInnen ein Terrain sind, in dem sich leicht moralische Voreingenommenheit einschleicht, erschwert eine Orientierung. Daran ändert nichts, dass Morgenthalers Plombentheorie von ver - schiedenen Autoren zustimmend zitiert wird. Sie deckt ja nur einen Ausschnitt im Spektrum möglicher Perversionsbegriffe ab, bei denen die Kompensation einer bestimmten Pathologie im Zentrum steht. Das steht im Gegensatz zu sei- nem Diktum, wonach Sexualität, in welcher Form sie sich auch zeigt, niemals eine Neurose, eine Psychose, eine Morbidität sein kann (86). Er illustriert das mit einem Abschnitt einer Analyse von Samuel, einem Fetischisten, bei dem es keinen Moment darum ging, an dieser sexuellen Orientierung etwas zu ändern, den gelben Stiefel beispielsweise durch einen homo oder heterosexuellen Partner zu ersetzen (164). Er spricht dabei von einem «Brückenpfeiler», der etwas Gesundem dient: Die primärprozesshaften Triebregungen erhalten dadurch einen dauernden Zugang zum Erleben. Die Diktatur der Sexualität erhält gleichsam einen Nationalpark, was es solchen Menschen erlaubt, in nichtsexuellen Bereichen eine Vitalität und Direktheit zu entwickeln, auf die AnalytikerInnen leicht mit einer Abwehr reagieren Buchbesprechungen 170 Ralf Binswanger und die Tendenz haben, sie zu pathologisieren. Morgenthaler stellt die perverse Liebesfähigkeit auf eine Ebene mit der heterosexuellen und homosexuellen. Solche Bezüge fehlen bei allen Autoren vollkommen, obschon z. B. Nissen eine Beziehung zu seiner koprophilen Patientin darstellt, die äusserst lebendig begann. Wir hatten einen ähnlichen Humor, konnten uns für die gleichen Dinge begeistern – das spürte die Patientin genau (64). Was Nissen in der Beschreibung der koprophilen Symptomatik autistoid nennt, könnte auch als «Nationalpark für die Diktatur der Sexualität» verstanden werden. Wenn sie dann schwer sui- zidal wurde, nachdem sie den «Nationalpark» überraschend schnell aufgegeben hatte, könnte das einem unerträglichen Verlust dieser Vitalität in allen anderen Lebensbereichen geschuldet sein. Andererseits krankt Reiches Einheitsbegriff der Perversion daran, dass eine gewöhnliche Pädophilie nicht unter die fünf Kriterien subsumiert werden kann. Verallgemeinert man die beiden total unterschiedlichen Herangehensweisen Morgenthalers, so kann das ganze Gebiet der Perversionskonstrukte als wider - sprüchliche Einheit aufgefasst werden. So kommt man zu dem mir am ehesten als zweckmässig erscheinenden Umgang mit dem Perversionsbegriff. Konzeptionell ersetzt er einen Teil von Freuds sexuellen Abirrungen durch sexuelle Orientierung, auf der gleichen Ebene wie Heterosexualität und Homosexualität. Von den ver - schiedenen Funktionen, die sexuelles Erleben, Fantasieren und Verhalten haben kann, hat dabei die Triebbefriedigung das Primat über eine Vielzahl von anderen Funktionen, Motivationen und Konfliktlösungsmustern. Von einer Perversion wäre dann zu sprechen, wenn sich die Triebbefriedigung anderen Funktionen unterordnet, z. B. der Plombenfunktion, der Abfuhr von Aggression, Besitz- und Herrschaftsansprüchen, der Weitergabe erlittener Traumatisierungen, dem Inzestwunsch, der Inszenierung verdrängter ödipaler Konflikte oder dem Ausagieren verhinderter Trauerarbeit. Von hier aus erhält auch die Rede von per - versen modi der Konfliktverarbeitung, von perversen Objektbeziehungen oder perversen Familienstrukturen einen klareren Sinn, 4 und die lesenswerten Beiträge des besprochenen Bandes liessen sich so besser einordnen. Anmerkungen 1 Reiche, R. (1996 [2007]): Psychoanalytische Therapie sexueller Störungen. In: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung , Hrsg. von V. Sigusch, Stuttgart: Thieme 4. Auflage, 277 f. (Falsche Seitenzahlen im Jahrbuch). 2 The aim of psychoanalysis. In: The Collected Papers of Roger MoneyKyrle, Pertshire: Clunie Press [1995], 442–449. Journal für Psychoanalyse 52 Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 60, Schwerpunktthema Perversionen 171 3 Daraus abzuleiten, das Unbewusste zeichne in seinem Kern weder eine biologische (...) noch überindividuelle Strukturen aus, halte ich für eine unzulässige Ausweitung eines an sich richtigen Gesichtspunktes. 4 S. dazu Binswanger, R. (2011): «Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion» – die bekannte Formel neu interpretiert. In: Psyche Z Psychoanal, Heft 8/2011 (im Druck). Buchbesprechungen
