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Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel

Emilio Modena
Ich führe die in psychoanalytischen Vereinigungen häufig zu beobachtende Tatsache der Infantilisierung ihrer Mitglieder auf die strukturellen Bedingungen der psychoanalytischen Ausbildung zurück. In den persönlichen Analysen, den Supervisionen und der theoretischen Ausbildung entwickeln sich regelmässig Identifikationen und Idealisierungen, die in einer hierarchisch gegliederten Institution, die von einer Gruppe von LehranalytikerInnen beherrscht wird, in der Regel nicht bewusst werden können und nicht aufzulösen sind. Am PSZ wurden nach der 1977 erfolgten Trennung von der SGP diese Mechanismen erfolgreich durch einen basisdemokratischen Prozess der Selbstverwaltung, der Selbstautorisierung und der Des-Institutionalisierung der Machtstrukturen (wie der Institution der «Lehranalyse») aufgehoben. Der Preis, der für den Zuwachs an Autonomie zu bezahlen war, war allerdings eine Einbusse an Sicherheit und das Erfordernis der kontinuierlichen Teilnahme am demokratischen Prozess in den Teilnehmerversammlungen.
Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 1 Emilio Modena (Zürich) Zusammenfassung: Ich führe die in psychoanalytischen Vereinigungen häufig zu beobachtende Tatsache der Infantilisierung ihrer Mitglieder auf die strukturellen Bedingungen der psychoanalytischen Ausbildung zurück. In den persönlichen Analysen, den Supervisionen und der theoretischen Ausbildung entwickeln sich regelmässig Identifikationen und Idealisierungen, die in einer hierarchisch geglie- derten Institution, die von einer Gruppe von LehranalytikerInnen beherrscht wird, in der Regel nicht bewusst werden können und nicht aufzulösen sind. Am PSZ wurden nach der 1977 erfolgten Trennung von der SGP diese Mechanismen erfolgreich durch einen basisdemokratischen Prozess der Selbstverwaltung, der Selbstautorisierung und der Des-Institutionalisierung der Machtstrukturen (wie der Institution der «Lehranalyse») aufgehoben. Der Preis, der für den Zuwachs an Autonomie zu bezahlen war, war allerdings eine Einbusse an Sicherheit und das Erfordernis der kontinuierlichen Teilnahme am demokratischen Prozess in den Teilnehmerversammlungen. Schlüsselwörter: Amalgam, Geschichte des PSZ, Infantilisierung, psychoanaly- tische Ausbildung, Selbstautorisierung, Selbstverwaltung. Das Psychoanalytische Seminar Zürich (PSZ) ist ein sehr lebendiges und heterogenes Gebilde, sodass ich nicht behaupten kann, in seinem Namen zu sprechen – obschon ich zum Kreis derjenigen gehöre, die das alte (noch aus den 50er-Jahren stammende) Seminar nach seiner Aussperrung aus den Räumen der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (SGP) 1977 neu begründeten. Was ich nachfolgend darstellen werde, würden andere Protagonisten des PSZ vermutlich ganz anders sehen. Ich werde also im eigenen Namen sprechen. Damit meine Position klar wird, darf ich an meinen 1996 in Berlin gehal- tenenen Vortrag erinnern, der sich mit der Problematik des Faschismus und der Neuen Rechten befasste («Das Faschismus-Syndrom – Zur Psychoanalyse der Neuen Rechten in Europa»). Das unter demselben Titel 1998 erschienene Buch (Modena [Hg.] 1998) kann als meine Visitenkarte gelten: Ich hatte zwar schon seit vielen Jahren mit wachsender Besorgnis den Aufstieg der Neuen Rechten quer durch © 2020, die Autor_innen. Dieser Artikel darf im Rahmen der „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ Lizenz ( CC BY-NC-ND 4.0 ) weiter verbreitet werden. DOI 10.18754/jfp.48.4 Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 29 den Kontinent verfolgt, doch hatte mich die Machtergreifung der Rechts-Koalition von Silvio Berlusconi in Rom ganz besonders erschreckt. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war eine faschistische Partei (die Postfaschisten Finis) wieder legal in einem demokratischen Land an die Macht gekommen, was mich an 1922 und 1933 gemahnte. Um das Geschehen besser zu verstehen, aber auch um etwas dagegen zu tun, schrieb ich am PSZ eine Study Group aus, wobei ich im Programmheft anfügte, die theoretische Arbeit sollte in eine wie immer geartete Praxis münden. Enttäuscht musste ich zur Kenntnis nehmen, dass dies nur zwei Teilnehmer interessierte. Doch die Enttäuschung wich bald, als sich her - ausstellte, dass Isidro Fernandez und Markus Weilenmann ebenso wie ich selbst stark für die Arbeit motiviert waren. Wir haben in der Folge alte und neue Texte zur Faschismusproblematik gelesen und anschliessend einen Vortragszyklus zur Sozial- und eine internationale Tagung zur Tiefenpsychologie des Faschismus orga- nisiert. Dabei wurden wir von der Seminarleitung und der Teilnehmerversammlung unterstützt und konnten die Infrastrukturen des PSZ benutzen. Das Buch ist daraus als eine Art Work in Progress hervorgegangen. Als zweite Vorbemerkung möchte ich auf einige meiner Publikationen hin- weisen, die sich mit dem PSZ befasst haben. In erster Linie will ich eine Arbeit erwähnen, die im von Jörg Wiesse herausgegebenen Sammelband «Chaos und Regel – Die Psychoanalyse in ihren Institutionen» erschienen ist ( Wiesse [Hg.] 1992). Diese Arbeit «Über die Veränderbarkeit der Psychoanalyse» hat mich während vieler Jahre beschäftigt; ich habe immer wieder ein Stück dazugeschrieben und das Ganze dann erstmals vor dem Hamburger Institut für Sozialforschung 1984 vorgetragen. Der Text ist in jeweils verschiedener Zusammensetzung an verschiedenen Orten unserer Vernetzungsbewegung erschienen. In der englischen Übersetzung (Free Associations Nr. 5, London 1986) habe ich anhand einiger Vignetten aus einer Analyse mit einer Teilnehmerin des PSZ zur Problematik der Neutralität bzw. der Neutralitätsverletzung in unserer selbstverwalteten Gegeninstitution – wo sich Analytiker und Analysanden zum Beispiel in den Teilnehmerversammlungen relativ frei begegnen können – Stellung genommen und gezeigt, dass zwar ausseranalyti- sche Begegnungen zwischen Analytikern und Analysanden immer eine Bedeutung innerhalb der Analyse haben, jedoch keine Neutralitätsverletzungen darstellen, wenn sie in einem klar festgelegten Kontext stattfinden und damit zu Elementen des Settings werden. Aus Diskretionsgründen habe ich diesen Teil nicht in die deutsche Version übernommen. Dann möchte ich auf das dem PSZ gewidmete Heft der Zeitschrift «Luzifer-Amor» (Nr. 12/1993) hinweisen. Dieses enthält kontroverse Darstellungen und einige interessante Dokumente zu unserer Geschichte (u. a. das 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 30 Emilio Modena später zu erwähnende «Morgenthaler-Memorandum»). Ich habe darin unter dem Titel «Eine Neue Freud’sche Linke im Spiegel ihrer internationalen Kongresse» den letztendlich gescheiterten Versuch geschildert, eine neue Freud’sche Linke in Europa zu konstituieren – eben die «Vernetzungsbewegung» (vgl. auch das vom PSZ 1987 herausgegebene Buch «Between the Devil an the Deep Blue Sea – Psychoanalyse im Netz»). Im gleichen Heft ist ferner der Nachdruck einer sehr lesenswerten Arbeit von Thomas Kurz über die Geschichte des Seminars enthalten: «Aufstieg und Abfall des Psychoanalytischen Seminars