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Schwerpunkt

Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun oder der Psychoanalytiker zwischen potenziellem Bedarf und realer Nachfrage

Anton Fischer

Nicht immer war die Psychotherapie für die Psychoanalytiker das ungeliebte Kind. Es gab eine Zeit, in der sie hoch im Kurs stand und eine glänzende Zukunft im Schosse der psychoanalytischen Familie vor sich zu haben schien. Dieser Honigmond ging leider ganz rasch wieder vorbei, und die Folgen tragen wir noch heute. Der Beitrag untersucht die Bedingungen, unter denen damals der Honigmond schlagartig am Wiener Horizont aufging, kurz hell wie eine Sonne erstrahlte, um dann in einem schmerzhaften Reigen von ideologischen Konflikten und persönlichen Tragödien Schritt für Schritt wieder dorthin zu verschwinden. Um einen Begriff des Existenzphilosophen Karl Jaspers zu verwenden: Der Beitrag behandelt das, was Jaspers die «Achsenzeit» nennt, die Schicksalsjahre der Psychotherapie, in denen sich entschied, ob sie in der psychoanalytischen Gemeinschaft ein Heimatrecht bekommt oder nicht.


Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun oder der Psychoanalytiker zwischen potenziellem Bedarf und realer Nachfrage Überlegungen zum ökonomischen Aspekt eines schwierigen Berufs in einem sich wandelnden politischen und ökonomischen Umfeld Anton Fischer (Zürich) Zusammenfassung: Nicht immer war die Psychotherapie für die Psychoanalytiker das ungeliebte Kind. Es gab eine Zeit, in der sie hoch im Kurs stand und eine glänzende Zukunft im Schosse der psychoanalytischen Familie vor sich zu haben schien. Dieser Honigmond ging leider ganz rasch wieder vorbei, und die Folgen tragen wir noch heute. Der Beitrag untersucht die Bedingungen, unter denen damals der Honigmond schlagartig am Wiener Horizont aufging, kurz hell wie eine Sonne erstrahlte, um dann in einem schmerzhaften Reigen von ideologi- schen Konflikten und persönlichen Tragödien Schritt für Schritt wieder dorthin zu verschwinden. Um einen Begriff des Existenzphilosophen Karl Jaspers zu verwenden: Der Beitrag behandelt das, was Jaspers die «Achsenzeit» nennt, die Schicksalsjahre der Psychotherapie, in denen sich entschied, ob sie in der psy- choanalytischen Gemeinschaft ein Heimatrecht bekommt oder nicht. Schlüsselwörter: Geschichte der psychoanalytischen Psychotherapie, sozialde- mokratische Gesundheitspolitik, geringe Reichweite der klassischen Analyse, Psychotherapie nach dem Untergang des Faschismus Die Psychoanalyse ist sozusagen im Schosse der herrschenden Klasse ent standen, und dies obendrein in einem feudalistischen Kaiserreich, das die Geschichte längst überholt, aber noch nicht bestraft hatte. Es waren Angehörige der besseren Gesellschaft, oftmals auch Adlige, welche das starre Korsett, in das sie die viktorianische Triebunterdrückung zwängte, psychisch nicht verkraften konnten und mit einer bizarren Symptomatik reagierten, welche die damaligen Nervenärzte © 2020, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz ( CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jfp.49.2 Psychotherapie 8 Anton Fischer in Verwirrung stürzte. Der soziale Status hat ihnen den Narrenturm erspart und sie manchmal in die Verschwiegenheit des privaten Ordinationszimmers des jun- gen Nervenarztes Sigmund Freud geführt, der sich den Kopf zerbrach, wie er den Zugang zu den Abgründen ihrer Seele finden könnte. Freuds Entdeckung des Unbewussten und der Psychoanalyse als Methode, es zu erschliessen, vollzog sich ausserhalb der Psychiatrie. Er hat nur gerade mal fünf Monate an der Zweiten Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien gear - beitet (Sommer 1883) und später seinen Chef Theodor Meynert und das ganze Establishment mit seiner Begeisterung für Charcot gegen sich aufgebracht. Die sexuelle Ätiologie der Neurosen lehnten sie erst recht ab. Auch die damals moderne und die Universitäten beherrschende Psychologie, die Wilhelm Wundts, der sie als eine rein empirische konzipiert hatte, stand völlig quer zum psychoanalytischen Denken und nahm entsprechend wenig Notiz von ihm. Das Unbewusste ist nicht mess- oder wägbar. Die Heilerfolge der Psychoanalyse waren zu ihrer Zeit eine echte Sensation, und sie haben glühende Verfechter, aber auch gehässige Kritiker auf den Plan gerufen. Es entstand eine verschworene Gemeinschaft oder besser: eine rivali- sie rende Brüderhorde von psychoanalytischen Pionieren, die um die Gunst des Gründervaters buhlte. Diese eigenartige Organisationsstruktur der psycho- analytischen Bewegung, die lange Jahre von einem – auf strikte persönliche Loya- lität zu Freud eingeschworenen – Geheimkomitee geleitet wurde, ähnelt mehr einem esoterischen Geheimbund als einer wissenschaftlichen Vereinigung. Erkennungszeichen war der Siegelring, den Freud den 6 Mitgliedern an den Finger steckte. Diese seltsame Form stellte, wie er schliesslich selbst erkannte, den ide- alen Nährboden für Intrigen und Verfolgungsängste dar, die Abweichler immer wieder in die Rolle von Häretikern und schliesslich zu spektakulären Austritten trieb. Wie wir sehen werden, wurde die psychoanalytische Psychotherapie zum Spielball dieser Gruppendynamik und am Ende zu ihrem Opfer. Insofern wirken die Spätfolgen der Ursprungsbedingungen der organisierten Psychoanalyse bis in die Gegenwart hinein. Die Psychiatrie hingegen blieb von den praktischen Erfolgen ebenso unbe- eindruckt wie früher von den theoretischen, ein Faktum das auf das künftige Verhältnis der Psychoanalyse zur Psychotherapie ebenfalls Einfluss nehmen wird. Die Psychologie begnügte sich allenfalls mit der summarischen Abqualifizierung, sie sei unwissenschaftlich: Dank dem sensationellen Anfangserfolg, als Freud auf einen Schlag in der ganzen Welt berühmt wurde, war das Einkommen für die ersten Psychoanalytiker Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 9 kein Thema. Die Analysanden verfügten ganz einfach über Geld und wollten sich damit etwas Begehrenswertes verschaffen, das ihnen nicht nur Erleichterung oder Heilung versprach, sondern auch Prestige. Während des Ersten Weltkrieges sollte sich das allerdings ändern. Pioniere fragen ohnehin selten nach dem, was ihnen ihre Entdeckungen finanziell abwerfen. Zu Freuds Zeiten kannte man auch keine Fünftagewoche, und daher traf man sich sechsmal die Woche in seinem Ordinationszimmer, aber auch, weil sich seine Patienten diese Frequenz leisten