Buchbesprechungen Jahrbuch der Psychoanalyse, Heft 60, Schwerpunktthema Perversionen – Zur Theorie und Behandlungstechnik ( frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstadt 2010) Ralf Binswanger (Zürich) Nach einer einleitenden Notiz von Susanne Kitlitschko zum Beitrag des 2000 verstorbenen Londoner Psychoanalytikers Mervin Glasser folgen fünf weitere Arbeiten von deutschsprachigen – ausschliesslich männlichen – Autoren. Der Rubrik Freud als Briefschreiber von Gerhard Fichtner zu einem Brief an Heinrich Gomperz aus dem Jahre 1913 folgt eine kurze Würdigung von Paul Parin als Beirat dieser seit 1960 erscheinenden Zeitschrift. Eine auch nur annähernd einheitliche und konsensfähige inhaltliche Defini tion von Perversion gibt es nicht, schreibt Friedemann Pfäfflin im Beitrag Diverse Perversionskonstrukte (81–100). Sein über 2000 Jahre umfassender historischer Rückblick zeigt, wie unterschiedlich der Perversionsbegriff konstruiert und dekon- struiert wurde und wird, immer unter dem Diktat moralischer Vorannahmen. Ein Beispiel: Gemessen an Idealen der « Sinnerfüllung des liebenden Inder Welt Seins», der «normgerechten Liebeswirklichkeit» (...) stellten – in anthropologisch- daseinsanalytischen Konstrukten – Perversionen nur defiziente Ausdrucksformen, existenzielle Verstümmelungen und Kümmerformen von Sexualität und Liebe dar (84). Als Eigene Präferenz bezeichnet der Autor Selbstpsychologen wie Arnold Goldberg, weil bei diesen der Gesichtspunkt der Behandlung im partnerschaftli- chen Zweipersonenfeld im Mittelpunkt steht und nicht komplexe metapsychologi- sche Konstrukte ödipaler Provenienz. Deshalb steht er auch Mervin Glasser kritisch gegenüber, dessen Beitrag ursprünglich den Anstoss für den Themenschwerpunkt gegeben hatte (94). © 2020, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz ( CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jf p.52 .14 Buchbesprechungen 168 Ralf Binswanger Konkretisiert wird das Postulat, den Gesichtspunkt der Behandlung in den Mittelpunkt zu stellen, zunächst von Bernd Nissen: Zur nichtobjektalen, autistoi den Perversion (55–79). Sein Fallbeispiel behandelt eine ca. 40 Jahre alte Patientin, deren Perversion einige Monate vor Behandlungsbeginn manifest wurde: Kot löst heftige sexuelle Erregung aus, er wird gegessen, sie schmiert sich am ganzen Körper mit Kot und Urin ein (62). Die Darstellung des Behandlungsprozesses ist packend und berührend. Sie ist mehr als eine Illustration der metapsychologischen Herleitungen des Autors, der objektale und nichtobjektale Formen der Perversion einander gegen- überstellt, denn sie erlaubt es auch, andere theoretische Hypothesen zu bilden. Auch bei Reimut Reiche: Ein HybridNazi in Analyse (151–172) steht die authentische Darstellung einer Analyse mit vier Wochenstunden im Zentrum. Der Mann bezeichnete sich als Uniform-Fetischist, was sich als sexuelles Verhaftet- und Angewiesensein auf genau definierte Gesten und Grussformeln und textile Accessoires und Logos aus der Nazi-Skinhead-Szene entpuppte. Entpuppte cha- rakterisiert nicht nur den Behandlungsverlauf, in dem der Analytiker nur ganz allmählich erfährt, was Herr Müller «eigentlich macht», sondern bezeichnet auch eines der fünf Kriterien, unter denen Reiche an einem Einheitsbegriff der Per ver- sion festzuhalten sucht: Perversionen sind strukturell aufgebaut wie russische Puppen-in-der-Puppe. 