Zürich von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse». Weil mir allerdings die Sichtweise dieses Autors zu «neutra- listisch», das heisst, zu wenig engagiert erschienen war, hatte ich bereits nach der Erstpublikation seiner Arbeit im «Journal» des PSZ 1987 eine Geschichte des PSZ aus linker Sicht verfasst und in der marxistischen Zürcher Theorie-Zeitschrift «Widerspruch» publiziert: «Die Veränderung der Psychoanalyse in Zürich 1968 – 1988». Von der einst vermuteten Veränderbarkeit war es jetzt in meiner Einschätzung zur klar erfolgten Veränderung gekommen. Um zu zeigen, was denn zu verändern war (und vielerorts noch wäre), möchte ich Sandor Ferenczi in den Zeugenstand rufen, der am berühmten «Institutionalisierungs»- Kongress der Freud’schen psychoanalytischen Bewegung 1910 in Nürnberg folgen- des Statement abgegeben hatte: «Ich kenne die Auswüchse des Vereinslebens und weiss, dass in den meisten politischen, geselligen und wissenschaftlichen Vereinen infantiler Grössenwahn, Eitelkeit, Anbetung leerer Formalitäten, blinder Gehorsam oder persönlicher Egoismus herrschen anstatt ruhige ehrliche Arbeit für das gesamte Interesse. Die Vereine wiederholen in ihrem Wesen und in ihrem Aufbau die Züge des Familienlebens». Er fährt allerdings kurze Zeit später folgendermassen fort: «Gerade psychoanalytisch geschulte Mitglieder wären am besten dazu berufen, einen Verein zu gründen, der die grösstmögliche persönliche Freiheit mit den Vorteilen der Familienorganisation verbindet. Dieser Verband wäre eine Familie, in der dem Vater keine dogmatische Autorität zukommt, sondern gerade so viel, als er durch seine Fähigkeiten und Arbeit wirklich verdient; seine Aussprüche würden nicht blind wie göttliche Offenbarungen befolgt, sondern wie alles andere Gegenstand einer einge- henden Kritik (…) sein. Auch die sich zu diesem Verband geeinigten jüngeren und älteren Geschwister würden ohne kindische Empfindlichkeit und Rachsucht ertragen, dass man ihnen die Wahrheit ins Gesicht sagt, so bitter und ernüchternd sie auch sei. (…) Die autoerotische Periode des Vereinslebens würde allmählich durch die fortge- schrittene Objektliebe abgelöst, die nicht mehr im Kitzel der geistigen erogenen Zonen (Eitelkeit, Ehrgeiz), sondern in den Objekten der Beobachtung selbst Befriedigung sucht und findet.» Gunther F. Zeillinger, aus dessen Arbeit «Wie notwendig ist das Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 31 Irrationale?» ich das Ferenczi-Zitat übernommen habe, kommentiert trocken aus heutiger Sicht: «Hier dürfte die Ratio und das Realitätsprinzip mit seiner geforderten kritischen Funktion zugunsten eines Ideals bereits ins irrationale Wunschdenken abgeglitten sein. Denn realistisch betrachtet fällt die Bilanz der verflossenen 80 Jahre eher nüchtern aus (…)» (Zeillinger 1992). Die Frage ist, warum psychoanalytische Vereinigungen und Institutionen ganz im Gegenteil zum frommen Wunsch Ferenczis besonders dazu geeignet sind, die Infantilisierung ihrer Mitglieder zu betreiben. Das hat nichts mit bösem Willen zu tun, sondern ist strukturell verankert. Um das zu verstehen, muss man sich die Besonderheiten der psychoanalytischen Ausbildung vergegenwärtigen: Der Analytiker in Ausbildung macht zunächst eine Selbsterfahrung («Lehranalyse»), bespricht sodann seine ersten Fälle mit erfahreneren Kollegen («Supervision») und erwirbt parallel dazu die notwendigen theoretischen Kenntnisse in einem Lehrbetrieb. In der persönlichen Analyse – in welcher der «Kandidat» die Methode am eigenen Leib erfahren und sich von der Realität des Unbewussten überzeugen soll – beginnt der Infantilisierungsprozess notwendigerweise, da ja seine infantile Neurose freigelgt und auf den Analytiker übertragen werden soll, was nur funk- tioniert, wenn der Analysand genügend regrediert ist. Die Regression wird durch das analytische Setting ( Verwendung der Couch und Neutralität des Analytikers) besonders gefördert. So weit, so gut. Eine gelungene Übertragungsanalyse entwi- ckelt allerdings neben dem erwünschten Bewusstwerden und Durcharbeiten der infantilen Komplexe auch eine ganz besondere Dynamik, die zur Identifikation mit dem Analytiker und zu dessen Idealisierung führt. Diese Prozesse, die zum grossen Teil unbewusst ablaufen, sind ganz allgemein schwer zu analysieren und in der Regel nie vollständig auflösbar (manchmal werden sie ins Gegenteil verkehrt). Sie können aber dann überhaupt nicht mehr analysiert werden, wenn die persönli- che Analyse institutionell vereinnahmt und eingebunden wird zur Lehranalyse. In der Institution der Lehranalyse geraten Identifikation mit dem Lehranalytiker und dessen Idealisierung zu Elementen des Settings, da ja per definitionem ein Unwissender durch die persönliche Beziehung zu seinem Lehrer zum Wissenden gekürt wird und der Analytiker in der psychoanalytischen Institution real einen höheren sozialen Rang einnimmt und über viel mehr Macht verfügt als der Analytiker in Ausbildung, darunter auch jene, dem Analysanden den Einstieg in die nächste Stufe der Hierarchie zu gestatten oder zu verwehren. «Analysieren» bedeutet meiner Meinung nach übrigens, ein ich-syntones Erleben oder Verhalten auf etwas anderes zurückzuführen und dadurch zu verfremden; das irrationale Übertragungsgeschehen wird durch eine vernünftige – möglichst 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 32 Emilio Modena unneurotische – Realbeziehung zwischen Analytiker und Analysand falsifiziert oder genauer: Wenn eine gute (faire, warme, verstehende, hilfreiche usw.) Realbeziehung in der Analyse hergestellt worden ist, kann der Analytiker im Deutungsprozess darauf rekurrieren, um die Verzerrungen der Übertragung zu korrigieren bzw. den Analysanden davon zu überzeugen, dass seine Übertragungswahrnehmungen nicht der Realität der Beziehung entsprechen. Was aber zum Setting gehört, kann nicht weiter hinterfragt werden, wie unser italienischer Kollege Enzo Codignola in seiner Abhandlung über die logische Struktur der Deutung («Das Wahre und das Falsche», Codignola 1986) überzeugend nachgewiesen hat. Zwischen den jeweiligen Rahmenbedingungen und dem analytischen Prozess besteht zwar eine dialektische Beziehung, indem der Rahmen auf besondere Art den Prozess konstituiert, aber die Rahmenbedingungen selbst sind nicht analysierbar, weil sie einfach gegeben sind – so wie die Axiome in der Philosophie. Zum Beispiel kann die Tatsache, dass eine Stunde 50 Minuten dauert oder 120 Mark kostet, psychoanalytisch nicht ver - standen werden. Oder dass man zwei oder aber vier Stunden in der Woche arbeitet – auch das wird institutionell vorgegeben. Und nun hat Codignola gezeigt, dass zum Setting nicht bloss solche technische Abmachungen gehören, sondern auch die Persönlichkeit, die Ideologie und die Rollen des Analytikers. Wenn es zu seiner Rolle gehört, als ordentliches Mitglied der psychoanalytischen Gesellschaft oder als Dozent im Lehrbetrieb über das Curriculum der Kandidaten zu bestimmen, dann kann auch das nicht analysiert werden, sowenig wie die Idealisierung, die aus einem solchen institutionellen Machtgefälle entspringt. Das zweite grundlegende Element der psychoanalytischen Ausbildung sind – wie schon erwähnt – die Supervisionen. In der Regel wird verlangt, dass zwei grosse Analysen engmaschig, das heisst in wöchentlichen bis zweiwöchentlichen Gesprächen von Anfang bis Ende bei einem bzw. bei zwei verschiedenen erfahrenen Analytikern kontrolliert werden. Auch dieser Bestandteil der psychoanalytischen Ausbildung hat Implikationen, die man sich vergegenwärtigen muss. Zunächst entwickelt sich in dem langjährigen Verfahren wieder, wie bei der Lehranalyse, eine persönliche Beziehung mit Übertragung, Identifikation und Idealisierung. Dazu kommt, dass die Feinheiten der psychoanalytischen Technik nur in diesen Supervisionsgesprächen wirklich gelernt werden können. In den Supervisionen wird das Handwerkzeug – die «Berufsgeheimnisse», die nirgends aufgeschrieben sind – wie in den alten Zünften vom Meister an den Gesellen weitergegeben. Dies geschieht begreiflicherweise mit der ganzen Ambivalenz, die ein solcher Wissens- und damit Machttransfer vom Älteren auf den Jüngeren auf beiden Seiten nach sich zieht. Wenn nun auch die Supervision institutionell eingebunden ist, indem nur Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 33 ein engerer Kreis von Funktionsträgern mit dieser Aufgabe betraut wird, kann der Transfer nur um den Preis der Unterwerfung des Jüngeren unter die Standesregeln stattfinden. Einem Unbotmässigen oder Irregulären wird nichts verraten … Diese enge persönlich-institutionelle Einbindung hat ihrerseits Folgen auf den Lehrbetrieb. Marie Langer hat in einer Diskussionsrunde einmal scherzhaft gesagt, in einem psychoanalytischen Institut verkehrten jeweils Pyramiden miteinander – sie meinte die Lehranalytiker/Supervisoren an der Spitze mit ihrem ganzen generatio- nellen Gefolge. Nun könnte man aber auch die verschiedenen psychoanalytischen Institutionen als «Pyramiden» beschreiben, unbewegliche, gewissermassen für die Ewigkeit errichtete schwere Massen, in denen ein bestimmter Totenkult tradiert wird. Denn man wird in der Regel in einem psychoanalytischen Lehrbetrieb nur eine Lehrmeinung vorfinden. Je nach der besonderen Geschichte der Institution wird nur ich- oder selbstpsychologisch, objektbeziehungstheoretisch oder Kleinsch oder allenfalls Lacansch gesprochen. Alle diese psychoanalytischen Dialekte benehmen sich wie fremde Sprachen zueinander und bekämpfen sich ideologisch bis aufs Messer. Die besondere, persönlich-institutionelle Tradierungsform des psychoana- lytischen Wissens hat dieses mit der Zeit derart dogmatisiert, dass es sich in einen religiösen Glauben verwandelt hat (religio heisst ja Ein- oder Zurückbindung). Man darf sich das Ausmass der affektiven Einbindung, die in den psychoanalytischen Institutionen unanalysiert unbewusst weiterläuft nicht gross genug vorstellen: Das ist der Grund dafür, dass die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung im Wesentlichen eine Spaltungsgeschichte ist. An diesem Problem ist auch unsere bewusst frei und undogmatisch gedachte, marxistisch-kritische Vernetzungsbewegung letztlich gescheitert. Die Übersetzungsversuche von einem «Dialekt» in den anderen, die es gegeben hat, reichten zur Sprachverständigung nicht aus. Und es ist leider auch heute noch so, dass ein und derselbe klinische Sachverhalt in Zürich, Paris oder London derart verschieden theoretisch beschrieben wird, dass man sich nie sicher sein kann, ob man wirklich dasselbe meint. 2 Ich fasse zusammen: In der psychoanalytischen Ausbildung konvergieren die drei hauptsächlichen Elemente zu einer Form klientelarer Abhängigkeit des Denkens und Fühlens, wie ich sie von keiner anderen akademischen Richtung her kenne. Aber damit noch nicht genug. Ich habe bisher nur auf die individu- ellen Verhältnisse fokussiert, dabei handelt es sich in Wirklichkeit um Gruppen, die aufeinandertreffen. Der Gruppe der Analytiker in Ausbildung (die in vielen Instituten auch in eigentliche Klassen schulmässig erfasst wird) steht die Gruppe der Lehranalytiker/Supervisoren gegenüber, welche obendrein oft auch identisch mit der Gruppe der Dozenten im Lehrbetrieb ist. Die Idealisierung des eigenen 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 34 Emilio Modena Analytikers und Supervisors wird auf dessen Zugehörigkeitsgruppe übertragen. Damit wird in der Phantasie des durchschnittlichen Kandidaten die Figur des Lehranalytikers/Supervisors/Dozenten zu einer Art Halbgott überhöht – ganz so wie ihm früher einmal der Vater erschienen sein mag (oder die Mutter; ich verwende in dieser Arbeit der Einfachheit halber durchgehend die männliche Form, schliesse aber immer auch die weiblichen FunktionsträgerInnen ein). Zu dieser ganz besonderen Gruppendynamik, in welcher tendenziell hilflose, unwissende Kinder mächtigen und allwissenden Elternfiguren gegenüberstehen, kommt nun im Sinne einer Ergänzungsreihe die Herrschaftstechnik der Institution in spezifischer Weise hinzu. Diese ist in der Regel streng hierarchisch gegliedert: Zuunterst die einfachen Kandidaten, dann die «Kandidaten mit Kontrollfällen», dann die ausserordentlichen und ordentlichen Mitglieder der psychoanalyti- schen Gesellschaft, die je nachdem mit den Supervisoren und Lehranalytikern identisch sind, und schliesslich folgen auf dem Weg nach oben die Funktionäre der internationalen Vereinigung. Für den Übertritt von einer Stufe zur anderen bestehen zudem keine einsehbaren, klar definierten Regeln. Die Einschüchterung der Interessenten fängt ja schon beim Eintritt in die Institution an: Man muss sich zu verschiedenen ordentlichen Mitgliedern zu zwei bis drei «Interviews» bemühen, die offen strukturiert sind (nach der Technik der psychoanalytischen Indikationsabklärung), – oft kann man sich diese Interviewer nicht einmal unter den bekannten «Ordentlichen» selber auswählen, sie werden einem zugewiesen, wenn man sich schriftlich für die Ausbildung angemeldet hat. Darüber, ob man ausgewählt wird oder nicht, hat man keinerlei Kontrolle. Ich darf hier zum Beispiel den aktuellen Fall meines Freundes Johannes Reichmayr in Wien erwähnen, der Professor für Geschichte der Psychoanalyse in Klagenfurt ist und viel publiziert hat. Er hatte während einer persönlichen Analyse bei einem ordentlichen Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ( WPV ) den Wunsch entwickelt, selber Analytiker zu werden, um in Zukunft die wissenschaftlich-theoretische Arbeit mit der klinischen ergänzen und vertiefen zu können, insbesondere wollte er ethnopsy - choanalytisch arbeiten können. Trotz meines Einwands, er könne doch dies alles aufgrund seiner Vorerfahrungen und seiner Stellung auch ohne Kandidatur bei der WPV erreichen, wollte er ganz ordnungsgemäss vorgehen und die Stufenleiter gewissermassen von der Pike aus erklimmen (was mir bereits als Ausdruck sei- ner partiellen Regression und Idealisierung der Gruppe der Lehranalytiker in der persönlichen Analyse erschienen war). Er meldete sich zuversichtlich bei der WPV an, hatte seine Interviews – und wurde abgelehnt. Da er dies begreiflicher - weise nicht fassen konnte, versuchte er es ein zweites Mal – wieder abgelehnt! Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 35 Es handelte sich wie immer um eine (standes)politische Entscheidung, die den Opportunitätskriterien der herrschenden Clique in der WPV entsprach. Man wollte den progressiven und bekannten Mann nicht dabei haben, weil man seinen Einfluss hätte fürchten müssen, wenn er einmal aufgenommen sein würde … Ist man aber einmal in der Institution drin, geht es auf dieselbe verunsichernde und infantili- sierende Art weiter: Ob ein Kandidat schon in Supervision gehen darf oder noch nicht, entscheidet ein Gremium, in welchem oft auch sein Lehranalytiker Einsitz hat; für die Aufnahme in den Berufsverband als ausserordentliches Mitglied – was ihm die Erlaubnis zur selbständigen Berufsausübung garantiert – muss er einen Vortrag vor der Gesellschaft halten, worauf die ordentlichen Mitglieder geheim über seine Aufnahme oder Ablehnung entscheiden; dasselbe Spiel, um zum ordentlichen Mitglied mit Venia Supervisandi et Analysandi gekürt zu werden. Es ist klar, dass bei all diesen Schritten nicht nur die wirkliche Qualifikation des Kandidaten bewertet wird, sondern auch seine standesgemässe Eignung bzw. sein Wohlverhalten. Das psychosoziale Resultat dieser Ergänzungsreihe habe ich einmal als das Amalgam der psychoanalytischen Ausbildung bezeichnet, was nichts mit dem gleichlautenden Begriff bei Schultz-Hencke zu tun hat. Mit dem Bild der Zahnfüllung wollte ich nur die Härte des Fremdkörpers illustrieren, der unter Schmerzen in die Seelen der Analytiker in Ausbildung implantiert wird. Nach dieser Schilderung der idealtypisch zu erwartenden strukturellen Verhältnisse der psychoanalytischen Institution kann ich zu unserem Züricher Seminar zurückkehren. Ich trat dort im Wintersemester 1968/69 bei, nachdem ich mein Medizinstudium abgeschlossen und mich für eine Lehranalyse bei Paul Parin angemeldet hatte. Aufgrund meiner persönlichen Rolle in der Studentenbewegung fand ich gleich Anschluss bei einer Gruppe schon fortgeschrittener Kandidaten, die der SGP und dem Seminarbetrieb gegenüber kritisch eingestellt waren (ein Jahr später gab sich diese Gruppe den Namen «Plattform»). Gründe zu Kritik und Opposition gab es genug, obschon die Verhältnisse in Zürich im internationalen Vergleich geradezu idyllisch waren. Zum einen war die SGP traditionell liberal ein- gestellt und hatte die Besonderheit, dass sie nicht von vornherein die persönliche Analyse der Kandidaten als Lehranalyse anerkannte. Mit anderen Worten, man machte seine Analyse, welche erst a posteriori, wenn man von der Gesellschaft als ausserordentliches Mitglied aufgenommen worden war, als «Lehranalyse» anerkannt wurde, ein Vorgehen, das den Ausbildungskandidaten im Vergleich zu denjenigen psychoanalytischen Vereinigungen, welche die Lehranalyse von Anfang an fest ins- titutionalisiert hatten, eine grössere Bewegungsfreiheit zu Beginn der Ausbildung einräumte. Dies obschon die SGP die Haltung vertrat, der Titel Psychoanalytiker wäre 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 36 Emilio Modena Eigentum der Gesellschaft … Zweitens war das PSZ 1958 von einer kleinen Gruppe unorthodoxer Marxisten – an erster Stelle Paul Parin und Fritz Morgenthaler – als autonome Lehrstätte für Freud’sche Psychoanalyse gegründet worden, die von der SGP als solche anerkannt wurde. Die progressiven Gründerväter hatten in der Folge dafür gesorgt, dass in den Statuten der SGP für eine allfällige Aberkennung eine Zweidrittel-Mehrheit verankert worden war, was ein paar Jahre später ent- scheidend werden sollte. Schliesslich blieb eine ganze Reihe von Lehranalytikern (neben Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler auch Arno von Blarer, Emil Grütter, Maria Pfister und Fred Singeisen) ihren progressiven und liberalen Vorstellungen treu, auch als es im PSZ zur offenen Auseinandersetzung zwischen links und rechts kam, und dies, obschon sie nicht immer mit Strategie und Taktik der Plattform-Leute einverstanden waren. Abgesehen von diesen beson - deren Rahmenbedingungen unterschied sich allerdings der Seminarbetrieb kaum von dem durchschnittlich zu erwartenden: Es gab in den entscheidenden Fragen weder ein Mitentscheidungs- noch ein Mitspracherecht der Studierenden. Alle Macht lag beim Unterrichtsausschuss der SGP. Hier setzte die Plattform-Gruppe im Gefolge der Studentenbewegung mit ihrer Kritik ein. Nachdem sie anlässlich des internationalen Kongresses der psychoanalytischen Vereinigung in Rom 1969 an einem von den Medien stark beachteten Gegenkongress diese Institutionskritik hatte laut werden lassen, reagierte das Imperium differenziert, zum Beispiel durch die Einführung eines «Precongress on Training» für die Kandidaten anlässlich der nächsten internationalen Tagung in Wien 1971. Auch in Zürich befleissigte man sich der Taktik der «repressiven Toleranz». Mit grosser Geste wurde den Studierenden angeblich die Selbstverwaltung geschenkt. Da damals Fritz Morgenthaler Präsident des Unterrichtsausschusses war, trägt die «Schenkungsurkunde» seinen Namen. Wer aber dieses «Morgenthaler-Memorandum» liest, findet ein Paradestück klein- lichster schweizerischer Vereinsmeierei, in welchem sehr genau festgehalten wird, was man alles nicht darf … und wenn man doch einmal etwas durfte, dann durfte es keinesfalls gegen die Interessen der SGP verstossen … Zum Beispiel durften aus- wärtige Referenten nur in Anwesenheit eines Mitgliedes der SGP (gewissermassen als Anstandsdame) im PSZ auftreten … Dagegen hatte die Plattform eine echte Demokratisierung verlangt und war daran gegangen, sie auch im psychoanalyti- schen Alltagsbetrieb durchzusetzen, wobei noch um den kleinsten Schritt heftig mit der konservativen Mehrheit gerungen werden musste. Doch nach ein paar Jahren, anfangs der 70er, war es soweit, dass die Seminarstrukturen im Sinne der Selbstverwaltung umgekrempelt waren. In der fünfköpfigen Seminarleitung musste nur noch ein Mitglied von der SGP gestellt werden, wobei die ganze Exekutive von Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 37 der Gesamtheit der Seminarteilnehmer, Kandidaten und Dozenten zusammen, gewählt wurde. Damit war de facto eine «Teilnehmerversammlung» entstanden, die in allen wichtigen Fragen weisungsberechtigt war. Das Seminarprogramm wurde von der Seminarleitung bestimmt, wobei der Unterrichtsausschuss der SGP nur noch als beratende Instanz tätig war. Die «Kandidaten» hiessen nunmehr «Analytiker in Ausbildung» («Aia»s – ich verwende den Begriff in diesem Papier anstelle von «Kandidaten», wenn es darum geht, die sachlich-objektive im Gegensatz zur ins- titutionell definierten Stellung der Studierenden im Lehrbetrieb zu bezeichnen). Obschon die Plattform zu diesem Zeitpunkt in der Teilnehmerversammlung noch eine Minderheit darstellte, war sie als einzige organisierte Fraktion in allen wichtigen Fragen bestimmend, sodass man hätte sagen können, dass sie die Macht übernommen hatte, wenn es nicht immer noch die Doppelstruktur mit der SGP gegeben hätte. In Wirklichkeit war die Selbstverwaltung nur für den Lehrbetrieb des Seminars eingeführt worden, die Macht über die Berufsausübung lag weiter in den Händen der SGP, die ja darüber zu bestimmen hatte, wer als Mitglied aufgenommen und damit im Sinne der Gesellschaft als Psychoanalytiker selbständig tätig werden