konnten – sie kamen ja eigens wegen der Analyse nach Wien angereist und hielten sich dort monatelang auf. Die Frequenz war daher auch nicht Gegenstand einer theoretischen Debatte, unsere heutige Preisfrage Wieviele Wochenstunden sind nötig, damit sich der psychoanalytische Prozess entwickeln kann? beschäftigte und erregte niemanden. Freud und seine ersten Schüler mussten sich nicht mit einem Sozialver si- che rungs system herumschlagen, das die Höhe des Honorars und die Stundenzahl reglementiert. Das gab es im k.u.k. Wien ohnehin noch nicht. Die psychoanalyti- sche Behandlung war ein rein privatwirtschaftlicher Vorgang zwischen Anbieter und Kunde. Der Vorkriegsfreud war noch der Meinung, ein zu tiefes Honorar schade der Wirksamkeit der psychoanalytischen Kur. So entfaltete sich anfänglich die Theorie der Technik völlig unabhängig von den sozio-ökonomischen Realitäten der breiten Masse der Bevölkerung. Freud war nicht blind für den sozialen Ort der psychoanalytischen Praxis und ihre beschränkte Reichweite. Er hat im Gegenteil früh erkannt, nicht zuletzt im Gespräch mit seinem damaligen Intimus Sandor Ferenczi, dass die Psychoanalyse sich nicht auf die Behandlung oberklassiger Salonneurosen beschränken darf, son- dern einen Beitrag zur seelischen Volksgesundheit leisten müsse. Insbesondere das Erlebnis des Ersten Weltkrieges mit den schweren seelischen Traumatisierungen von Kombattanten und Nichtkombattanten hat ihn dazu bewegt. Ferenczi, Ernst Simmel und andere seiner Schüler waren als Armeepsychiater im Einsatz. Dem Thema Kriegs neurosen war denn auch der 5. Kongress der Internationalen Psycho- analy tischen Vereinigung Ende September 1918 in Budapest gewidmet. Dieser Kongress wurde übrigens hauptsächlich von den Wienern und Budapestern besucht, die meisten in Uniform. Dafür nahmen Regierungsvertreter, deutsche und k.u.k. Militärärzte am Kongress teil, weil sie in der Psychoanalyse das thera- peutische Werkzeug witterten, um die traumatisierten Soldaten möglichst rasch wieder frontverwendungsfähig zu machen. Freud überraschte seine Mitstreiter mit einer revolutionären Rede, einem leidenschaftlichen Plädoyer und einer kühnen Vision für die Zukunft der Psychotherapie 10 Anton Fischer Psychoanalyse, die den Zuhörern einen tiefen Eindruck machte. Ich zitiere aus- führlich aus diesem Vortrag, der sich unter dem Titel «Wege der psychoanalytischen Therapie» im Band XII der Gesammelten Werke (Freud 1918: 183–194) befindet. Er ist der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Geschichte von der Psychoanalyse und ihrem Kind. Freud beginnt damit, dass sie, die Herren Kollegen und er, ihr Wissen und Können nie als vollständig und abgeschlossen betrachtet haben und es ihn nun reize, «den Stand unserer Therapie zu revidieren, der wir ja unsere Stellung in der menschlichen Gesellschaft verdanken». Er verwahrt sich als Erstes dagegen, dass der Analyse des Kranken eine neue Synthese folgen müsse, wie gelegentlich gefordert werde. Diese erfolge «ohne unser Eingreifen, automatisch und unaus- weichlich». Er verlangt, die Versagung aufrechtzuerhalten und durch «energisches Einschreiten» die vorzeitige Linderung durch Ersatzbefriedigungen im Rahmen der analytischen Kur zu verhindern, um Halbgeheilte zu vermeiden. «Wer als Analytiker etwa aus der Fülle seines hilfsbereiten Herzens dem Kranken alles spendet, was ein Mensch von einem anderen erhoffen kann», der begehe denselben Fehler wie eine Nervenheilanstalt, die ihre Insassen so sehr verwöhne, dass sie keinen Anlass mehr sehen, dieselbe je wieder zu verlassen. Es folgt ein Seitenhieb auf den ehemaligen Kronprinzen C.G. Jung, der aber namentlich nicht genannt wird: «Wir haben es entschieden abgelehnt, den Patienten … zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten.» Dann erst lässt er seine Katze aus dem Sack: «Sie wissen, dass unsere thera- peutische Wirksamkeit keine sehr wirksame ist. Wir sind nur eine Handvoll Leute, und jeder von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem Jahr nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen. Gegen das Übermass von neurotischem Elend, das es in der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben braucht, kommt das, was wir davon wegschaffen können, quantitativ kaum in Betracht. Ausserdem sind wir durch die Bedingungen unserer Existenz auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft eingeschränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen … Für die breiten Volksschichten, die ungeheuer schwer unter den Neurosen leiden, können wir derzeit nichts tun.» Im Bewusstsein, dass die feudale Welt der Kaiser und Könige vor dem Untergang steht, blickt er in die Zukunft der Psychoanalyse: «Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, dass der Arme ein eben- solches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 11 chirurgische. Und dass die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder bedrohen als die Tuberkulose und ebensowenig wie diese der ohnmächtigen Fürsorge des Einzelnen aus dem Volke überlassen werden können.» Bis es soweit ist, muss «pri- vate Wohlfahrt» den Anfang machen und unentgeltliche Behandlung anbieten. Wer mit dieser Wohlfahrt gemeint ist, macht Freud sehr rasch klar: Sie, seine Zuhörer, die psychoanalytische Gemeinschaft, die sich hier in Budapest versammelt hat. Dies würde aber nicht ohne schwerwiegende Modifikation der psychoanalytischen Technik möglich sein: «Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere Technik den neuen Bedingungen anzupassen.» Freuds Ausblick in die Zukunft, die er her - aufbeschwört, kulminiert in einer doppelten Vision – einer sozialmedizinischen und einer behandlungstheoretischen: «Wir werden wahrscheinlich die Erfahrung machen, dass der Arme noch weniger zum Verzicht auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil das schwere Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und das Kranksein ihm einen Anspruch mehr auf soziale Hilfe bedeutet. Möglicherweise werden wir oft nur dann etwas leisten können, wenn wir die seelische Hilfeleistung mit materieller Unterstützung nach Art des Kaiser Josef vereinigen können. Wir werden auch sehr wahrschein- lich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegsneurosen wieder eine Stelle finden. Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiss die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind.» Wenn nach dem Untergang der Donaumonarchie das soziale Gewissen erwacht, dann will Freud mit seiner Psychoanalyse zur Stelle sein. Er fügt sich damit bewusst und nahtlos in das ein, was in den Nachkriegsjahren die Idee der sozial- demokratischen Volkswohlfahrt sein wird, eine Gesundheits- und Sozialpolitik, für die das «Rote Wien» weltweit Bewunderung erlangen wird – mit Gratismilch für die Bedürftigen, Kinderkrippen, Schulzahnkliniken, Vorsorgeuntersuchungen, Volksbädern und sozialem Wohnungsbau. Ahnungsvoll hat Freud in seiner Rede gesagt, bis der Staat seine Aufgabe in der psychotherapeutischen Versorgung erkenne und auch in der Lage sei, sie anzupacken und zu finanzieren, müsse wohl private Initiative die Lücke schliessen und meinte damit sich und seine Kollegen. Diese waren offensichtlich nicht nur überrascht – solches hatten sie noch nie aus seinem Mund gehört – sondern auch beeindruckt, der Wunsch des Übervaters war ihnen Befehl, denn viele der damaligen Zuhörer beteiligten sich später aktiv Psychotherapie 12 Anton Fischer am Aufbau dieser Polikliniken: 1920 öffnete die erste psychoanalytische Poliklinik in Berlin ihre Pforten, erst zwei Jahre später, nach langwierigem Feilschen um die Bewilligung der Gesundheitsbehörden, folgte Wien; 1926 dann London unter der Führung des ursprünglich skeptischen Ernest Jones, 1931 Budapest unter Sandor Ferenczi, und schliesslich gab es 10 Gratiskliniken in 7 verschiedenen Ländern, neben den bereits erwähnten auch in Moskau, Zagreb, Triest, Frankfurt, Paris und New York. Federführend waren dabei die fortschrittlichen Analytiker, darunter viele, die später die Entwicklung einer eigenständigen psychoanalyti- schen Psychotherapie vorangetrieben haben. Gerade der sozialistische oder gar kommunistische Flügel der Bewegung hat an diesen Polikliniken seine Sporen abverdient (Fenichel, Simmel, Bernfeld, Reich), Reichs Sexpolbewegung mit ihren Beratungsstellen hat hier ihren Ausgang genommen und ihre sozialreformerische Intention gesellschaftspolitisch noch radikalisiert – zum Schrecken der etablierten Psychoanalytiker. Als Freud in Budapest seine Vision vom Kampf der Psychoanalytiker gegen das neurotische Massenelend entwickelte, war er sich natürlich nur allzu bewusst, dass auch Gratiskliniken etwas kosten, und ihre Einrichtung und ihr Betrieb irgend- wie finanziert werden müssen. In der Hinterhand hatte er bereits einen Sponsor, den schwerreichen Brauereibesitzer Anton von Freund aus Budapest, einen jungen Idealisten, Freund und Analysand von Ferenczi, der ein beträchtliches Kapital für die Förderung der Psychoanalyse zur Verfügung stellte. Mit diesem sollte ein eige- ner psychoanalytischer Verlag und ein grosses Institut mit Poliklinik in Budapest finanziert werden. Leider verstarb von Freund anfangs 1920, bevor dieser Plan realisiert werden konnte, und sein Vermögen löste sich in der Nachkriegsinflation buchstäblich in Luft auf. Deshalb wurde schliesslich weder in Budapest noch in Wien die erste Gratisklinik eröffnet, sondern in Berlin, wo Max Eitingon die Rolle von Freunds spielte und eine solche aus seinem Privatvermögen finanzierte. Ganz uneigennützig war Freuds Einsatz für die seelische Gesundheit der Minderbemittelten allerdings nicht. Er hat nämlich sehr wohl realisiert, dass die Psychoanalyse zu den Kriegsgewinnern zählt, insofern sie durch ihre Erfolge bei der Behandlung von Kriegstraumen ihre Nützlichkeit endlich öffentlich unter Beweis stellen konnte, was ihr die bisher vorenthaltene Aufmerksamkeit bescherte – aller - dings von hohen Militärs- und Regierungsstellen. Auch wenn der Beifall von der fal- schen Seite kam, witterte der Pazifist Freud die Chance, seine umstrittene Erfin dung salonfähig zu machen. Die Wiener Psychiatrie hatte ihm längst die kalte Schulter gezeigt und seine Versuche, mit Hilfe der Zürcher Psychiater Eugen Bleuler und C. G. Jung, die Tore der psychiatrischen Kliniken doch noch für die Psychoanalyse Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 13 zu öffnen, waren inzwischen auch fehlgeschlagen. Selbst ein Freund wie Ludwig Binswanger erwies sich gegenüber seinen Sirenengesängen als resistent. Sein Auftritt im Jahre 1920 als Gutachter im Prozess gegen Julius Wagner-Jauregg, dem Aushängeschild der Wiener Psychiatrie, der kriegstraumatisierte Soldaten mit Starkstromstössen behandelt hatte, manchmal mit Todesfolge – was der neuen sozi- aldemokratischen Regierung nachträglich als eine «militärische Pflichtverletzung» erschien – hat ihm deren Sympathie kaum zurück gewonnen. Ebenso bewusst war sich Freud aber, dass es nicht reicht, die klassische Liegekur für neue soziale Schichten durch Gratiskliniken zugänglich zu machen, sondern sich diese selbst verändern müsste, wenn sie wirklich einen entscheiden - den Beitrag zur Linderung des neurotischen Massenelendes leisten will. Das bedeu - tet nichts Geringeres als dass die von ihm festgelegte Standardtechnik modifiziert werden müsste. Wie genau, verrät er uns in seinem leidenschaftlichen Aufruf nur soweit, dass ihre essentials erhalten bleiben müssen: Abstinenz und Neutralität, keine unnötigen Gratifikationen, die die Kur nur verlängern oder gar unmöglich machen, dagegen direkte Suggestion und auch ein Rückgriff auf die hypnotische Beeinflussung. Den Weg, den «unsere Therapie» einschlagen werde, sei kürzlich von Ferenczi aufgezeigt worden – unter dem Stichwort «Aktivität» des Analytikers. In diesem Zusammenhang fällt auch das berühmte Wort vom reinen Gold der Analyse, das wohl reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion legiert werden müsse. Ein Wort, das zwar oft, aber meistens ohne seinen Kontext zitiert wird, die feurige Propagandarede vom Budapester Kongress für die Eingliederung der Psychotherapie in die sozialdemokratische Wohlfahrtspolitik. Die Bereitschaft Freuds, seine Erfindung zu modifizieren, ist also an die Verantwortung für die seelische Gesundheit gekoppelt. Diese befreit ihn aber keines- wegs von seiner Ambivalenz gegenüber der von ihm postulierten «Psychotherapie fürs Volk». Einerseits hält er für sie ein begeistertes Plädoyer, andererseits wertet er sie aber auch ab, wie in der Metapher vom reinen Edelmetall und dem – klar min- derwertigen – Kupfer drastisch zum Ausdruck kommt. Noch viel mehr zeigt sich die Abwertung im Rückgriff auf überwundene Entwicklungsstadien der Behandlung und daran, das die Synthese, die er für die Psychoanalyse eben so kategorisch abge- lehnt