1 Bei Herrn Müller äusserte sich dieses Kriterium im Verlauf der Analyse u. a. darin, dass die pervers-sexuelle Form auf das übrige Leben über - zugreifen drohte (160): Er wollte als «echter» Nazi-Skin auf der Strasse Anerkennung finden, obschon er zugleich kein echter war. Die Stärke von Mervin Glasser: Zur Rolle der Aggression in den Perversionen (19–53) liegt zunächst in seiner klinischen Erfahrung, zuerst in einer kommunalen Behandlungsstätte für benachteiligte Jugendliche bei Moses Laufer und später an der Portman Clinic in London, die sich unter seiner Leitung (bis 1994) zu einem interdisziplinären Zentrum für die analytische Behandlung und Erforschung von Perversionen, Gewalt und Delinquenz entwickelte (14). So kann er seine meta- psychologischen Auffassungen mit mehreren Behandlungsvignetten illustrieren. Ferner definiert er seine Auffassung von Aggression und Sadismus, welche – ähnlich wie bei Stoller – bei der Entstehung von Perversionen eine zentrale Rolle spielen, in wohltuender Klarheit. Als Kernkomplex der Perversion bezeichnet er einen Zirkel von charakteristischen Wünschen nach einer wirklich intimen Beziehung und gleichzeitigen panischen Ängsten davor, die zur sadomasochistischen Kontrolle und Distanzierung des Objektes zwingen. Auch Heinz Weiss: Perverse Verknüpfungen: Realitätsbezug und argumenta tive Struktur (101–121) illustriert seine objektbeziehungstheoretischen Ableitungen Journal für Psychoanalyse 52 Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 60, Schwerpunktthema Perversionen 169 mit dem klinischen Beispiel einer 55-jährigen Sozialpädagogin nach Trennung einer Ehe, die durch jahrelange Demütigungen gekennzeichnet war (112–116). Sie stellte eine Beziehung zeitloser Romantik zwischen sich und dem Analytiker her. Zeitlosigkeit und das Nicht-Anerkennen von «Grundtatsachen» des Lebens (Money-Kyrle 1971) 2 werden mit kunstvollen Argumenten aufrechterhalten. Im Zentrum dieser Arbeit steht weniger das manifeste Sexualverhalten, sondern per - verse modi in Objektbeziehungen und die schöne Herleitung einer Borderline- Position aus Freud-Texten. Udo Hock: Der perverse Vater (123–150) startet mit der Entdeckung, dass Passagen der Freudschen Fliessbriefe, die Erfahrungen hysterischer Patienten mit ihren perversen Vätern wiedergeben, in der ersten Ausgabe von 1950 weg- gelassen wurden. Der Autor ist bestrebt, diese Dimension für eine am Primat des Anderen (Laplanche) ausgerichtete Theorie der Perversion wiederzugewinnen. Primat des Anderen meint, dass das Unbewusste exogen und je individuell in der Auseinandersetzung mit dem Anderen gebildet wird (126). 3 Zusammengefasst: Im Symptom persistiert ein perverser Lustexzess, Lacans jouissance, die aus der Begegnung mit dem sexuellen Anderen und dessen Einbruch in den sich gerade kon stituierenden psychischen Apparat des Kindes hervorgeht. Dieser perverse Lust exzess hat eine Symptomfixierung zur Folge, die den rätselhaften primären Krankheitsgewinn ausmacht (148). Das Fehlen einer konsensfähigen Definition und die Tatsache, dass Perver - sionskonstrukte auch bei psychoanalytischen AutorInnen ein Terrain sind, in dem sich leicht moralische Voreingenommenheit einschleicht, erschwert eine Orientierung. Daran ändert nichts, dass Morgenthalers Plombentheorie von ver - schiedenen Autoren zustimmend zitiert wird. Sie deckt ja nur einen Ausschnitt im Spektrum möglicher Perversionsbegriffe ab, bei denen die Kompensation einer bestimmten Pathologie im Zentrum steht. Das steht im Gegensatz zu sei- nem Diktum, wonach Sexualität, in welcher Form sie sich auch zeigt, niemals eine Neurose, eine Psychose, eine Morbidität sein kann (86). Er illustriert das mit