durfte. In der Plattform-Gruppe gab diese unbefriedigende Situation zu vielen Diskussionen Anlass. Schliesslich fand man das einzige gegen einen Monopolbetrieb wirksame Mittel: die Verweigerung. Wir waren mittlerweile «ältere Kandidaten» und hätten die Mitgliedschaft in der SGP beantragen können, beschlossen aber, nicht einzutreten. Weil wir zugleich auch beruflich erfolgreich waren und uns nicht über Patientenmangel beklagen konnten, bekamen wir eine exemplarische Funktion bzw. wir wurden zu einem Ärgernis. Die besonderen Zürcher Verhältnisse hatten sich mittlerweile in den anderen europäischen Vereinigungen herumgesprochen, die aber nicht eingreifen konnten. Stattdessen kam es anlässlich der Organisation des internationalen deutschsprachigen Kongresses 1974, welcher in Interlaken hätte stattfinden sollen, zu einem Aufsehen erregenden Eklat. Diese Tagung, die turnusgemäss von der SGP hätte organisiert werden sollen, fand nicht statt; sie wurde von der DPV und WPV platzen gelassen, nachdem unter Plattform-Einfluss ein ziemlich progressives Programm zusammengestellt worden war, an dem sich auch Analytiker beteiligt hätten, die Nicht-Mitglieder der jeweiligen psychoana- lytischen Gesellschaften waren. Wir haben zu diesem Ereignis ein ausführliches Papier geschrieben, in welchem wir auch den Briefwechsel der Präsidenten der verschiedenen Vereinigungen, der uns als Mitorganisatoren zugänglich war, ideolo- giekritisch analysierten, das sogenannte «Interlakener Lehrstück». Daraus möchte ich die Schlussfolgerung betreffend der Organisationsform der psychoanalytischen Vereinigungen zitieren: «Diese Aufbauform ist kein spezifisches Moment der psycho - 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 38 Emilio Modena analytischen Vereinigungen. Sie ist vielmehr typisch für Institutionen, in denen das hauptsächliche Ziel die Förderung eines wahren Gedankengutes ist. Insofern ist die sprachliche Analogie zur Kirchenhierarchie auf Grund der Strukturidentität sehr naheliegend. Diese Art von Organisation ist allerdings der sichere Weg, eine an sich lebendige Theorie zum ‹Fossil› werden zu lassen – mehr und mehr ausserhalb der sie betreffenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Es könnte deshalb ein Zeichen von Verantwortung sein, sich einer solchen Organisation kritisch und distanziert gegenüber zu verhalten, um nicht eine Theorie mit der aus ihr hervorgegangenen Herrschaftsstruktur identifizieren zu müssen. Merke: MIT DER PSYCHOANALYSE ALLEIN VERSTEHT MAN DIE PSYCHOANALYTISCHEN GESELLSCHAFTEN NIE!» Damit waren die psychoanalytischen Gesellschaften als quasi-religiöse Vereinigungen erkannt worden, die dazu dienten, einen «wahren» Sachverhalt unverändert zu tradieren. Die Tatsache, dass unsere Gruppe die Mitgliedschaft in der SGP verwei- gerte, führte in den nachfolgenden Jahren dazu, dass sich die Machtverhältnisse zwischen Konservativen und Progressiven in der SGP zuungusten der letzteren verschoben. Da sich zugleich im Zuge der Konservativen Wende ab Mitte der 70er- Jahre die Rechte wieder mehr zumutete, kam es zu einer «Reaktionsbildung» gegen die Plattform und die Linke ganz allgemein, was zur Konfrontation führte. Mit Hilfe der traditionell konservativen französischsprachigen Mitglieder konnten die reaktionären deutschsprachigen Scharfmacher in der SGP, Alice Miller und Alexander Moser, mit der Zeit eine Zweidrittel-Mehrheit für die Aberkennung des Status des PSZ als einer offiziellen Freud’schen Ausbildungsstätte zusammen- bringen. Daraufhin verlangte der Unterrichtsausschuss (UA) ultimativ, dass die demokratisch gewählte Seminarleitung zurücktreten solle, damit er – der UA – das Seminar wieder ordentlich «führen» könne. Und als sich das Seminar weigerte, liess man über Nacht das Schloss der von der SGP gemieteten Seminarräumlichkeiten auswechseln, sodass hinfort die Unbotmässigen ausgesperrt waren. Dieser Schritt erwies sich bald als Pyrrhussieg: Die damals (1977) an die hundert Personen zäh- lende Teilnehmerschaft des PSZ setzte ihre Aktivitäten auch ohne SGP-Gütesiegel in neuen Seminarräumlichkeiten fort, die man zufällig an der Tell-Strasse im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl gefunden hatte (einige Jahre später zogen wir zusam- men mit mehreren anderen linken Initiativen und Projektgruppen in eine dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk gehörende, umgebaute Fabrikliegenschaft im Industriequartier um, an die Quellenstrasse). Auch verschiedene Boykottversuche von Seiten der SGP fruchteten nichts. Das neue PSZ gedieh in jeder Hinsicht und hat sich bis auf den heutigen Tag erfolgreich behauptet. Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 39 Wie haben wir das oben geschilderte Amalgam geknackt? Indem wir kon- sequent entsprechend der Maxime der Zürcher Jugendbewegung «Keine Macht für Niemanden» alle institutionellen Kontrollen aufhoben. Es gab ab sofort keine Vorgespräche mehr; jeder, der wollte, konnte – was auch im Sinne der Laien-Analyse ist, die wir gegenüber dem Freud’schen Konzept auch auf die Nicht-Akademiker aus- geweitet haben. Wer am Lehrbetrieb teilnehmen möchte, muss sich beim Sekretariat anmelden und einen (knapp gehaltenen) Teilnehmerbeitrag bezahlen, der zurzeit 200 Franken pro Semester beträgt. Von Lehranalyse wird nicht mehr gesprochen, jede Analyse ist eine persönliche Analyse, der Analytiker kann frei gewählt werden – es soll allerdings eine hochfrequente Freud’sche Analyse sein. Lange Zeit hatten wir auch keine Supervisoren-Liste, man hat sich für die nach wie vor sinnvollen und empfohlenen Supervisionen auf dem freien Markt eingedeckt. Die neuere Entwicklung um das auch in der Schweiz kommende Psychotherapeutengesetz hat uns zwar gezwungen, eine Supervisoren-Liste einzuführen, auf die sich aber jeder ohne weitere Auswahlverfahren setzen lassen kann, der über genügend Berufserfahrung verfügt. Und der freie Markt funktioniert weiter: wenn einem der eine Supervisor nicht passt, kann man sich unschwer einen anderen suchen. Muss ich noch erwähnen, dass es keinerlei Prüfungen oder Initiationsriten zur Erlangung eines besonderen Status – wie der ordentlichen und ausserordentlichen Mitgliedschaft in der psychoanalytischen Vereinigung – gibt? Die Kehrseite davon ist, dass auch keine Diplome erteilt werden. Das Seminar stellt lediglich auf Wunsch eine Bestätigung über die tatsächlich besuchten Kurse aus. Der Lehrbetrieb wird konsequent berufsbegleitend organisiert und man empfiehlt den Analytikern in Ausbildung, ihre ökonomische Existenz anderweitig abzusichern – denn niemand kann zu Beginn seiner persönlichen Analyse und der Supervisionen wissen, ob er sich zum Analytiker auch tatsächlich eignet, das kann sich nur in einer mehrjäh- rigen prozessorientierten Praxis herausstellen. So fällt es einem leichter, sich für oder gegen eine Berufstätigkeit als Psychoanalytiker zu entscheiden. Inhaltlich ist der Lehrbetrieb nach einem sogenannten «Vier-Säulen-Modell» gegliedert: In einem mehrjährigen, möglichst etwa vierjährigen Zyklus werden semesterweise ausgewählte Kapitel aus der Neurosenlehre, Metapsychologie und Theorie der Technik angeboten. Die vierte Säule ist die Klinik , soweit diese im Seminarbetrieb integrierbar ist. 3 Wir haben einen klinischen Strang geschaffen, der vom Interviewkurs (wo man in einer Klinik mit Videotechnik lernt, mit den Patienten analytische Gespräche abzuhalten) über das mehr theoretisch orientierte Indikationsseminar bis zur Abklärungsstelle oder «Zwölfergruppe» reicht (das Seminar betreibt institutionell eine Abklärungsstelle, wo in einem Gruppen-Setting jüngere und ältere Analytiker 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 40 Emilio Modena Patienten im Hinblick auf eine Indikation zur Analyse oder analytisch orientierten Psychotherapie oder anderes abklären – der Name «Zwölfergruppe» kommt von daher, dass jeweils pro Monat zwei jüngere Analytiker in Ausbildung auf Pikett sind). Darüber hinaus gibt es das Kasuistische Seminar (wo ein AiA in Begleitung eines Supervisors kontinuierlich vor der Gruppe über einen Fall, den er in Behandlung hat, berichtet) und schliesslich das Technische Seminar (wo ein oder zwei erfahrene Analytiker Fälle öffentlich besprechen, die von den Seminarteilnehmern vorgestellt werden). Zurzeit versucht eine Initiativgruppe des Seminars, ein psychoanalyti- sches Institut auf die Beine zu bringen, an dem sich jeder Teilnehmer beteiligen könnte, der bereit wäre, Billiganalysen hochfrequent durchzuführen. Alle diese Elemente der Ausbildung sind grundsätzlich frei verfügbar, das heisst, dass sich jeder Teilnehmer entsprechend seinem ganz speziellen Profil (ob Psychologe, Arzt, Ethnologe usw.) und Entwicklungsstand im Curriculum jene Stücke nach dem Free-Demand-Prinzip holen kann, die für ihn gerade aktuell und notwendig sind, und für die er infolgedessen motiviert ist. Dieses «Pflicht-Angebot» des PSZ wird durch zahlreiche Study-Groups ergänzt, die jeder Teilnehmer anbieten kann, wie zum Beispiel mein eingangs erwähntes Faschismus-Seminar. Schliesslich muss ich die Freitagabend-Veranstaltungen erwähnen, die weniger der Aus-, sondern mehr der Weiterbildung dienen: Fast jeden Freitag finden Einzel- oder Zyklus-Vorträge statt. Die Zyklen sind übrigens eine bewährte Institution unseres Seminars, aus ihnen sind schon verschiedentlich Publikationen hervorgegangen (in der erwähnten Spezialnummer von «Luzifer-Amor» sind deren neun erwähnt). Zweimal jährlich erscheint das von einer autonomen Gruppe herausgegebe und vom Seminar finan- zierte «Journal» als offizielles Publikations- und Diskussionsorgan. Damit bin ich bei der Schilderung der Organisationsform angelangt; wie funktioniert die Selbstverwaltung? Ich habe schon erwähnt, dass alle, die sich beim Sekretariat angemeldet und den Teilnehmerbeitrag bezahlt haben, dazugehören. Jeder Teilnehmer hat an der in der Regel zweimal pro Semester stattfindenden Teilnehmerversammlung eine Stimme, mit anderen Worten gibt es in der TV sowohl Analytiker in Ausbildung als auch ältere Analytiker und Gäste (die sich nur für einen speziellen Teil des Lehrangebots interessieren). Wenn schwierigere Entscheidungen anstehen, die an einem Abend nicht sinnvoll ausgetragen werden können, orga- nisieren wir Tagungen mit Gruppendiskussionen und Schlussabstimmungen. Die TV ist oberstes Gremium, das in allen Fragen das letzte Wort behält. Sie wählt die Seminarleitung als Exekutive mit einer auf zwei Jahre limitierten Amtsdauer, wobei der Kontinuität zu Liebe darauf geachtet wird, dass möglichst nicht alle Mitglieder der SL gleichzeitig ausgewechselt werden. Die TV kann auch besondere Kommissionen Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 41 instituieren, zum Beispiel hatten wir vier Jahre lang eine Ausbildungskommission, die versucht hat, das Ausbildungsangebot zu diversifizieren, was ihr zum Teil gelun- gen ist. Nach Abschluss ihrer Amtsdauer ist sie zurückgetreten und wurde nicht erneuert. Dagegen wurden neu sogenannte «Ressortgruppen» gewählt, die in ver - schiedenen Bereichen wie Werbung, Ausbildung, Aussen- und Berufspolitik der Seminarleitung beistehen und auch längerfristige Projekte verfolgen sollen, in denen jeweils ein oder zwei Seminarleitungsmitglieder Einsitz nehmen. Schliesslich gibt es noch eine Charta-Kommission und eine Mediationsstelle, die uns von aussen aufgezwungen wurden. Das PSZ sah sich nämlich wegen des bereits erwähnten, gesamtschweizerisch vorgesehenen Psychotherapiegesetzes gezwungen, der Charta für Psychotherapie («Schweizerische Kommission der Ausbildungsinstitutionen für Psychotherapie und der psychotherapeutischen Fachverbände») beizutreten, welche schulenübergreifende Qualitätskriterien für die Psychotherapie ausgearbei- tet hat (Mindestanforderungen an Selbsterfahrung, Supervision und theoretischer Ausbildung). Die Charta-Kommission wacht nun darüber, dass alle Teilnehmer des PSZ, die sich auf die Psychotherapeuten- oder Supervisoren-Liste setzen lassen wollen, diese Mindestanforderungen erfüllen. Die Mediationsstelle stellt wiederum einen kreativen Kompromiss mit den ethischen Richtlinien der Charta dar: Da wir keine Sanktionen gegen unsere Teilnehmer ergreifen können und wollen, bieten wir in Streitfällen eine Vermittlung an. Solche sind allerdings extrem selten, was unserer seit Anfang bestehenden Einschätzung der Analytiker in Ausbildung Recht gibt: Es sind in aller Regel erwachsene, verantwortungsbewusste Menschen, die bei uns eine Zweitausbildung absolvieren. Ich kann mich über die letzten zwanzig Jahre insgesamt an zwei relevante Streitfälle erinnern: Einmal hatte eine offensicht- lich persönlichkeitsgestörte Kollegin auf Teufel komm raus versucht, Analytikerin zu werden. Sie eckte überall an und gab das Vorhaben schliesslich auf, nachdem sie von mehreren Supervisoren auf ihre Probleme hingewiesen worden war. Ein anderes Mal hatte eine Analytikerin in Ausbildung wegen sexuellen Missbrauchs Sanktionen gegen ihren Ex-Analytiker verlangt. Das PSZ vertritt mit Erfolg das Konzept der Selbstautorisierung und Selbstdeklaration. Was unter Selbstautorisierung zu verstehen ist, kann ich auf Grund dessen erklären, was ich selbst in meiner Ausbildungszeit erlebt habe. Ich war noch im alten Seminar, befand mich in Analyse und hatte bereits mit Kontrollfällen begonnen. Ich kann mich noch lebhaft an das Kleinfühlen und die Verunsicherung erinnern, ob ich je Analytiker werden könne … Erst nach einigen Jahren – ich hatte viele Kurse besucht und verschiedene politische Kämpfe im Seminar ausgefochten – änderte sich das Selbstgefühl, ich merkte, dass ich trotz vieler Wissenslücken einen psychoanalyti- 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 42 Emilio Modena schen Prozess einigermassen verstehen konnte, dass meine Supervisoren gewiss viel mehr Erfahrung hatten, aber letztlich auch nur mit Wasser kochten; dass der Stil meines Analytikers nur einer unter vielen möglichen war … Ja, dann habe ich begonnen, auch ohne Supervision zu arbeiten – obschon mir niemand die Lizenz dazu erteilt hat. Dieser alles andere als geradlinige Prozess vom Selbstzweifel zur Selbstgewissheit ist das, was wir Selbstautorisierung nennen. Sie kann durch kein Diplom ersetzt werden. Die institutionelle Erlaubnis wirkt zwar stützend und öffnet den Weg nach aussen, sie kann aber die innere Unsicherheit, von der