hat, über die Suggestion gleichsam durch die Hintertür wieder einführt. Freuds Appell, die psychoanalytische Technik zu revidieren, um breitere Kreise zu erreichen, ist ursprünglich zur Hauptsache Wasser auf Ferenczis Mühlen gewesen, dem Gastgeber des Budapester Kongresses, und hatte dessen Position in der Führungsriege gestärkt. Der Aufruf steht unter seinem Einfluss, der sich damals auf dem Höhepunkt befand – aber bald wieder abzunehmen begann. Der Psychotherapie 14 Anton Fischer Übervater wird die «aktive Therapie» bald einmal mit zunehmendem Misstrauen verfolgen. Mit Otto Rank publiziert Ferenzci 1924 das Buch «Entwicklungsziele der Psychoanalyse», dessen Titel nicht von ungefähr denjenigen des Vortrags Freuds paraphrasiert. Es stiess auf harte Kritik, vor allem der Berliner um Abraham, die zu einem massiven Konflikt im Schoss des «Geheimen Komitees» führte, Freud ver - suchte vergeblich, die Berliner zur Mässigung zu bewegen, denn er fürchtete ein mal mehr um die Einheit der psychoanalytischen Bewegung. Zu Recht, wie es sich bald herausstellte: es kam bald zur Auflösung des Komitees und schliesslich zum Bruch zwischen Freud und Rank und zu dessen Abwendung von der Psychoanalyse. Schon vorher hatte sich Freuds Skepsis gegenüber seinem eigenen Aufruf zur Technikrevision verstärkt: In «Psychoanalyse» und «Libidotheorie» heisst es lapidar: «Welche Modifikationen erforderlich sind, um das psychoanalytische Heilverfahren breiteren Volksschichten zugänglich zu machen und schwächeren Intelligenzen anzupassen, muss erst die Erfahrung an poliklinischem Material leh- ren» (Freud 1923a: 226). Von der Empathie mit den seelischen Nöten der Armen und Ent behrung Leidenden scheint da nicht mehr viel übrig, und vom poli klini schen Material, das in Berlin seit 1920 und in Wien seit dem Vorjahr gesammelt wurde, hat er offenbar noch keine Notiz genommen. Im Gegenteil, er beharrt wieder auf dem Seltenheitswert der Psychoanalyse, die nicht «an völlig wertlose Individuen, die nebenbei auch noch neurotisch sind, zu vergeuden» sei. Im Volk ortet er vermehrt Dummköpfe: der Rückzug auf eine elitäre Position bahnt sich an. Allerdings hätte Freud vom «poliklinischen Material» aus Berlin auch gar keine Hinweise für eine erst zu formulierende Theorie der «Therapie für die Massen» erhalten können, weil sich Abraham und Eitingon von Anfang an ent- schieden gegen jede Modifikation der psychoanalytischen Technik wandten – und dem Volk auch nicht grundsätzlich Gratistherapien anboten, sondern nur dann, wenn die Indikation für eine Analyse gegeben war und der Auserwählte keinen eigenen Beitrag aufbringen konnte. Mehr als eine kostenlose Analyse pro Mitglied (es waren 12) war ökonomisch schlicht nicht zu verkraften. Wie Freud richtig vor - aussah, blieben staatliche Subventionen aus. In seinem Vorwort zu Eitingons Arbeitsbericht über die Berliner Poliklinik von 1923 bekräftigt er die gesellschaftliche Aufgabe der Psychoanalyse. Sie besitze nur dann «einen Wert als therapeutische Methode …, wenn sie imstande ist, lei- denden Menschen im Kampf um die Erfüllung der kulturellen Forderungen bei- zustehen, so soll diese Hilfeleistung auch der grossen Menge jener zuteil werden, die zu arm sind, um den Analytiker für seine mühevolle Arbeit selbst zu entlöhnen. Zumal in unseren Zeiten erscheint dies als soziale Notwendigkeit, das die der Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 15 Neurose besonders ausgesetzten intellektuellen Volksschichten unaufhaltsam in die Verarmung sinken» (Freud 1923g: 441). Von der Arbeiterklasse ist keine Rede, nur vom Bildungsbürgertum – und von einer Anpassung der psychoanalytischen Technik an die weniger Gebildeten schon gar nicht mehr. Immerhin konzedierte Freud in einem Rundbrief an die Mitglieder des Geheimen Komitees, er werde sich «natürlich vor der Erfahrung beugen» – falls den beiden Autoren tatsächlich der Nachweis gelänge, dass sie auch mit ihrer modifi- zierten Technik und in kürzerer Zeit «bis in die Tiefen des Unbewussten vordringen und dauernde Veränderungen im Psychischen zustande bringen» ( Wittenberger 1995). Sein Verdikt blieb dennoch: die Psychoanalyse ist Suggestion – die näm- liche Suggestion, die er selbst 1918 noch aus volksgesundheitlichen Erwägungen empfohlen hatte. In Wien stand das Projekt «psychoanalytisches Ambulatorium» von Anfang an im Schatten und auch in Konkurrenz zu den populären Polikliniken Alfred Adlers, der die uneingeschränkte Förderung durch die Sozialdemokratie genoss. Von den Initianten verlangte die Gesundheitsbehörde – im Schlepptau von Psychiatrie und Ärzteschaft – ausschliesslich Ärzte zu beschäftigen. Schliesslich gelang es dem Kardiologen Felix Deutsch, das Ambulatorium in der Herzstation an der Pelikan- gasse im 9. Bezirk einzurichten, erster Direktor wurde Eduard Hitschmann. Als Vorbild diente das Berliner Modell. Die Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft behandelten ungefähr einen Fünftel ihrer Patienten ohne Honorar, Lehranalysen waren manchmal gratis, aber als Gegenleistung wurde verlangt, dass die Kandidaten eine Zeit lang ohne Entlöhnung am Ambulatorium arbeiteten. Freud unterstützte es mit finanziellen Zuwendungen. Nach der Inflation lebten er und sein Kreis von den Engländern und Amerikanern mit ihren harten Pfunden und Dollars, was ihn nicht daran hinderte, über die Dollarbarbaren zu schnöden. Eine von der psychoanalytischen Behandlung verschiedene «Psychotherapie fürs Volk» wurde auch hier nicht entwickelt. Vorläufig auch von Wilhelm Reich nicht, der bis 1930 als Leiter des Technischen Seminars fungierte. Im Jahr 1925 attackierten Wagner-Jauregg und die Wiener Psychiatrie das Ambulatorium und verboten ihm, Nicht-Ärzte zu beschäftigen. Gemeint war Theodor Reik, gegen den schliesslich formell Anklage erhoben wurde. Freud hielt ein glühendes Plädoyer für die Laienanalyse, und das Ganze endete wie das Hornberger Schiessen. Nachdem sich auch in London ein Mäzen gefunden hatte, ein amerikanischer Industrieller, eröffnete Jones eine Poliklinik «for the purpose of rendering psycho-analytical treatment available for ambulatory patients of the poorer classes». Die von Freud 1918 in Aussicht gestellte Revision der Technik Psychotherapie 16 Anton Fischer war hier erst recht kein Thema. In Berlin wurde heftig diskutiert, aber nur über Quantitatives: die Dauer der Analyse, die wöchentliche Stundenzahl und die Länge der analytischen Stunde. Damals