einem Abschnitt einer Analyse von Samuel, einem Fetischisten, bei dem es keinen Moment darum ging, an dieser sexuellen Orientierung etwas zu ändern, den gelben Stiefel beispielsweise durch einen homo oder heterosexuellen Partner zu ersetzen (164). Er spricht dabei von einem «Brückenpfeiler», der etwas Gesundem dient: Die primärprozesshaften Triebregungen erhalten dadurch einen dauernden Zugang zum Erleben. Die Diktatur der Sexualität erhält gleichsam einen Nationalpark, was es solchen Menschen erlaubt, in nichtsexuellen Bereichen eine Vitalität und Direktheit zu entwickeln, auf die AnalytikerInnen leicht mit einer Abwehr reagieren Buchbesprechungen 170 Ralf Binswanger und die Tendenz haben, sie zu pathologisieren. Morgenthaler stellt die perverse Liebesfähigkeit auf eine Ebene mit der heterosexuellen und homosexuellen. Solche Bezüge fehlen bei allen Autoren vollkommen, obschon z. B. Nissen eine Beziehung zu seiner koprophilen Patientin darstellt, die äusserst lebendig begann. Wir hatten einen ähnlichen Humor, konnten uns für die gleichen Dinge begeistern – das spürte die Patientin genau (64). Was Nissen in der Beschreibung der koprophilen Symptomatik autistoid nennt, könnte auch als «Nationalpark für die Diktatur der Sexualität» verstanden werden. Wenn sie dann schwer sui- zidal wurde, nachdem sie den «Nationalpark» überraschend schnell aufgegeben hatte, könnte das einem unerträglichen Verlust dieser Vitalität in allen anderen Lebensbereichen geschuldet sein. Andererseits krankt Reiches Einheitsbegriff der Perversion daran, dass eine gewöhnliche Pädophilie nicht unter die fünf Kriterien subsumiert werden kann. Verallgemeinert man die beiden total unterschiedlichen Herangehensweisen Morgenthalers, so kann das ganze Gebiet der Perversionskonstrukte als wider - sprüchliche Einheit aufgefasst werden. So kommt man zu dem mir am ehesten als zweckmässig erscheinenden Umgang mit dem Perversionsbegriff. Konzeptionell ersetzt er einen Teil von Freuds sexuellen Abirrungen durch sexuelle Orientierung, auf der gleichen Ebene wie Heterosexualität und Homosexualität. Von den ver - schiedenen Funktionen, die sexuelles Erleben, Fantasieren und Verhalten haben kann, hat dabei die Triebbefriedigung das Primat über eine Vielzahl von anderen Funktionen, Motivationen und Konfliktlösungsmustern. Von einer Perversion wäre dann zu sprechen, wenn sich die Triebbefriedigung anderen Funktionen unterordnet, z. B. der Plombenfunktion, der Abfuhr von Aggression, Besitz- und Herrschaftsansprüchen, der Weitergabe erlittener Traumatisierungen, dem Inzestwunsch, der Inszenierung verdrängter ödipaler Konflikte oder dem Ausagieren verhinderter Trauerarbeit. Von hier aus erhält auch die Rede von per - versen modi der Konfliktverarbeitung, von perversen Objektbeziehungen oder perversen Familienstrukturen einen klareren Sinn, 4 und die lesenswerten Beiträge des besprochenen Bandes liessen sich so besser einordnen. Anmerkungen 1 Reiche, R. (1996 [2007]): Psychoanalytische Therapie sexueller Störungen. In: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung , Hrsg. von V. Sigusch, Stuttgart: Thieme 4. Auflage, 277 f. (Falsche Seitenzahlen im Jahrbuch). 2 The aim of psychoanalysis. In: The Collected Papers of Roger MoneyKyrle, Pertshire: Clunie Press [1995], 442–449. Journal für Psychoanalyse 52 Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 60, Schwerpunktthema Perversionen 171 3 Daraus abzuleiten, das Unbewusste zeichne in seinem Kern weder eine biologische (...) noch überindividuelle Strukturen aus, halte ich für eine unzulässige Ausweitung eines an sich richtigen Gesichtspunktes. 4 S. dazu Binswanger, R. (2011): «Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion» – die bekannte Formel neu interpretiert. In: Psyche Z Psychoanal, Heft 8/2011 (im Druck). Buchbesprechungen