ich spreche, nicht beheben. Wir wissen von einigen Mitgliedern der SGP, dass sich bei ihnen diese Selbstgewissheit zum Teil erst lange Zeit nach der Aufnahme in die Gesellschaft entwickelt hat. Ich denke, dass es sich um einen qualitativen Sprung handelt, der sich aufgrund einer grossen Erfahrungssumme früher oder später einstellt (und das ist natürlich individuell verschieden). Die neue Identität entsteht durch zahlreiche identifikatorische Prozesse in der Vertikalen (mit den Analytikern, Supervisoren und Dozenten) und in der Horizontalen (mit den anderen Analytikern in Ausbildung am Seminar). Man kann das nicht erzwingen, spürt es aber – wenn es einmal da ist – ganz deutlich. Die Selbstautorisierung wird sinnvollerweise früher oder später mit einem Akt der Selbstdeklaration verbunden, bei dem man den anderen Teilnehmern seine neue Identität kundtut. Dies kann je nach individueller Eignung und Vorliebe auf verschiedene Art geschehen: Durch einen theoretischen Vortrag oder eine Falldarstellung, in einer Study-Group, mit einem Artikel im «Journal» usw. Die Selbstvorstellung in der Seminaröffentlichkeit braucht einen gewissen Mut, weil man sich damit auf dem Markt positioniert. Die persönliche Art kann den einen gefallen, den anderen aber nicht – das ist klar. Und gerade am PSZ hat sich in den letzten 20 Jahren eine Vielzahl von Untergruppen herausgebildet, die alle irgendwie miteinander rivalisieren. Die offenen Strukturen haben die Zahl der Teilnehmer zeitweise auf mehr als 700 hinaufschnellen lassen und zurzeit sind es immer noch rund 600. Die fehlende «Unité de doctrine» hat allen psychoanalytischen Sprachen und Dialekten den Einzug ermöglicht, sodass die kritische marxistische Richtung der ehemaligen Plattform heute in einer Minderheitsposition steht. Berthold Rothschild hat an einem unserer internationalen Vernetzungskongressen, in Mailand 1988, die «fünf Finger der linken Hand» folgendermassen charakte- risiert: «Als erste Tendenz möchte ich unsere frühere, eigene Position nennen, die heute z. B. in der BRD wieder frisch aufgenommen wird – es ist dies die ‹zünftische Position›, die Auseinandersetzung engagierter AnalytikerInnen mit ihren Berufs- und Wissenschaftsstrukturen, die als Paradigma gesellschaftlicher Verhältnisse angesehen werden. Sie enthält die Kritik und Denunziation psychoanalytischer Mainstreams und Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 43 ihrer Ideologien, der herkömmlichen Ausbildungsmechanismen und -institutionen, der Binnenmacht der psychoanalytischen Zunft gegenüber ihren Angehörigen. Sie ist ein Derivat der antiautoritären Bewegung und moniert zu Recht die verschleierten Formen von Macht und mit ihr verbundener Ideologie innerhalb der psychoana- lytischen Bewegung (…) Eine zweite Tendenz möchte ich als die ‹populistische› Richtung bezeichnen. Sie steht in der Tradition des Freudo-Marxismus und glaubt, über die breite Anwendung und dann auch Theoretisierung der Psychoanalyse für die Arbeiterklasse, für Randgruppen und Minderheiten das kritische Potential der Psychoanalyse erst eigentlich mit der ihr zugehörigen radikalen Praxis zu vereinen (…) Als dritte Strömung wäre dann die ‹kulturkritische› zu nennen: sie hat durch unzählige Arbeiten auf dem Gebiete der Gegenwartsforschung, Ethnologie und Gesellschaftskritik den Wunsch Freuds verwirklicht, die Psychoanalyse zur eigentlichen und umfas- senden Anthropologie werden zu lassen und bietet sich an als ‹Wissenschaft des subjektiven Faktors› in all seinen Ausformungen (…) Eine vierte Tendenz, die mich besonders beschäftigt (…), möchte ich als die ‹postmoderne› Strömung bezeichnen. Sie propagiert die Psychoanalyse als radikales Denkgebäude, will sie, wohl in der Nachfolge der strukturalistischen und hermeneutischen ‹Staatsstreiche›, zur reinen Geisteswissenschaft deklarieren. Sie nimmt Äquidistanz zu allen Formen psycho- analytischen Tuns, sucht ihr Engagement in der Radikalität des psychoanalytischen Denkens überhaupt, denunziert politisches Engagement des Psychoanalytikers (nicht als Privatperson sondern in seiner psychoanalytischen Funktion) als ‹Verrat› an der psychoanalytischen Radikalität (…) Ich habe noch eine fünfte Tendenz bezeichnet. Ich kann sie nur schwer beschreiben, weil ich sie als eigene zu finden versuche. Nennen wir sie ‹die sekulare Richtung›. Sie wendet sich gegen die in unseren Kreisen verbreitete Tendenz zur Sakralisierung der psychoanalytischen Theorie. Sie wendet sich gegen die Blasphemierung der Psychoanalyse als Therapie, als Praxis und als klinische Erfahrung, die sich mit anderen zu messen hat. Und sie empfindet Argwohn gegenüber der tendenziellen Selbstüberschätzung der Psychoanalytiker als Kultur- und Geistesträger par excellence, der Psychoanalyse als globale Theorie, gegen die ubiquitäre Tendenz, alles und jedes – fernab von der Couch – zu deuten und unter die Fittiche des psychoanalytischen Verstehens zu nehmen. Sie möchte sich aus dem solipsistischen Zirkel unserers soziologischen Bannkreises befreien, sich die Finger im real-Politischen, real-Gesellschaftlichen beschmutzt halten, die Widersprüche, die eigenen und die äusseren erleiden und kritisch fruchtbar machen (…)» (aus: «Einführung in die Idiotenproblematik», Journal Nr. 18/1988: 8–10). Ich komme zum Schluss und kann nicht umhin eine gewisse – selbstver - ständlich sehr persönliche – Evaluierung der Entwicklung des PSZ nach 22 Jahren 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 44 Emilio Modena seines Bestehens wagen. Vielleicht kann ich das am besten durch eine Anektode von unserem 20-Jahr-Jubiläum darstellen. In der SL war einer meiner engeren Mitarbeiter mit der Organisation der Jubiläumsfeier beauftragt. Er fragte mich an, ob ich mit- wirken würde, ich befand mich aber 1997 in einer ziemlich schwierigen persönlichen\ Krisensituation, sodass ich absagen musste. In der Folge haben die Kollegen von der «postmodernen Fraktion» (Peter Passett, Olaf Knellessen, Peter Schneider u. a.m.) die Organisation übernommen und es absolut glänzend gemacht. Sie führten ein witziges Theaterstück über die Bürokratisierung der Psychotherapie auf und hiel- ten am darauffolgenden Tag eine Reihe ausgezeichneter Vorträge. Und auch das abendfüllende Fest ist hervorragend gelungen – ich hätte vor Neid platzen können … Mit anderen Worten: Dem PSZ ist es gelungen, die quasi-religiöse Tradierung der Psychoanalyse von einer Generation auf die andere aufzuheben. Die verschiede- nen Sekten, die es natürlich immer noch und immer neu gibt, sind instituti\ onell gezwungen, miteinander auszukommen. Dieser institutionelle Zwang, der es bisher keiner Gruppe ermöglicht hat, die Hegemonie über das Ganze zu übernehmen, hat als Nebenprodukt des allgemeinen Catch-as-catch-can einen spannenden Dialog zwischen Ich-Psychologen und Kleinianern und Objektbeziehungstheoretikern und Lacanianern, zwischen Kinder- und Erwachsenen-Analytikern und zwischen Zünftischen, Populisten, Kulturkritischen, Postmodernen und Sekularen erzeugt, was meines Wissens einzigartig in der psychoanalytischen Bewegung ist. Am PSZ ist ferner auch in der Auseinandersetzung nach innen und aussen eine fruchtbare Dialektik zwischen