kristallisierte sich als ideale Frequenz drei Wochenstunden heraus. Wie in Wien stand die fraktionierte Analyse (in Tranchen) zur Debatte. Inhaltlich experimentiert wurde hingegen im Bereich der Kinderanalyse in Wien auf Initiative von Freuds Tochter Anna und ihrer Gefährtin Dorothy Burlingham im Rahmen der Schule in Heitzing, an der auch Erik Erikson (damals noch Erik Homburger) und Peter Blos arbeiteten – und gelegentlich August Aichhorn, der Pionier der psychoanalytischen Arbeit mit der «Verwahrlosten Jugend», spontane Gruppentherapiesitzungen mit den Kindern abhielt. Weil hier das Gespenst der Häresie nicht umging, herrschte eine Freiheit des Forschens und Lehrens, die den auf die Loyalität zum Meister verpflichteten Erwachsenenanalytikern verwehrt war. Ein analoger Spielraum für die Anpassung der Technik an eine bestimmte Patientengruppe ergab sich später, als Paul Schilder und Eduard Bibring Psycho- tiker zu behandeln begannen. Reich bemühte sich nach seiner politischen Radikalisierung 1927 immer stärker um die Psychohygiene des Proletariats – und zwar ausserhalb der organi- sierten Psychoanalyse in seinen eigenen Sexpolkliniken, in welchen er eine ver - kürzte Form von Psychoanalyse mit Sozialarbeit mischte. Er befasste sich auch als Erster mit der Prävention neurotischer Fehlentwicklungen, für die ihm die Sexualberatung zentral schien – intensive Aktivitäten, die ihm zunehmend Zeit für seine Arbeit am Ambulatorium wegnahmen, was Freud mit Sorge erfüllte. Reich, der shooting star der Nachkriegsjahre, wie vor ihm Freuds alte Favo- riten Ferenczi und Rank, entwickelte nun zunehmend Vorstellungen über eine allen zugängliche Psychotherapie, die Freud nicht mehr mit seinem eigenen wis- senschaftlichen Paradigma vereinbaren konnte oder wollte. 1930 wechselte Reich nach Berlin, wo er aber vom Berliner Institut nicht als Lehranalytiker akzeptiert wurde, entwickelte seine Charakteranalyse, baute das Netz der Sexpolkliniken auf und trat in die KPD ein. In Budapest hatten die Behörden die dortige Psychoanalytische Vereinigung jahrelang hingehalten, bis sie die Erlaubnis zur Eröffnung einer Poliklinik schliess- lich 1931 doch noch gewährten. Zu den ersten Patienten zählten zur Hauptsache Kinder, deren psychoanalytische Behandlung ohnehin weniger argwöhnisch ver - folgt wurde als diejenige der Erwachsenen. Freud bemühte sich längere Zeit, sei- nen alten Freund Ferenczi bei der Stange zu halten, auch nachdem dieser sich in der Bewegung ins Abseits manövrierte hatte. Im Dezember 1931 schrieb er Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 17 ihm aber einen langen schroffen Brief, in dem er ihn brutal abkanzelte, ihn als unbelehrbar bezeichnete und ihm vorhielt, Tür und Tor dafür zu öffnen, dass «das ganze Repertoire des Demiviergetum und der petting-parties in die Technik der Analyse aufgenommen» werde. Wohl als Antwort auf diesen Vorwurf und zur Selbstverständigung hat Ferenczi 1932 ein klinisches Tagebuch geführt, das erst mehr als 50 Jahre später, 1985 auf Französisch erschien, 1988 auf Deutsch unter dem Titel «Ohne Sympathie keine Heilung». Der Herausgeber Michael Balint hat lange auf günstigere Zeiten für die Ideen seines Lehrers gewartet, bis er starb. Wie er sich diese seine Psychotherapie im Einzelnen vorstellte, wissen wir erst seit damals genauer. Ferenczi postulierte, die neutrale Haltung des Psychoanalytikers aufzugeben, um dem Patienten seine positiven Gefühlen zu zeigen, und ihn als gleichwertigen Partner zu akzeptieren. In Ferenczis damaligen Schriften liegt auch der Ursprung dessen, was später als corrective emotional experience in die Theorie der Behandlungstechnik einging. Nach den Problemen mit seinen eifersüchtigen Söhnen, die sich um die Kronprinzenrolle stritten, und nachdem er die drei brillantesten Schüler verloren hatte, wandte sich der inzwischen auch krebskranke Freud immer mehr den «edlen Frauen» zu: seiner Tochter, ihrer Freundin Burlington, der Mäzenin und (echten) Prinzessin Marie Bonaparte. Sie bildeten nun seinen inneren Kreis, während die offiziellen Organisationen der Psychoanalyse nach wie vor eine Männerdomäne darstellten. Dies blieb nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung der psychoanalyti- schen Technik, die emotionelle Kälte der standard technique, die sich bald durch- zusetzen beginnt, ist wohl auch sehr gender spezifisch zu verstehen. Der Bruch mit Rank und die Diskreditierung der «aktiven Therapie» Ferenczis in der organisierten Psychoanalyse führte dazu, dass auch die Sache, mit der die beiden identifiziert wurden, in der psychoanalytischen Bewegung in Misskredit geriet und für Jahre gleichsam auf Eis gelegt wurde: die Psychotherapie. 1933 starb Ferenczi, 1934 wurde Reich aus der IPV ausgeschlossen – und damit waren die wichtigsten Vertreter einer modifizierten Technik eliminiert. Freud selbst hat kaum mehr Nachforschungen angestellt, wie denn seine kupferlegierte «Psychotherapie fürs Volk» konkret beschaffen sein und was diese neben der unverzichtbaren analytischen Haltung an eigenständigen behandlungs- technischen Elementen ausmachen müsste. Seine letzten Jahrzehnte verbrachte er bekanntlich als Lehranalytiker seiner Vorzugsschüler – es war ja sehr begehrt, vom Gründervater persönlich analysiert zu werden – und so fehlte ihm persönlich auch der Erfahrungshorizont, um die einst postulierte Modifikation der psycho- analytischen Technik vorwärts zu treiben, so wie er es mit dem goldenen Original Psychotherapie 18 Anton Fischer vermocht hatte. Die strenge, tendenzlose Psychoanalyse, deren Loblied er in der Theo rie sang, praktizierte er freilich selbst gar nicht, wie aus allen Erinnerungen sei- ner Analysanden klar hervor geht. Vermutlich spürte er keine Notwendigkeit, seine Technik zu revidieren, weil er sie ohnehin längst revidiert hatte: seine Analysen waren wohl eher Therapien, die von der suggestiven Wirkung seiner Persönlichkeit lebten und den Patienten dadurch beglückten, dass auch er wie einen Orden seinen Ödipuskomplex verliehen bekam. Immerhin bemühte er sich 1929 nach Berlin, um den deutschen Kultusminister Becker (SPD) persönlich zu überzeugen, und zwar mit den Argumenten von 1918, dass der Staat die psychoanalytischen Gratis- kli ni ken (inzwischen war eine stationäre Klinik in Tegel dazu gekommen) endlich finanziell unterstützen möge, weil auch der Arme Anrecht auf Behandlung habe. Für uns Nachgeborenen hat Freuds