Institutionalisierung und Des-Institutionalisierung zustandegekommen, die sich darin gezeigt hat, dass die Gegeninstitution bis heute immer in der Lage war, notwendige Institutionalisierungsschritte zu machen und auch wieder abzubauen, wenn sie nicht länger sinnvoll erschienen. Als Beispiel kann ich die Art und Weise anführen, wie die innere Ablösung von der SGP nach der Aussperrung gelaufen ist, was sich im Text der Präambel im Seminarprogramm gespiegelt hat: Um den neuen Text – in welchem die SGP zuletzt überhaupt nicht mehr erwähnt wird – wurde zu verschiedenen Zeiten an Tagungen und Wochenendveranstaltungen gestritten, bis man sich endlich rundum damit ein- verstanden erklären konnte. Als kurze Zeit später die Befürchtung aufkam, man könnte international isoliert werden und ein Antrag in der TV gestellt wurde, man solle sich um eine direkte Aufnahme in die internationale Vereinigung bemühen (wie jüngst mit dem Caruso-Arbeitskreis in Wien geschehen), wurde das Ansinnen zwar zurückgewiesen, aber die Vernetzungsbewegung als Antwort an die legitimen Bedürfnisse nach internationalem Rückhalt initiiert. Und als diese nach fünf Jahren in eine Krise geriet, verabschiedete man sich von ihr und widerstand der Versuchung Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 45 zur Gründung einer neuen bürokratischen Internationalen (trotzdem waren durch die Vernetzungsbewegung viele Kontakte kreuz und quer durch Europa geknüpft worden) 4. Als es die neue standespolitische Lage erforderte, war das PSZ trotz des heftigen Widerstandes unserer «Fundis» und vieler erregter Debatten in der Lage, der Charta beizutreten und gewisse wichtige Kompromisse einzugehen, ohne etwas von seiner Substanz zu verlieren. Schliesslich bin ich davon überzeugt, dass es unter den vielen neuen Teilnehmern, die sich in den letzten 20 Jahren in unserem Kreis ausgebildet haben – von denen ich nur relativ wenige persönlich kenne – einige gute und einzelne ausgezeichnete Analytiker gibt. – Doch was gibt es Negatives? Zuerst etwas Allgemeines: Die Selbstverwaltung ist mühsam, sie verschlingt sehr viel Zeit und Energie und erfordert eine sehr starke Präsenz; ständig muss man damit rechnen, dass jemand bei nächster Gelegenheit einen Rückkommensantrag stellt und damit einen mühevoll zustandegekommenen Beschluss wieder aufhebt. Und immer reden Leute mit, die nicht genügend informiert sind und überhaupt – es wird viel um den Brei herumgeredet! Vor lauter Auseinandersetzungen bleibt oft zu wenig Zeit übrig, um inhaltlich zu arbeiten … Dann kann man sagen, dass die grosse Zahl der Teilnehmer, die durch die völlig offene Zulassungspraxis entstanden ist, eine gewisse anomische, unwirtliche Atmosphäre verursacht, indem man die meisten Leute nicht mehr kennt, keinen Überblick mehr hat, nicht mehr\ immer weiss, was läuft und sich dementsprechend in irgendwelche kleinere Gruppierungen flüchten muss, um sich etwas geborgen zu fühlen. Für die Jüngeren ist es wirklich nicht leicht, ihren Platz zu finden (eine autoritärere Organisation vermittelt häufig mehr Sicherheit und Geborgenheit). Aus meiner persönlichen Sicht ist aber die wichtigste Kritik, dass übers Ganze gesehen eine Entpolitisierung stattgefunden hat, zwar nicht in Bezug auf die Standespolitik, da ist in den letzten Jahren sehr viel geleistet worden. Man scheint aber kein Interesse oder keine Zeit mehr für die grösseren Zusammenhänge übrig zu haben. Zu Veranstaltungen, die sich mit dem Krieg auf dem Balkan oder mit der Psychoanalyse in Südamerika befassen, kommen nur wenige Teilnehmer, es ist ein gewisser Pragmatismus und Opportunismus, ja Konsumismus zu verzeichnen. Manchmal träume ich davon, dass ich mein eigenes Seminar hätte … Demgegenüber ist das PSZ ganz gewiss nur das Zweitbeste. Aber dann besinne ich mich wieder und überlege, wie langweilig es wohl ohne all die anderen wäre … 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung 46 Emilio Modena Literatur Codignola E. (1977, 1986): Das Wahre und das Falsche (Il vero e il falso), Frankfurt a.M. (Mailand). Ferenczi S. (1927): Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung. In: Bau-Steine zur Psychoanalyse 1. Band: Theorie, Bern/Stuttgart/Wien 1984: 275–289. Kurz Th. (1987): Aufstieg und Fall des Psychoanalytischen Seminars Zürich von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse. In: Luzifer-Amor Nr.12/1993, Tübingen. Hinshelwood R.D. (1989): A dictionary of Kleinian Thought, London. Hinshelwood R.D. (1999): «Controversy is the Growing Point» – Repression or Splitting, Vortrag am PSZ. Modena E. (1982): Über die Veränderbarkeit der Psychoanalyse. In: Wiesse J. (Hg.) (1992), a. a. 0. Modena E. (1985): A Chance for Psychoanalysis to Change: the Zurich Psycho- analytical Seminar as an Example. In: Free Associations Nr.15, London. Modena E. (1988): Die Veränderung der Psychoanalyse in Zürich 1968–1988. In: Widerspruch Nr. 15, Zürich. Modena E. (1993): Hoffnungsvoll verzweifelt: Eine Neue Freudsche Linke im Spiegel ihrer internationalen Kongresse – Vernetzungsgeschichten between the devil and the deep blue sea. In: Luzifer-Amor Nr. 12, Tübingen. Modena E. (1998): Das Faschismus-Syndrom – Zur Psychoanalyse der Neuen Rechten in Europa, Giessen. Morgenthaler F. (1970): Memorandum über Ziel, Sinn und Organisation des Semi- nars Zürich. In: Luzifer-Amor, a. a. 0. PSZ/Plattform (1974): Das Interlakener Lehrstück, in deutscher Sprache unveröf- fentlichtes Manuskript, kann bei mir bezogen werden (E.M.). Italienische Übersetzung in: Psicoterapia e Scienze Umane, Mailand, Nr. 4/1975 (als Dokument im redaktionellen Reader «psicoanalisi e psicoanalisti»). PSZ (Hg.) (1987): Between the devil and the deep blue sea – Psychoanalyse im Netz, Freiburg i.Br. Rothschild B. (1988): Einführung in die Idiotenproblematik. In: Journal des PSZ Nr. 18: 8/9. Wiesse J. (Hg.) (1992): Chaos und Regel – Die Psychoanalyse in ihren Institutio- nen, Göttingen. Zeillinger G. (1992): Wie notwendig ist das Irrationale? In: Wiesse J. (Hg.): Chaos und Regel – Die Psychoanalyse in ihren Institutionen, Göttingen. Journal für Psychoanalyse 48 Selbstverwaltete Psychoanalyse – Zürich zum Beispiel 47 Anmerkungen 1 Überarbeitete Fassung eines vor dem «Colloquium Psychoanalyse» an der FU Berlin am 25. Mai 1999 gehaltenen Vortrages. 2 Um eine solche «Übersetzungsarbeit» hat sich besonders der Klein\ ianer Robert D. Hinshelwood verdient gemacht, von welchem übrigens der Titel unseres Vernetzungsbuches Between the Devil and the Deep Blue Sea zitiert ist. 3 Ich habe erst nachträglich – nach schon erfolgter Publikation in Berlin – meine Fehlleistung in Bezug auf das Vier-Säulen-Modell der Ausbildung bemerkt: Die vierte Säule war die Gesellschaftstheorie, nicht die Klinik. Die Gesellschaftstheorie konnte sich allerdings faktisch bei uns nie als tragende Säule der theoretischen Ausbildung etablieren. 4 Eine Fernwirkung der Vernetzungsbewegung war auch der im Sommer 2000 in Paris unter dem Namen «Les États Généraux de la Psychanalyse» abgehaltene internationale Kongress, der von der Pariser Gruppe um René Major initiiert und organisiert worden ist. 30 Jahre PSZ – Institutionalisierung/Des-Institutionalisierung