definitive Abwendung von sei- nem Postulat der zu revidierenden psychoanalytischen Technik zur Folge, dass wir uns nicht auf ihn berufen und durch ihn legitimieren können, wenn wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Analyse und Psychotherapie festlegen wollen. Das fiel und fällt vielen Analytikern schwer, auch heute noch. Inhaltlich können wir auf nichts Schlüssiges zurückgreifen, dafür wirkt der dama- lige Bannstrahl gegen Ferenczis aktive Therapie bis heute nach. Zur Verdrängung der Psychotherapie in der Psychoanalyse hat auch das gewaltsame Ende der psychoanalytischen Ambulatorien beigetragen, die der Faschismus 1933 in Deutschland und 5 Jahre später auch in Österreich zerstörte – und dann die Emigration ihrer Betreiber – nicht nur der jüdischen – aus Hitlers Reich. Damit war der psychoanalytischen Psychotherapie sozusagen die materielle Basis entzogen. Die Psychoanalyse ging ins Exil, zur Hauptsache nach England und Amerika und nahm dort eine ganz andere Färbung an. Rot jedenfalls war definitiv passé. Das inzwischen vergrösserte und an die Wichmannstrasse verlegte Berliner Institut arisierte sich zuerst selbst – in vorauseilendem Gehorsam und mit dem Segen von Ernest Jones und Anna Freud, die jeden Preis zu bezahlen bereit waren, um die deutsche Psychoanalyse vermeintlich zu retten. Obwohl in der feurigen Aktion gegen den undeutschen Geist im Mai 1933 auch die Schriften Freuds auf dem Scheiterhaufen brannten. Der Ausschluss Reichs als kommunistischer Agitator 1934 war (auch) ein Kniefall vor den neuen Machthabern. Nach dem Exodus der jüdischen und sozialistischen Analytiker entpuppten sich einige wenige nicht-jüdische Psychoanalytiker wie Carl Müller-Braunschweig und Felix Boehm als Quislinge; sie schworen dem Führer ewige Treue und beteiligten sich an der Reinhaltung der deutschen Rasse. Die deutsche Psychoanalyse war dadurch aber Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 19 keineswegs gerettet, denn die Nazis enteigneten Institut und Poliklinik schliesslich dennoch und benannten es in «Deutsches Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie» um. Die Leitung übernahm Feldmarschall Görings Cousin Matthias. Das Präsidium der «Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychothera- pie» übernahm 1933 der Erzfeind C.G. Jung, dem wir die feinsinnige Unterschei- dung zwischen dem arischen und dem jüdischen Unbewussten verdanken. Für letzteres könne Freuds Psychoanalyse durchaus Gültigkeit beanspruchen, räumt er grosszügig ein, aber natürlich nicht für das arische (1934 im Zentralblatt für Psychotherapie). So fiel die Wissenschaft der Psychotherapie, nachdem sie von den Psychoanalytikern nur noch geduldet war, zu allem Elend auch noch in die Hände der Nazis. Das Göring-Institut folgte den Panzern der Wehrmacht auf dem Fuss und übernahm nach dem Einmarsch in Österreich unverzüglich das Wiener Psycho analytische Ambulatorium an der Berggasse 9. Seine Leitung zerstörte die Krankengeschichten, purgierte die Bibliothek und schmückte das nebenan gelegene Wohnhaus Freuds mit einer Hakenkreuzfahne. Der verstand den Wink und emigrierte für sein letztes Lebensjahr nach London. Damit besiegelte er, was Jones in der Rede zu seinem 80. Geburtstag bereits vorweggenommen hatte, die Übernahme der Führung der psychoanalytischen Bewegung durch die englisch- sprachigen Länder. Die Vertreibung der Psychoanalyse aus ihrer deutschspra chi- gen Heimat legte auch das weitere Schicksal der Psychotherapie fürs Volk in die Hände der neuen Vormacht. Die politische Entwicklung machte vielen Psychoanalytikern die Psycho- therapie endgültig suspekt. Man tat sie endgültig als Suggestion ab, als eine Form der Behebung von Sozialisationsdefiziten oder der Nacherziehung. Das Gold hat nicht nur seine Legierung wieder eingebüsst, sondern erstrahlt nun nur noch mehr in seinem Glanz: Genau zu dieser Zeit beginnt nämlich die rigide standard tech- nique ihren Siegeszug – als Gegenbewegung zum sozialdemokratischen Modell der Psychotherapie fürs Volk und als knallharte Abgrenzung von ihr. In einer durch den Faschismus radikal veränderten Welt, scharen sich die bedrohten und verunsi- cherten Psychoanalytiker um die Deutung als ihr fortan einzig identitätsstiftendes Moment. Diese wird zum exklusiven Markenzeichen der Psychoanalyse: Deuten und sonst die Klappe halten. Damit schien man die Gespenster von Rank und Ferenczi endgültig gebannt zu haben. Inzwischen war Freud gestorben, der seine Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit und den Beitrag, den die Psychoanalyse zu ihrer Verwirklichung leisten sollte, nie ganz aufgegeben hat. Psychotherapie 20 Anton Fischer Während im Roten Wien und im Berlin der roaring twenties die Psychoana- lyse als Teil der kulturellen Avantgarde wahrgenommen wurde – und die meisten Analytiker sich selbst als Sozialdemokraten, Sozialisten oder gar Kommunisten betrachteten, änderte sich das mit der Zerschlagung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus gründlich. Unter dem Vorwand, die Psychoanalyse in düsteren Zeiten zu retten, setzte sich – unter dem Präsidium des erzkonservativen Ernest Jones – in der IPV eine Leisetreterei und ein Konformitätsdruck durch – analog zu Chamberlains appeasement Politik – welche sie wieder in den Hafen der Bourgeoi sie zurückbrachte und für das angelsächsische medizinische Establishment akzeptier - bar machte. Auch Freud forderte nach 1933, also nach der nationalsozialistischen «Machtergreifung» die politische Abstinenz der Analytiker. So kamen ausgerechnet die expliziten Antifaschisten unter ihnen von der IPV unter Beschuss oder wur - den gar – wie Edith Jacobson, die als aktive Widerstandskämpferin in Gestapohaft geriet – als Bedrohung für das Überleben der Psychoanalyse in Deutschland denunziert. Originelle Querdenker und Unangepasste, wie sie die ersten beiden Analytikergenerationen prägten, blieben dabei auf der Strecke, sozialistische und kommunistische Analytiker wurden zunehmend an den Rand der Organisation gedrängt, wenn nicht gar wie Wilhelm Reich ausgeschlossen. Die Psychoanalyse wurde nun sauber, amerikanisch sauber, ohne küssende Analytiker und Propheten der sexuellen Befreiung. Politisch neutral wurde sie auch, die kritischen Emigranten wollten ihre Aufenthaltsbewilligung nicht gefährden und verbargen ihre politische Gesinnung und ihr soziales Engagement – angesichts der anderen Realität in den USA, wo sie keine starke sozialistische oder marxis- tische Bewegung vorfanden. So ging der soziale Humanismus verloren, den die Psychoanalyse in Europa jahrzehntelang ausgezeichnet hatte. Die Emigranten mussten sich als Einzelkämpfer in einer Umgebung behaupten, die sie keines- wegs mit offenen Armen empfing, und stiessen obendrein auf eine seit längerem etablierte – bereits amerikanisierte und als Teil der Medizin professionalisierte – Psychoanalyse, die die Neuankömmlinge misstrauisch beäugte. Diese liessen sich widerstandslos domestizieren und wurden für ihre freiwillige Unterwerfung durch die Anerkennung der Psychiatrie belohnt, die ihnen in Europa häufig versagt geblie - ben war. Die Laienanalyse wurde sang- und klanglos aufgegeben, das Projekt einer revidierten Psychoanalyse für das Volk verschwand ganz aus dem Bewusstsein und die Psychoanalyse wurde zu dem, was Freud nie wollte, einer medizinischen Disziplin, ausgeübt von hochprofessionellen Spezialisten. Es war nun auch ein ganz anderer Menschenschlag, der sie praktizierte – ohne die soziale Verantwortung Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 21 und die vielseitigen kulturellen Interessen, welche die Pioniergenerationen aus- gezeichnet hatte. In diesem Klima vollzog sich auch die Beschränkung des Analytikers auf die Deutung als einzige legitime Intervention, die diesen zu eisigem Schweigen über Stunden hinweg verurteilte, bis es wieder irgendetwas zu deuten gab. Diesen Deutungsfetischismus, dem selbst das Stellen einer Frage Sünde war, hielten nur ganz starke und gesunde Persönlichkeiten längere Zeit aus, am ehesten noch die Lehranalysanden, die ihre Analysierbarkeit zu demonstrieren hatten, wenn sie ihr Berufsziel nicht gefährden wollten. Bezeichnenderweise sollte die standard technique später scheitern, als sich in den Sechzigerjahren in den Praxen die nar - zisstisch Gestörten zu häufen begannen. Zum Kampf gegen das neurotische Massenelend, das sich in der Zeit des Faschismus und des durch ihn entfesselten zweiten Weltkriegs keineswegs verrin- gert hatte, trug diese elitäre Veranstaltung nicht das Geringste bei. Russell Jacoby nennt sie «die geglättete und schick gewordene amerikanische Psychoanalyse,» die «sich aus dem anfänglichen Projekt dieser Wissenschaft stahl» (1985: 20). Für die etablierten Analytiker wirkte sie als Goldesel, denn die Analysanden frequentierten ihre Praxen über Jahre hinweg – und das mit hoher wöchentlicher Stundenfre- quenz. Besonders Lehranalytiker waren nun jahrzehntelang jeglicher finanzieller Sorgen enthoben. Wie zu den Wiener Blütezeiten drängten sich nun wieder zahl- reiche Stars auf die Couch, die in Manhattan und Hollywood Gratisreklame für die Psychoanalyse machten, manchmal allerdings auch das Gegenteil – wie im Falle Marilyn Monroes, die von Ralph Greenson analysiert wurde, dem Verfasser des weit verbreiteten Techniklehrbuches von 1977, der tröstend an ihrem Bettrand sass, , wenn sie depressiv war und der Unbehausten Familienanschluss gewährte, und falls dies noch keinen Erfolg brachte, auch als Drogenkurier amtete. Das Banner des Fortschritts hielt im amerikanischen Exil Otto Fenichel hoch, allerdings so, dass es niemand bemerkte. Den Kontakt unter der politischen Linken stellte er mit seinen geheimen Rundbriefen her, die er nach 1934 unter seinen ehemaligen Berliner Kollegen und Kolleginnen Edith Jacobson, Annie und Wilhelm Reich (allerdings nur bis zu ihrem Zerwürfnis), Erich Fromm und anderen zirkulieren liess. Reich wiederum versuchte unter grossen Schwierigkeiten, seine Sexpolarbeit im skandinavischen Exil fortzusetzen, bis auch er in die USA flüchtete und dort mit seinen umstrittenen Versuchen, die Lebensenergie zu isolieren und in Kästchen einzuschliessen, begann. Die Fackel der Psychotherapie im Rahmen der organisierten Psychoanalyse hielt in jenen Dürrejahren bezeichnenderweise ein Ferenczischüler hoch, nämlich Psychotherapie 22 Anton Fischer Michael Balint, siedelte sie aber im Reich der Ärzte an. Inzwischen war auch die Ich- Psychologie (Heinz Hartmann) formuliert, und mit dem Ich sozusagen ein Adressat für psychotherapeutische Interventionen gewonnen. Eduard Glover hatte bereits 1931 verkündet, jede Form von Psychotherapie ausserhalb der Psychoanalyse sei nichts Anderes als Suggestion, und damit die Diskussion für Jahre blockiert. In Amerika beschäftigten sich in den Vierziger Jahren Frieda Fromm-Reichmann, Thomas French und Franz Alexander, auch dieser aus der Budapester Schule, mit der Theorie der psychotherapeutischen Technik. Die beiden letzteren pub- lizierten 1946 ein erstes Lehrbuch «Psychoanalytic Psychotherapy», das von der Orthodoxie, die sich in der Zwischenzeit etabliert hatte, massiv angegriffen wurde. Ihr Oberhaupt K.R. Eissler warf ihnen den «Ausverkauf der Psychoanalyse» vor. Unter seiner Führung erstarrte die von ihm definierte standard techique endgül- tig zu einem System von technischen Verfahrensregeln. Eine Brücke zu einer wie auch immer gestalteten psychoanalytischen Psychotherapie liess sich von die- ser verkümmerten Psychoanalyse her nicht mehr schlagen und die Idee einer Psychotherapie fürs Volk wurde erst recht zum reinen Phantasma – und damit auch der früher postulierte Beitrag an die soziale Gerechtigkeit. Statt kürzer zu werden, wie ursprünglich geplant, dauerten die Analysen nun im Gegenteil um ein Mehrfaches länger, was ihren Wirkungskreis nur noch mehr reduzierte und wie ursprünglich auf eine schmale Elite beschränkte. Erst in den Fünfzigerjahren bequemte sich die American Psychoanalytic Association dazu, inhaltlich zu bestimmen, worin sich Psychoanalyse und «psycho- dynamische Psychotherapie» – das ungeliebte Kind durfte inzwischen nicht mehr den Namen des Vaters tragen – unterscheiden oder übereinstimmen. Später hat sich primär Robert Wallerstein um die Unterscheidung zwischen dieser Psychotherapie und der eigentlichen Psychoanalyse bemüht. Die für uns entscheidende Konsequenz dieser hier skizzierten Entwicklung, die mit Freuds Rückzug von der «Psychoanalyse fürs Volk» und der Margi nalisie rung von Rank und Ferenczi beginnt, ist, dass die Psychoanalyse schliesslich Jahrzehnte später mit der Psychotherapie als etwas von aussen Kommendem konfrontiert wurde, auf das sie nur noch reagieren konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der moderne Sozialstaat entstanden, der sich um die Wohlfahrt des Volkes kümmert und dank der schrankenlosen Entfal- tung des Kapitalismus auch über die Mittel verfügt, sie zu finanzieren. Stiefkind, aber immerhin Kind, ist dabei die seelische Gesundheit. Es waren also ausser - analytische Kreise, die sich mit dieser befassten und die Notwendigkeit einer für breite Kreise zugänglichen und vor allem – zumutbaren – Psychotherapie erkann- Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 23 ten. Dazu gehörte inzwischen auch die Psychiatrie, auch wenn sie noch nicht weit über die «wesentlich deskriptive und klassifizierende Wissenschaft» heraus- gekommen war, wie sie Freud 1923 kritisierte (Freud 1920g). Psychotherapie wurde auch zunehmend in Leistungskatalog der Krankenversicherungen aufgenommen und – mangels professioneller nicht-ärztlicher Psychotherapeuten den Ärzten übergeben, insbesondere den Psychiatern. Darunter waren natürlich auch viele Psychoanalytiker, vor allem in Amerika, wo die analytische Ausbildung ohnehin nur Medizinern offen stand. Die Opfer aber dieser Entwicklung waren und bleiben bis heute die Laienanalytiker, die von den neuen Geldquellen ausgeschlossen werden. Nicht in allen Länder gleichermassen, aber in unserem eigenen zum Beispiel, wenn sie sich nicht zu medizinischem Hilfspersonal machen lassen wollen. In ihrer Geschichte hat die Psychoanalyse seit ihrem spektakulären Start mehrere Hochkonjunkturen und Krisenzeiten er- und überlebt: Sie war manchmal in Mode und stand unter der jeweiligen Elite in grosser Nachfrage, verlor aber auch manchmal deren Gunst. Das veränderte nicht nur das Einkommen ihrer Betreiber, sondern auch ihr Bewusstsein. Meine Generation ist zum Beispiel mit der Erfolgswelle gross geworden, die im Umfeld von 1968 zu einer gewaltigen Nach frage führte. Damals gingen viele Psychologiestudenten und beinahe jeder junge Assistenzarzt der Psychiatrischen Klinik Burghölzli wie selbstverständlich in Analyse. Neu eröffnete psychoanalytische Praxen pflegten sich rasch zu füllen. Diese Blütezeit, in der die Psychoanalyse als emanzipatorische Wissenschaft zu neuer Beliebtheit kam und in der die längst vergessenen Schriften von Wilhelm Reich weit herum als Raubdrucke zirkulierten, ging allzu rasch vorbei. Inzwischen ist die Nachfrage nach der traditionellen Liegekur massiv zurückgegangen und wir sind durch das Aufkommen kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfah ren abgestraft worden. Aber auch der Psychotherapiemarkt hat nicht auf uns gewartet. Wir müssen uns im Wettbewerb behaupten und verfügen obendrein auch nicht über die besten Karten. Es sind die ehernen Gesetze von Angebot und Nachfrage, die unsere Zunft zwingen, sich erneut mit der «Psychotherapie fürs Volk» auseinanderzusetzen – diesmal allerdings nicht mehr aus philanthropisch-idealistischen Gründen und bei gesicherter eigener wirtschaftlicher Existenz, sondern als nackte persönliche Überlebensnotwendigkeit. Dieser existenzielle Aspekt erleichtert unsere Debatte nicht wirklich, weil Angst immer schon ein schlechter Ratgeber war, besonders wenn sie dazu auch noch verleugnet werden muss. Die schlichte Frage, in welchem Umfang ein Psychoanalytiker über - haupt noch Analysen durchführen kann oder nicht, bestimmt sein Verhältnis zur Psychotherapie 24 Anton Fischer Psychotherapie entscheidend mit. Diese Brotperspektive wird gerne verleugnet, und daher besteht die Gefahr, dass sie ihren Einfluss auf Theorie und Praxis des Analytikers hinter seinem Rücken ausübt. Die gesellschaftliche Rolle, welche die Psychoanalyse gegenwärtig im Kampf gegen das neurotische Massenelend spielt, bleibt weit hinter Freuds Vision von 1918 zurück – ob in der reinen, ob in der geplanten legierten Form. Auch die gesell - schaftliche Anerkennung, die sich Freud von einer volksgesundheitlich relevanten psychoanalytischen Psychotherapie erhoffte, ist weitgehend ausgeblieben: Selbst nach 120 Jahren sehen wir uns gezwungen, unsere praktische Nützlichkeit zu bele- gen, die uns auch immer wieder im Namen einer Wissenschaft abgesprochen wird, die als Realität nur anerkennen will, was operationalisierbar und experimentell überprüfbar ist. Wenn wir ehrlich sind, ist das eine grosse Kränkung. Die Dimension des Unbewussten droht dabei einmal mehr auf der Strecke zu bleiben. Das heute herrschende wissenschaftliche Paradigma ist der eigenwil- ligen Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse ebenso wenig gewogen wie damals dasjenige der Zeit Freuds. Das bekommen wir auch im eigenen Feld zu spüren, wo sich kognitiv-behavioristische Theorien und ihre dazu passenden Therapien im Glanz erhöhter Wissenschaftlichkeit sonnen, obwohl oder vielmehr gerade weil sie nur Spielarten eines technokratischen Neopositivismus sind. Unsere Debatte um das Verhältnis von reiner Psychoanalyse und kupfer- oder sonstwie legierter Psychotherapie ruft vergangene Entscheidungen zurück, um die Generationen von Analytikern vor uns heftig gerungen haben. Die dama- ligen Weichenstellungen sind uns längst nicht mehr bewusst, bilden aber die \ oft schmerzhafte und manchmal peinliche Vorgeschichte, die uns besser zu verstehen erlaubt, warum diese Debatte heute noch so emotionell zwischen zwei Extremen hin- und herwogt, der Hochhaltung der psychoanalytischen essentials und der vor - schnellen Anpassung an die Dynamik des Marktes und ihrer staatlichen Regulierer. Unser Seminar wurde gegründet, als die Psychoanalyse en vogue war, heute ist sie es nicht mehr. Die nackte Wahrheit ist, wenn sich nach wie vor Massen von Analysewilligen um uns reissen würden, fände diese Auseinandersetzung wohl kaum in dieser Form statt. Literatur Alexander, F. (1956): Psychoanalysis and Psychotherapie . Norten Verlag, New York. Alexander, F.; French T. (1946): Psychoanalytic Therapy. Ronald Press, New York. Journal für Psychoanalyse 49 Für die breiten Volksschichten können wir derzeit nichts tun 25 Cremerius, J. (1981): Die Präsenz des Dritten in der Psychoanalyse. Psyche 35, 1.41. Danto, E. (2005): Freuds Free Clinics. Psychoanalysis & Social Justice 1918–1938. Columbia University Press, New York. Eissler, K. (1979): Freud und Wagner-Jauregg. Löcker, Wien. Fallend, K. (1995): Sonderlinge, Träumer, Sensitive. Jugend und Volk. Löcker Verlag, Wien. Fallend, K., Nitzschke, B. (Hrsg.) (1997): Der «Fall» Wilhelm Reich. Suhrkamp, Frankfurt. Ferenczi, S. (1988): Ohne Sympathie keine Heilung. Fischer Verlag, Frankfurt. Ferenczi, S.; Rank, O. 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